Würden Sie den Täter wiedererkennen? – Was sollten Sie wissen, wenn Sie jemanden in einer Gegenüberstellung identifizieren sollen

Dieser Beitrag wurde zunächst in englischer Sprache in der englischsprachigen Ausgabe (2/2012, Ausgabe 14) des In-Mind Magazins veröffentlicht. Link zum Originalartikel:
http://www.in-mind.org/article/would-you-recognize-the-perpetrator-what-...

Wären Sie dazu in der Lage, die richtige Person aus einer Gegenüberstellung auszuwählen?

In diesem Artikel besprechen wir die Rolle verschiedener Faktoren, welche den Prozess der Entscheidungsfindung von Augenzeuginnen und Augenzeugen bei Gegenüberstellungen beeinflussen können.

Im Jahr 1985 wurde Ronald Cotton zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe und zusätzlich 54 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Verurteilung basierte größtenteils auf einer Augenzeugenidentifizierung in einer Gegenüberstellung. Eine 1994 durchgeführte DNS-Analyse ergab auf tragische Weise, dass Cotton unschuldig war. Obwohl Identifizierungen durch AugenzeugInnen oftmals wichtige Hinweise für die polizeilichen Ermittlungen erbringen, bergen sie auch das Risiko von Fehlurteilen und Justizirrtümern. Wären Sie dazu in der Lage, die richtige Person aus einer Gegenüberstellung zu wählen? In diesem Artikel werden wir verschiedene Variablen näher betrachten, welche die Entscheidungsfindung von Zeuginnen und Zeugen bei der Gegenüberstellung beeinflussen können. Das Wissen um diese Variablen kann dabei helfen, das Bewusstsein für solche Einflüsse zu schärfen, die ansonsten möglicherweise unbemerkt bleiben. Letztlich kann dies EntscheidungsträgerInnen bei der Bewertung von Identifizierungsentscheidungen von AugenzeugInnen dabei helfen, diagnostischere Informationen zu verwenden.

Jeden Tag werden wir mit einer Vielzahl von Gesichtern konfrontiert und müssen entscheiden, ob uns ein Gesicht bekannt vorkommt oder nicht. In den meisten Fällen sind unsere Einschätzungen richtig, weil Menschen ExpertInnen darin sind, bekannte Gesichter zu erkennen. Das Erkennen von unbekannten Gesichtern oder von Gesichtern, denen wir nur kurz begegnet sind, ist jedoch viel schwieriger (Johnston & Edmonds, 2009). Beispielsweise erwies sich der Einsatz von Fotos auf Kreditkarten zur Verifizierung der Kundenidentität als viel weniger nützlich, als ursprünglich erhofft. So variierten WissenschaftlerInnen in einem Experiment die Ähnlichkeit zwischen einem Kreditkartefoto und dem Kunden bzw. der Kundin (Kemp, Towell & Pike, 1997). Die Nichtübereinstimmung zwischen dem Foto und dem Kunden bzw. der Kundin wurde in nur einem Drittel (hohe Ähnlichkeit) bzw. zwei Dritteln (niedrige Ähnlichkeit) der Fälle bemerkt. Dabei ist Kreditkartenbetrug nur eines von vielen Delikten, bei denen Gesichtserkennung eine wichtige Rolle spielt. Tatsächlich kommen bei polizeilichen Ermittlungen zu (Raub-)Überfällen, Vergewaltigungen und anderen schweren Delikten oftmals Verfahren zum Einsatz, bei denen ZeugInnen und Geschädigte gebeten werden, die TäterInnen zu identifizieren. Allerdings sind diese Identifizierungen oft problembehaftet.

Im Juli 1984 drang ein Mann in zwei Wohnungen ein und vergewaltigte zwei Frauen (bei Thompson-Cannino, Cotton & Torneo, 2010, und unter http://www.innocenceproject.org/Content/Ronald_Cotton.php, sind mehr Details über diesen Fall zu lesen). Schnell geriet Ronald Cotton unter Tatverdacht und eine der Geschädigten, Jennifer Thompson, identifizierte ihn bei einer Lichtbildgegenüberstellung und danach auch bei einer Live-Gegenüberstellung. Weitere Beweismittel der Anklage warem eine Taschenlampe, die im Haus Cottons gefunden wurde und derjenigen ähnelte, die der Täter benutzt hatte, sowie an Tatort gefundene Gummispuren , die mit Cottons Turnschuhen übereinstimmten. Cotton wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe zuzüglich 54 Jahren verurteilt.

