Better safe than sorry – wie Schokolade unser Gehirn betrügt und Krankheitsängste entstehen

Teaser: Alles nur eingebildet? Nein! In diesem Beitrag wird beschrieben, wie Wahrnehmen und Lernen sich in unserem Gehirn in einem Prozess verbinden und wie Krankheitsängste entstehen.

measuring blood pressureUnser Gehirn ist eine Hochleistungsmaschine und trotzdem ist es eine riesige Herausforderung für Forscher zu erklären, wie das Gehirn alle eingehenden Informationen verarbeitet, damit wir reibungslos funktionieren. Eine Theorie besagt, dass das Gehirn Hypothesen bildet und diese mit neu eingehenden Informationen vergleicht. Besteht eine Diskrepanz zwischen Annahme und Signal, passt es entweder die Annahmen an oder löst regulierende Maßnahmen aus. Ein Beispiel: Auf meiner Arbeitsstelle befindet sich im Gemeinschaftsraum das Bermuda Dreieck der Süßigkeiten. Jeder bringt etwas mit und spätestens nach dem Mittagessen schlagen alle zu. Bei täglicher Versorgung haben unsere Gehirne Annahmen darüber gebildet, wie Naschwerk aussieht und schmeckt. Beißen wir also um 12:30 Uhr beherzt in ein braunes, glänzendes Stück Schokolade, erwarten wir ein vollmundig -süßes und wenn wir Glück haben zartschmelzendes Geschmackserlebnis. Neulich versteckte sich unerwartet ein großer Klumpen Meersalz im Kern eines solchen. Unsere Gehirne wurden überrascht und veränderten die existierenden Vorannahmen nach diesem salzigen Betrug. Schnell wurde das angebissene Stück in ein Taschentuch gespuckt oder das Gesicht verzogen. Es gab also Hypothesen (Schokolade ist süß) und Sinnesempfindungen (Zunge meldet salzigen Geschmack an das Gehirn). Das Ergebnis des Vergleichs war unsere Wahrnehmung (Igitt, da ist Salz drinnen!). Und dann war alles eine Frage der Präzision.

Je sicherer ein Gehirn sich war, dass Schokolade süß schmeckt, umso weniger ließ es sich von einer salzigen Sinnesempfindung in der Überarbeitung seiner Annahmen beeindrucken. Je größer der Salzklumpen, also je präziser die Sinnesempfindung, umso eher wurden Vorannahmen angepasst. Das führte natürlich auch zu Verhaltensänderungen. Ich zum Beispiel taste mich in näherer Zukunft nur noch mit höchster Vorsicht an von Kollegen bereitgestellte Zuckerwaren heran, zumal es erwartungsgemäß immer einen Stänkerer gibt, der an Karneval einen Senfberliner anschleppt.

Ende des letzten Jahrhunderts wurde das heute als ‚predictive coding theory‘ bekannte Erklärungsmodell von der Hirnforschungskoryphäe Karl Friston aufgegriffen. Dieser begeisterte sich für die Anmut, mit der das Gehirn in einem mathematischen Berechnungsprozess Wahrnehmung und Lernen integrieren kann (Friston, 2018). Omer van den Bergh und seine Kollegen erklärten die Wahrnehmung körperlicher Beschwerden mit diesem Ansatz (Van den Bergh et al., 2017). Dieser wurde auf Krankheitsängste übertragen und das geht so:

Personen mit Krankheitsangst (oder besser deren Gehirne) bilden durch Erfahrungen mit Krankheiten oder durch den Umgang der Eltern mit Krankheit und Tod Annahmen darüber, dass bestimmte Körperempfindungen lebensgefährlich sein können. Diese Annahmen sind existentiell und sehr präzise. Körperempfindungen wie der eigene Herzschlag sind dagegen oft schwer wahrzunehmen, also eher wenig präzise. Daher glaubt das Gehirn eher den Vorannahmen als den vom Körper an das Gehirn gesendeten Signalen. Im Sinne einer „sicher ist sicher“-Strategie werden Körperempfindungen in der Folge immer schneller wahrgenommen, auch wenn es zum Teil keine physiologische Grundlage dafür gibt. Die Körperempfindungen werden wiederum aufgrund der Lebenserfahrungen als bedrohliche Symptome interpretiert. Immer mehr Aufmerksamkeit wird auf den Körper gelenkt oder Rückversicherung bei Ärzten eingeholt. Medizinische Untersuchungen werden gemacht und das Gehirn verfestigt seine Annahmen darüber, dass Überprüfungen relevant sind und Körperempfindungen ein hohes Bedrohungspotential haben. Je fester oder präziser die Vorannahmen werden, umso schwerer fällt es dem Gehirn schließlich, diese zu verwerfen. Es wird ein Teufelskreis in Gang gehalten, bis Krankheitsängste so das Leben beeinträchtigen, dass sie selbst krankmachen.

Wir erforschen Entstehungsmodelle von Krankheitsängsten und bieten Betroffenen eine Behandlung nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen in unserer Spezialambulanz für Krankheitsangst. Informationen finden Sie auf unserer Homepage: www.krankheitsangst.koeln.

Autorin: Anna Pohl

Quellen:

Friston, Karl. "Does predictive coding have a future?." Nature neuroscience 21.8 (2018): 1019.

Van den Bergh, O., Witthöft, M., Petersen, S., & Brown, R. J. (2017). Symptoms and the body: taking the inferential leap. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 74, 185-203.

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