Das Potential unbewusster Wahrnehmung – Wer entscheidet, was wir (unbewusst) tun?

Unbewusste Wahrnehmung bezeichnet die Beeinflussung unseres Verhaltens durch nicht-wahrnehmbare Reize – eine irritierende Vorstellung. Wir skizzieren die Forschungsgeschichte zur unbewussten Wahrnehmung und schildern eine theoretisch untermauerte Methode zu ihrer experimentellen Untersuchung. Abschließend beschreiben wir die Möglichkeiten und Grenzen der Beeinflussung, also inwiefern und in welchem Ausmaß der Mensch unbewusst beeinflussbar ist.

Unbewusste Wahrnehmung – eine kleine Forschungsgeschichte

Der Begriff der unbewussten Wahrnehmung bezeichnet Gehirnprozesse, die nicht bewusst wahrnehmbare Sinneseindrücke nutzen. Bild: sbtlneet via pixabay (https://pixabay.com/de/gehirn-menschliche-anatomie-anatomie-1787622/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Der Begriff der unbewussten Wahrnehmung bezeichnet Gehirnprozesse, die nicht bewusst wahrnehmbare Sinneseindrücke nutzen. Bild: sbtlneet via pixabay (https://pixabay.com/de/gehirn-menschliche-anatomie-anatomie-1787622/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)

Der psychologische Begriff der unbewussten Wahrnehmung bezeichnet Gehirnprozesse, die unterschwellige, also nicht bewusst wahrnehmbare Sinneseindrücke nutzen (z. B. um Verhaltensreaktionen zu beeinflussen).

Die Behauptung, der Mensch wäre durch Reize beeinflussbar, die sich seiner bewussten Wahrnehmung entzögen, war in der Wahrnehmungsforschung lange umstritten. Drohte der Mensch dadurch nicht seinen Status als rationales und autonomes Wesen zu verlieren?

Populär wurde die Diskussion über unbewusste Beeinflussung durch eine vorgebliche Untersuchung in den 1950er Jahren. Es wurde behauptet, dass während eines Kinofilms sehr kurz eingeblendete, unterschwellige Aufforderungen, bestimmte Markenprodukte zu konsumieren (z. B. „Drink Coca Cola”), den Absatz dieser Produkte an der Kinokasse um bis zu 58 % erhöhen würden. Wie sich herausstellte, eine gezielte Falschmeldung als Teil einer Werbekampagne (Pratkanis, 1992).

Ernste Hinweise auf unbewusste Wahrnehmung ergaben sich dagegen aus Untersuchungen an PatientInnen mit partiellen Hirnstörungen (z. B. Pöppel et al., 1973). Diese berichteten, in einem bestimmten Bereich ihres Sichtfeldes „nichts zu sehen”. Sie litten in Folge einer Beschädigung im visuellen Kortex unter „kortikaler Blindheit”, waren also trotz intakter Sehfähigkeit des Auges partiell blind. Überraschenderweise waren die PatientInnen aber dennoch in der Lage, überzufällig häufig die Position eines Lichtreizes in diesem Bereich per Augenbewegung anzugeben. Überraschend auch für die PatientInnen, von denen eine fragte: „Wie soll ich etwas ansehen, das ich nicht sehe?”. Andere Untersuchungen zeigten, dass die unsichtbaren Informationen sogar näher beschrieben werden konnten (siehe Abbildung 1).

Zu dieser Untersuchung gesellten sich zunehmend weitere empirische Befunde (also „objektive” experimentelle Ergebnisse), die eine unbewusste Verarbeitung visueller Reize nahe legten. Ihre Bedeutsamkeit blieb aber höchst umstritten.

Um diese (durchaus hitzig geführte) Diskussion zu versachlichen, schlugen Reingold und Merikle (1990) eine Präzisierung der verwendeten Methoden und Begriffe vor. Zum Beispiel müsse vor der Untersuchung unbewusster Wahrnehmung erst einmal klar sein, was bewusste Wahrnehmung sei und wie sie gemessen werden könne.

Eine bis heute weit verbreitete Messmethode ist die Befragung von ProbandInnen, ob sie einen bestimmten Reiz bewusst wahrgenommen (also gesehen) haben. Dies ist in mehrfacher Hinsicht problematisch – und die Schwachstelle des faszinierenden Befunds zur kortikalen Blindheit. Denn man kann bei dieser Methode die visuelle Sensitivität (Empfindlichkeit) der ProbandInnen nicht trennen von ihrer Antwortneigung – im Zweifel kategorisieren einige ProbandInnen einen Reiz bevorzugt als „unsichtbar”, andere aber als „sichtbar”.