Im Jahr 1994 zog der Fall die Aufmerksamkeit des Innocence Projects auf sich, einer gemeinnützigen Organisation, die Verurteilten hilft, mittels DNS-Testung ihre Unschuld zu beweisen. Die angeordneten DNS-Tests ergaben, dass die Proben im Falle der einen Geschädigten schon so verfallen waren, dass sie nicht mehr beweiskräftig waren. Die Proben der zweiten Geschädigten wiesen keine Übereinstimmung mit der DNS von Ronald Cotton auf. Daher wurde Cotton von allen Punkten freigesprochen, aus dem Gefängnis entlassen und offiziell rehabilitiert.
Seit 1992 war das Innocence Project an der Entlastung von rund 350 zu Unrecht verurteilten Personen beteiligt. In 70 % dieser Fälle spielten falsche Identifizierungsentscheidungen eine Rolle.

Personenidentifizierungen wirken als Beweismittel sehr überzeugend auf die meisten Menschen, auch auf Geschworene (Boyce, Lindsay & Brimacombe, 2008; Wells, Memon & Penrod, 2006).  Falschidentifizierungen sind mit hohen Kosten verbunden, sowohl für die zu Unrecht verurteilte Person als auch für die Gesellschaft, in der sich die wahren TäterInnen immer noch frei bewegen können. Betrachten wir nun zum besseren Verständnis der Psychologie der Gegenüberstellung die unterschiedlichen möglichen Ergebnisse einer Gegenüberstellung (s. Abbildung 1). Der Einfachheit halber gehen wir in diesem Beispiel von einer Verdächtigen und einem Zeugen aus.

Quelle: Eigene Darstellung

Es kann sich bei der Verdächtigen um die tatsächliche Täterin handeln; die Verdächte kann aber auch unschuldig sein. Außerdem kann der Zeuge bei der Identifizierungsentscheidung eine Person aus der Gegenüberstellung wählen oder die Gegenüberstellung zurückzuweisen (d. h. keine Person aus der Gegenüberstellung wählen). Gemäß der Signalentdeckungstheorie (Swets, Dawes & Monahan, 2000) ergibt dies vier mögliche Entscheidungsergebnisse. Erstens, ein richtig-positives Ergebnis, auch Treffer genannt, entsteht, wenn die Täterin in der Gegenüberstellung anwesend ist und der Zeuge sie korrekt identifiziert. Zweitens, ein richtig-negatives Ergebnis, auch korrekte Zurückweisung genannt, liegt vor, wenn die Täterin sich nicht in der Gegenüberstellung befindet und der Zeuge die Gegenüberstellung zurückweist. Drittens, ein falsch-positives Ergebnis ergibt sich, wenn die Täterin sich nicht in der Gegenüberstellung befindet, aber trotzdem eine Person identifiziert wird. Die fälschlich identifizierte Person kann dann entweder eine Vergleichsperson sein (Identifizierung einer Vergleichsperson genannt), oder eine unschuldige Verdächtige (auch falscher Alarm genannt). Während der Fehler bei der Wahl einer Vergleichsperson sofort offensichtlich ist, stellt die Wahl einer unschuldigen Verdächtigten einen verhängnisvollen Fehler dar, der zu einer falschen Verurteilung führen kann. Viertens, ein falsch-negatives Ergebnis, auch falsche Zurückweisung genannt, tritt auf, wenn die Täterin sich in der Gegenüberstellung befindet, der Zeuge aber die Gegenüberstellung zurückweist. Schließlich hat der Zeuge auch die Möglichkeit, sich einer Entscheidung zu enthalten, indem er eine „Ich weiß nicht“-Antwort gibt.

Es ist klar, dass die Identifizierungsentscheidungen von AugenzeugInnen von kognitiven Faktoren, wie beispielsweise der Stärke der Erinnerung an die TäterInnen, abhängen. Ein möglicherweise weniger intuitiver kognitiver Faktor ist der Kontext, in den ZeugInnen in der Wiedererkennungssituation versetzt wird, nämlich die Art und Weise, wie die Gegenüberstellung gezeigt wird. Darüber hinaus spielen soziale und meta-kognitive Einflüsse eine wichtige Rolle (Brewer, Weber & Semmler, 2007). Bei sozialen Einflüssen ist an Erwartungseffekte zu denken, die beispielsweise Robert Rosenthal (1966, 2002) in seiner Forschung zu den Auswirkungen der Erwartungen von Lehrkräften auf die Leistungen von Schülerinnen und Schüler identifizierte. Meta-kognitive Variablen beziehen sich auf unsere intuitiven Theorien über die Funktionsweise des Gedächtnisses (z. B. „Wenn ich mir sehr sicher bin, liege ich bestimmt richtig“; Winkielman & Schwarz, 2001). Im nächsten Abschnitt besprechen wir die sozialen, kognitiven und meta-kognitiven Variablen, welche die Entscheidungsfindung von ZeugInnen beim Identifizierungsvorgang beeinflussen können.

Soziale Einflüsse

Durchführung der Gegenüberstellung – Doppelblindverfahren

Wenn eine Gegenüberstellung gezeigt wird, sollten weder die ZeugInnen noch die Person, die die Gegenüberstellung durchführt, wissen, wer die verdächtige Person ist. Dies versteht man unter Doppelblind-Verfahren. Das Vorgehen soll dabei helfen, vor dem Versuchsleitereffekt (Rosenthal, 1966, 2002) zu schützen, einem bekannten sozialpsychologischen Phänomen, wobei die Erwartungen der Person, die den Versuch leitet, das Verhalten der Versuchspersonen beeinflussen. Bezogen auf die Identifizierung von AugenzeugInnen bedeutet dies, dass die Person, die die Gegenüberstellung durchführt dem bzw. der ZeugIn – bewusst oder unbewusst – verbale oder non-verbale Hinweise auf die Identität des oder der Verdächtigen gibt (Quinlivan et al.,2012). Dies kann zu einem Anstieg der falschen Alarme führen (Phillips, McAuliff & Cutler, 1999), ohne dass sich die ZeugInnen darüber bewusst sind, welchen Einfluss die Person, die die Gegenüberstellung durchführt, auf ihre Entscheidungen hat (Greathouse & Kovera, 2008). Sind PolizeibeamtInnen jedoch blind hinsichtlich der Identität des bzw. der Verdächtigen, können sie keinen solchen Einfluss ausüben. Für echte Fälle bedeutet dies, dass die BeamtInnen, die in der Sache ermittelt, nicht die Gegenüberstellung durchführen dürfen. Während es nicht in der Macht der ZeugenInnen steht, zu bestimmen, wer die Gegenüberstellung durchführt, ist ihnen wahrscheinlich bewusst, ob die Person, die die Gegenüberstellung durchführt, weiß, wer der oder die Verdächtige ist oder nicht. Sollte dies der Fall sein, könnte das Verhalten der BeamtInnen einen wesentlichen Einfluss auf das Verhalten der ZeugInnen während des Identifizierungsverfahrens haben. Beispielsweise könnte die BeamtInnen (bewusst oder unbewusst) Zustimmung zur Wahl der ZeugInnen signalisieren, was wiederum die Sicherheit, mit der die ZeugInnen ihre Entscheidung treffen, beeinflussen könnte.

Gegenüberstellungsinstruktionen

Wenn ZeugInnen die Gegenüberstellung vorgelegt wird, erhalten sie eine Instruktion. Diese Instruktion sollte die Warnung beinhalten, dass der Täter oder die Täterin sich möglicherweise nicht unter den gezeigten Personen befindet (Steblay, 1997). Diese Maßnahme soll Erwartungseffekten, einschließlich der Vermutungen, dass sich der/die echte TäterIn unter den gezeigten Personen befindet oder dass der Fall bereits beinahe aufgeklärt ist und nur noch die bestätigende Identifizierung durch die ZeugInnen fehlt, entgegenwirken. Obwohl die Verwendung einer solchen Instruktion die Anzahl der Treffer senken kann, senkt sie auch falsche Alarme und Identifizierungen von Vergleichspersonen (Brewer & Wells, 2006; Steblay, 1997). Unabhängig davon, ob oder wie die Instruktionen gegeben werden, sollten sich ZeugInnen immer darüber bewusst sein, dass es gestattet ist, die Gegenüberstellung zurückzuweisen oder mit „Ich weiß nicht“ zu antworten. ZeugInnen sollten sich vergegenwärtigen, dass nur sie das Wissen über den Tathergang und das Aussehen der TäterInnen haben. Daher liegt die Entscheidung, jemanden auszuwählen (oder auch nicht), ausschließlich bei den ZeugInnen.