Ein alternativer Forschungsansatz bediente sich zur Messung unbewusster Wahrnehmung narkotisierter ProbandInnen (Merikle & Daneman, 1996). Diesen wurden Wörter über Kopfhörer dargeboten. Es zeigte sich, dass sie bis zu 36 Stunden nach der Narkose Erinnerungen an die präsentierten Wörter abrufen konnten. Wie sind diese Ergebnisse zu interpretieren? Die AutorInnen werteten sie einerseits als Beleg für die Existenz unbewusster Hirnprozesse – andererseits wiesen sie aber auch auf ein Problem der verwendeten Methode hin: Gelegentliche Phasen der Wachheit könnten nicht mit letzter Gewissheit ausgeschlossen werden, sodass die Gedächtniseffekte auch auf einer bewussten Informationsverarbeitung in diesen Momenten beruhen könnten.

Wir sehen, dass es zuweilen Auslegungssache ist, ob Befunde als überzeugend oder nicht überzeugend betrachtet werden. Kann man unbewusste Wahrnehmung überhaupt zweifelsfrei nachweisen? Im Folgenden stellen wir eine Methode vor, die unserer Meinung nach dazu geeignet ist.

Bei der Response-Priming-Methode (Neumann & Klotz, 1994) haben die ProbandInnen die Aufgabe, einen präsentierten Zielreiz per Tastendruck schnellstmöglich zu kategorisieren (z. B. rot – linke Taste, grün – rechte Taste). Einige Millisekunden vor Erscheinen des Zielreizes wird ein Prime (Bahnungsreiz) präsentiert (Abbildung 2a). Gehört der Prime derselben Antwortkategorie an wie der darauffolgende Zielreiz, wird der Durchgang als konsistent bezeichnet (z. B. roter Prime – roter Zielreiz), ansonsten als inkonsistent (z. B. roter Prime – grüner Zielreiz). Alternativ werden auch die Begriffe kongruent vs. inkongruent verwendet. Typischerweise reagieren ProbandInnen in konsistenten Durchgängen deutlich schneller auf den Zielreiz als in inkonsistenten Durchgängen. Man geht davon aus, dass der Prime die ihm zugeordnete Reaktion vor-aktiviert und entsprechend die Zielreiz-Reaktion erleichtert oder erschwert. Die Differenz der Reaktionszeiten zwischen konsistenten und inkonsistenten Durchgängen wird als Priming-Effekt bezeichnet: Er zeigt an, ob und wie der Prime verarbeitet wurde (Abbildung 2b) und vergrößert sich idealtypisch mit zunehmendem zeitlichen Abstand von Prime und Zielreiz („stimulus-onset-asynchrony”, SOA).

Abb. 2: Illustration des Response-Priming-Paradigmas. (a) zeigt einen typischen Versuchsdurchgang: 500 ms nach dem Fixationspunkt wird ein Zielreiz präsentiert, der möglichst schnell kategorisiert werden muss (z. B. als rot oder grün). Kurz vorher (abhängig vom SOA) erscheint ein Prime, entweder aus derselben Antwortkategorie wie der Zielreiz (konsistent) oder einer anderen (inkonsistent). (b) zeigt den typischen Response-Priming-Effekt. Die Reaktionszeiten bezüglich des Zielreizes sind kürzer in konsistenten Durchgängen als in inkonsistenten Durchgängen. Der Effekt nimmt typischerweise mit dem SOA zu. (c) illustriert das "Aussehen" des Primes und des Zielreizes ohne und mit Maskierung.

 