Feedback

ZeugInnen, die eine Identifizierungsentscheidung gefällt haben, wünschen sich möglicherweise zu dieser Entscheidung eine Rückmeldung. Allerdings beeinflusst positives Feedback (z. B. „Gut, Sie haben den Verdächtigen identifiziert.“) die Erinnerung von ZeugInnen an Einzelheiten des Ereignisses. So schätzten Versuchspersonen, die positives Feedback erhalten hatten, ihre Erinnerungen als klarer ein als Versuchspersonen, die kein Feedback erhielten (Douglass & Steblay, 2002; Wells & Bradfield, 1998). Außerdem gaben Personen, die Feedback erhalten hatten, an, eine bessere Sicht auf die TäterInnen gehabt und mehr Aufmerksamkeit auf diese gerichtet zu haben. Weiterhin waren sich diese Versuchspersonen sicherer hinsichtlich der Richtigkeit ihrer Identifizierungsentscheidung. Negatives Feedback („Oh, der Verdächtige war Nummer xy.“) hatte einen umgekehrten Effekt, der jedoch nicht so ausgeprägt war und auch nicht bei allen der genannten Variablen auftrat. Offenkundig ist keiner der Effekte den polizeilichen Ermittlungen dienlich.

ZeugInnen, die nach einer Identifizierungsentscheidung positives Feedback erhalten haben, sind gut beraten, ein gewisses Maß an Misstrauen gegenüber ihren Erinnerungen an das Ereignis an den Tag zu legen. Darüber hinaus sollten sie berücksichtigen, dass das Feedback ihre Erinnerungen verändert haben könnte. Es wäre auch wichtig, vor Gericht auf die empfangene Rückmeldung hinzuweisen.

Kognitive Faktoren

Präsentation der Gegenüberstellung

Der Begriff Präsentation der Gegenüberstellung bezieht sich auf den Kontext, in dem der bzw. die Verdächtige gezeigt wird. Während eine Wahlgegenüberstellung den oder die Verdächtige zusammen mit mehreren Vergleichspersonen zeigt, besteht eine Einzelgegenüberstellung nur aus einer Person. Daher verrät eine Einzelgegenüberstellung sofort die Identität des bzw. der Verdächtigen und bietet weniger Schutz für unschuldige Verdächtige. In einer Meta-Analyse (Steblay, Dysart, Fulero & Lindsay, 2003) wurde die Identifizierungsleistung in Wahlgegenüberstellungen mit der in Einzelgegenüberstellungen verglichen. In den Bedingungen, in denen sich der Täter in der Gegenüberstellung befand, war die Trefferquote beider Gegenüberstellungsformen ungefähr gleich. In Einzelgegenüberstellungen gaben die Versuchspersonen häufiger als in Wahlgegenüberstellungen richtigerweise an, dass sich der Täter nicht in der Aufstellung befand (d. h. eine höhere Rate korrekter Zurückweisungen). Allerdings führten Einzelgegenüberstellungen auch zu einer höheren Rate falscher Identifizierungen, wenn Täter sich nicht in der Aufstellung befand.

Ein weiteres Ergebnis diskreditiert die Verwendung von Einzelgegenüberstellungen. Verdächtige, die in Einzelgegenüberstellungen gezeigt werden, werden oft verhaftet, nur weil sie sich in der Nähe des Tatorts aufhalten und ihr Äußeres grob mit der Täterbeschreibung übereinstimmt, einschließlich der Beschreibung der getragenen Kleidung. Dies kann ungünstige Folgen in denjenigen Fällen haben, in denen der oder die verhaftete unschuldige Verdächtige zufällig die gleiche oder ähnliche auffallende Kleidung trägt wie der wahre Täter oder die wahre Täterin (Dysart, Lindsay & Dupuis, 2006).