Um nun unbewusste Wahrnehmung untersuchen zu können, wird der Prime maskiert, das heißt, von einem nachfolgenden Reiz „verdeckt. Dies ist entweder ein zusätzlicher Maskierungsreiz, der zwischen Prime und Zielreiz präsentiert wird, oder ein speziell gestalteter Zielreiz, der somit auch die Aufgabe des Maskierungsreizes übernimmt (Abbildung 2a, c). Im Allgemeinen vermindert ein Maskierungsreiz durch eine Präsentation in direkter räumlicher (z. B. Verdeckung oder Umschließung) und/oder zeitlicher Nähe zu einem Prime dessen Sichtbarkeit. Es ist nicht nötig, dass der Prime durch die Maskierung unsichtbar wird (dies ist methodisch auch nur schwer zweifelsfrei feststellbar). Es ist ausreichend, wenn die Sichtbarkeit des Primes variiert wird. Diese Variation kann zum Beispiel erreicht werden, indem die zeitliche oder räumliche Nähe des Maskierungsreizes zum Prime verändert wird (z. B. durch verschiedene Grade der Verdeckung). Zeigten sich keine Auswirkungen der variierenden Maskierung auf das Verhalten, wäre dies ein starker Beleg für eine Verarbeitung unabhängig von der Sichtbarkeit (Vorberg et al., 2003). Ein noch stärkerer Beleg wäre, wenn bei abnehmender Sichtbarkeit des Primes der Priming-Effekt sogar zunähme, also wenn sich die Sichtbarkeit eines Reizes gegensätzlich zu seinem Einfluss auf das Verhalten entwickelte. Man spricht in diesem Falle von einer doppelten Dissoziation (Abbildung 3; vgl. Schmidt & Vorberg, 2006). Vorberg et al. (2003) konnten genau das zeigen. Wie ist das zu erklären?

Verfolgungsjagd durch das Gehirn – ein Erklärungsmodell

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir verstehen, wie die Wahrnehmung und Verarbeitung eines visuellen Reizes generell vonstatten geht. Es ist dazu hilfreich, sich das Gehirn als hierarchisches System vorzustellen. Visuelle Informationen werden zunächst von der niedrigsten Ebene analysiert. Dort werden einfache Merkmale extrahiert, wie Helligkeitskontraste, Kanten, Farben und Bewegungen. Auf höheren Ebenen werden diese Merkmale in Repräsentationen von Objekten integriert und diese dann in Bezug zu ihrem Kontext und anderen Objekten gesetzt. Entsprechend wird die räumliche Struktur des visuellen Kortex eingeteilt in niedrigere und höhere Areale.

Dieses hierarchische Modell vernachlässigt allerdings die inzwischen bekannte Komplexität der Nervenverbindungen und die zeitliche Dimension der Verarbeitung. Die sensorischen Informationen durchlaufen zwar die visuellen Abb. 3: Illustration der "Doppel-Dissoziation". Der Priming-Effekt nimmt mit dem SOA zu, obwohl die Sichtbarkeit des Zielreizes mit dem SOA abnimmt. Es kann folglich davon ausgegangen werden, dass der Priming-Effekt unabhängig von der Sichtbarkeit des Zielreizes auftritt.Areale in der von der Hierarchie vorgegebenen Reihenfolge. Die höheren Areale projizieren ihre Analyseergebnisse allerdings auch zurück in niedrigere Areale, wo die (integrierten) Informationen erneut analysiert werden. Entsprechend können schnelle Vorwärtsprojektionen (Feedforward-Verbindungen) und langsame rekurrente Signalwege (Feedback-Verbindungen) unterschieden werden. In einer frühen Phase der Verarbeitung basieren Reizrepräsentationen ausschließlich auf den Analysen der Feedforward-Verbindungen, in späteren Phasen zusätzlich auf denen der Feedback-Verbindungen. Statt die Verarbeitung eines visuellen Reizes nur dadurch zu charakterisieren, in welchen Arealen sie stattfindet, ist es ebenso wichtig, zeitlich frühe und späte Phasen der Reizverarbeitung zu unterscheiden.Das hierarchische Modell des Gehirns vernachlässigt die bekannte Komplexität der Nervenverbindungen und die zeitliche Dimension der Verarbeitung. Bild: ColiN00B via pixabay (https://pixabay.com/de/nervenzelle-neuron-gehirn-neuronen-2213009/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Das hierarchische Modell des Gehirns vernachlässigt die bekannte Komplexität der Nervenverbindungen und die zeitliche Dimension der Verarbeitung. Bild: ColiN00B via pixabay (https://pixabay.com/de/nervenzelle-neuron-gehirn-neuronen-2213009/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)

Angewandt auf die Response-Priming-Methode bedeutet dies: Die Prime-Information durchläuft mittels Feedforward-Verbindungen die visuelle Verarbeitungshierarchie bis hin zu den motorischen Arealen, wo sie das Antwortverhalten (die Reaktion des entsprechenden Fingers) initiiert. Der später präsentierte Zielreiz „läuft” dem Prime-Signal verzögert hinterher und übernimmt oder korrigiert die Antwortreaktion erst bei seinem Eintreffen in den motorischen Arealen. Dieser Prozess wird beschrieben durch die „Rapid-Chase-Theorie“ (Abbildung 4; z. B. Schmidt et al., 2011). Sie erklärt auch, warum die Priming-Effekte typischerweise mit dem SOA zunehmen und warum sie nicht von der Sichtbarkeit des Primes abhängig sind: Die Priming-Effekte sind umso größer, je mehr Zeit der Prime zur Verhaltenssteuerung hat, bevor der Zielreiz eintrifft. Auch der Maskierungsreiz wird erst wirksam, nachdem der Prime die motorische Reaktion bereits aktiviert hat.