Bei Wahlgegenüberstellungen gibt es mindestens zwei verschiedene Möglichkeiten der Darbietung: In simultanen Gegenüberstellungen werden die Personen alle gleichzeitig gezeigt. Im Unterschied dazu werden in sequentiellen Gegenüberstellungen die Personen nacheinander gezeigt (Lindsay & Wells, 1985). Während sich viele ZeugInnen mit einer simultanen Gegenüberstellung wohler fühlen würden, legen theoretische Überlegungen nahe, dass die Identifizierungsrichtigkeit bei sequentiellen Gegenüberstellungen höher sein sollte. Lindsay und Wells (1985) legten dar, dass eine simultane Gegenüberstellung Vergleiche zwischen den verschiedenen Personen in der Gegenüberstellung erlauben. Dies kann zu einem sogenannten Relativurteil führen, wobei die ZeugInnen dazu neigen, diejenige Person aus der Gegenüberstellung auszuwählen, die dem Täter oder der Täterin am meisten ähnelt. Bei sequentiellen Gegenüberstellungen gelangen ZeugInnen hingegen eher zu einem Absoluturteil. Hierbei sehen ZeugInnen immer nur eine Person gleichzeitig und müssen für jede Person aufs Neue entscheiden, ob es sich hierbei um den Täter bzw. die Täterin handelt. Weil andere Vergleichsmöglichkeiten fehlen, wird so ein Vergleich zwischen der Erinnerung an den Täter bzw. die Täterin und der Person in der Gegenüberstellung erzwungen. Eine weitere Eigenschaft von sequentiellen Gegenüberstellungen ist, dass ZeugInnen die Entscheidung nicht ändern dürfen, nachdem eine positive Entscheidung bezüglich einer Person aus der Gegenüberstellung gefällt ist. Tatsächlich sind modifizierte Varianten der sequentiellen Gegenüberstellung, die erlauben, zu bereits betrachteten Bildern zurückzukehren oder zwei Bilder miteinander zu vergleichen, weniger effektiv als das ursprüngliche sequentielle Verfahren (Lindsay & Bellinger, 1999).

Im letzten Jahrzehnt herrschte Uneinigkeit zwischen ForscherInnen über die angenommene Überlegenheit der sequentiellen Gegenüberstellung (z. B. Lindsay, Mansour, Beaudry, Leach & Bertrand, 2009; McQuiston-Surrett, Malpass & Tredoux, 2006). Während das eine Lager behauptete, dass sequentielle Gegenüberstellungen zu einer signifikanten Reduzierung von falschen Alarmen führten (Lindsay, 1999; Steblay, Dysart, Fulero & Lindsay, 2001), betonte das andere Lager, dass sich dieser Effekt schlicht auf eine Reduzierung der Wahlrate zurückführen lasse (Ebbesen & Flowe, 2002), was die erhöhte Gefahr in sich berge, tatsächliche TäterInnen laufen zu lassen (Malpass, Tredoux & McQuiston-Surrett, 2009).

Eine Meta-Analyse mit den Daten von 13143 Versuchspersonen brachte Licht in die Sache (Steblay, Dysart & Wells, 2011). Die Ergebnisse zeigen, dass eine sequentielle Gegenüberstellung, obwohl sie weniger häufig mit der Identifizierung von Verdächtigen endet, trotzdem beweiskräftiger als eine simultane Gegenüberstellung für die Schuld der Verdächtigen ist. Versuchspersonen, denen eine sequentielle Gegenüberstellung vorgelegt wurde, machten in 8 % weniger Fällen eine richtige Identifizierung, aber in 22 % mehr Fällen eine richtige Zurückweisung als ZeugInnen, denen eine simultane Gegenüberstellung vorgelegt wurde.
Obwohl ZeugInnen intuitiv der Meinung sein mögen, dass eine simultane Gegenüberstellung sie in eine bessere Position bringt, erfordert eine sequentielle Gegenüberstellung eher ein Absoluturteil als eine simultane Gegenüberstellung. Dies wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit für eine richtige Entscheidung.

Mit welcher Wahrscheinlichkeit wird ZeugInnen eine Einzelgegenüberstellung oder eine bestimmte Variante der Wahlgegenüberstellung vorgelegt? Das hängt im Grunde davon ab, wo man lebt. Aktuell verändert sich die Präsentation von Gegenüberstellungen in einigen Rechtssystemen. In Großbritannien wurde vor kurzem die sogenannte VIPER-Gegenüberstellung (Video Identification Parade Electronic Recording; deutsch: elektronische Aufzeichnung der Videogegenüberstellung) eingeführt (Memon, Havard, Clifford, Gabbert & Watt, 2011). Diese Gegenüberstellung besteht aus mehreren kurzen Videoclips, die den ZeugInnen nacheinander gezeigt werden. Jeder Clip dauert ungefähr 15 Sekunden und zeigt eine Person aus der Gegenüberstellung, wobei Kopf und Schultern zu sehen sind. Das Gesicht wird frontal und im Profil im Winkel von 90 Grad gezeigt. Alle Clips werden in einer großen Datenbank gespeichert, welche die besten Übereinstimmungen mit einer Personenbeschreibung ausgibt. Hierauf basierend können die BeamtInnen, die die Gegenüberstellung durchführen, entscheiden, welche Clips in die Gegenüberstellung aufgenommen werden. Der Clip, der die verdächtige Person zeigt, wird normalerweise zusammen mit fünf bis acht Clips von Vergleichspersonen gezeigt. Obwohl es sich um eine sequentielle Gegenüberstellung handelt, gibt es dabei keine strikte Abbruchregel, wonach jede Person in der Gegenüberstellung nur einmal betrachtet werden darf und die Durchführung abgebrochen wird, sobald der Zeuge oder die Zeugin eine Person aus der Gegenüberstellung ausgewählt hat (Valentine, Darling & Memon, 2007). Der Grund hierfür liegt in der Gesetzgebung von England und Wales, wonach jeder Clip mindestens zweimal angesehen werden muss, bevor eine Entscheidung gefällt werden darf. Tatsächlich dürfen ZeugInnen einzelne Personen der Gegenüberstellung so oft betrachten, wie sie möchten.

In den USA haben mehrere Staaten und Landkreise ihre Verfahren an die wissenschaftliche Evidenz angepasst und führen nun sequentielle anstelle von simultanen Gegenüberstellungen durch (Steblay et al., 2011). Gleichzeitig ist die Verwendung von Einzelgegenüberstellungen noch weitverbreitet. So haben Gonzalez, Ellsworth und Pembroke (1993) einen Polizisten gebeten, alle Wahl- und Einzelgegenüberstellungen zu zählen, an denen er beteiligt war. In der Zeit, in der er an 50 Wahlgegenüberstellungen beteiligt war, hatte er bereits 172 Einzelgegenüberstellungen durchgeführt (77 %). Eine Archivstudie ergab außerdem, dass 51 % der aufgezeichneten Gegenüberstellungsverfahren, die zwischen 1978 und 1998 durchgeführt wurden, Einzelgegenüberstellungen waren (Behrman & Davey, 2001).

Für andere europäische Länder, wie Deutschland oder Griechenland, gibt es keine Daten hinsichtlich der Verwendung von Gegenüberstellungsverfahren und es gibt auch keine Gesetze, welche die Durchführung von Gegenüberstellungen explizit regeln (Odenthal, 1990).

Meta-kognitive Einflüsse

Subjektive Sicherheit

Es ist gut belegt, dass es eine positive Beziehung zwischen der subjektiven Sicherheit nach der Identifizierungsentscheidung und der Richtigkeit der Entscheidung gibt, wenn man positive Identifizierungsentscheidungen betrachtet (Sporer, Penrod, Read & Cutler, 1995). Dies bedeutet, je sicherer sich ZeugInnen ihrer Identifizierungsentscheidung sind, desto richtiger liegen sie. Dagegen besteht kein solcher Zusammenhang für Zurückweisungen von Gegenüberstellungen. Jedoch ist es wichtig zu betonen, dass sich diese Erkenntnis nur auf die subjektive Sicherheit bezieht, die unmittelbar nach der Entscheidung erhoben wird. Folglich bezieht sie sich nicht auf die subjektive Sicherheit nach dem Erhalt von Feedback (siehe oben) oder der subjektiven Sicherheit, die vor Gericht angegeben wird (es besteht die Gefahr der zwischenzeitlichen Beeinflussung durch Medien oder andere ZeugInnen).

ZeugInnen wären gut beraten, unmittelbar nach ihrer Identifizierungsentscheidung darüber nachzudenken, wie sicher sie sich ihrer Entscheidung sind. Haben sie Feedback erhalten, sollte dies von den ZeugInnen unbedingt vor Gericht angegeben werden, wenn sie über die subjektive Sicherheit, mit der sie zu einer Entscheidung gelangt sind, befragt werden.

Fazit

Zahlreiche Faktoren können einen Einfluss auf die Identifizierungsleistung von AugenzeugInnen während des Identifizierungsverfahrens haben. Kenntnis dieser Faktoren kann dabei helfen, das Bewusstsein von ZeugInnen für das Auftreten solcher Einflüsse zu schärfen, die ansonsten unbemerkt bleiben würden. Dies kann dabei helfen, die Beurteilung von Identifizierungsaussagen durch EntscheidungsfinderInnen und schließlich die Entscheidungen vor Gericht zu verbessern. Dies würde einerseits Personen, die zu Unrecht beschuldigt wurden, und andererseits der Gesellschaft als Ganzes zugutekommen, da bei falschen Verurteilungen die wahren TäterInnen weiterhin auf freiem Fuß ist.

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