Es gilt als sicher, dass bewusste Wahrnehmung Feedback-Verbindungen erfordert. Umgekehrt bedeutet dies, dass Analysen, die ausschließlich auf Feedforward-Verbindungen basieren, unbewusst bleiben. Da die Response-Priming-Methode potentiell geeignet ist, Feedforward-Prozesse zu isolieren, ist sie somit auch geeignet, unbewusste Prozesse zu untersuchen.

Abb. 4: Schematische Darstellung der "Rapid-Chase-Theorie". Das Prime-Signal (roter Kreis) durchläuft die visuelle Verarbeitungshierarchie bis hin zu den motorischen Arealen, wo es das Antwortverhalten initiiert: Der Finger bewegt sich nach links. Der später präsentierte Zielreiz (grüner Ring) „läuft” dem Prime-Signal verzögert hinterher und übernimmt oder korrigiert die Antwortreaktion erst bei seinem Eintreffen in den motorischen Arealen.

Das Potential unbewusster neuronaler Prozesse

Ein pragmatischer Ansatz zur Untersuchung unbewusster Verarbeitung ist folglich, sich auf die Vorwärtsprojektionen zu konzentrieren – genauer gesagt auf die erste Vorwärtsprojektion nach der Reizpräsentation (den „feedforward sweep“). Was ist das Potential unbewusster Wahrnehmung und wo liegen ihre Grenzen? Präziser: Welche Komplexität erreicht eine Reizrepräsentation am Ende eines einmaligen Durchlaufs durch die visuelle Verarbeitungshierarchie?

Einige Untersuchungen haben gezeigt, dass sowohl Helligkeitskontrast, als auch Farb- und Forminformationen innerhalb noch nicht bewusster Stufen der visuellen Verarbeitung analysiert werden (vgl. Schmidt et al., 2011). Überraschender ist, dass auch einfache Objektkategorisierungen möglich sind. Schmidt und Schmidt (2009) präsentierten gleichzeitig zwei Zielreize an gegenüberliegenden Positionen eines Bildschirms, einer aus der Kategorie „Tier”, einer aus der Kategorie „Objekt”. Die ProbandInnen sollten ausgehend von der Mitte des Bildschirms schnellstmöglich auf den Tier-Zielreiz zeigen. Vor den Zielreizen erschienen an denselben Positionen zwei konsistente oder inkonsistente Primes. Die Auswertung der Zeigebewegungen ergab: (1) Die Reaktion beginnt etwa 300 ms nach der Prime-Präsentation. (2) Die Zeigebewegung verläuft zunächst in Richtung des Tier-Primes (unabhängig von der Position des Tier-Zielreizes). (3) Nach weiteren 100 bis 200 ms (abhängig vom SOA) erfolgt die Bewegung in Richtung des Tier-Zielreizes (Bewegungskorrektur in inkonsistenten, Bewegungsweiterführung in konsistenten Durchgängen). Bereits der Prime löst also das Verhalten aus, dass erst nachträglich vom Zielreiz beeinflusst wird. Dies entspricht den Vorhersagen der Rapid-Chase-Theorie und spricht dafür, dass die verwendeten Primes innerhalb der ersten Feedforward-Projektion verarbeitet werden. Die Kategorisierung von Tieren und Objekten kann also ohne Feedback-Verarbeitung, und damit unbewusst, erfolgen.Einige Untersuchungen haben gezeigt, dass sowohl Helligkeitskontrast, als auch Farb- und Forminformationen innerhalb noch nicht bewusster Stufen der visuellen Verarbeitung analysiert werden. Bild: silasvj via pixabay (https://pixabay.com/de/licht-bokeh-fantasy-farben-746261/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)

Andere Untersuchungen liefern ergänzende Befunde, zeigen aber auch die Grenzen auf: Das Beschriebene gilt für die semantische (Bedeutungs-)Analyse von Wörtern (mit gewissen Einschränkungen: Klauer et al., 2007) ebenso wie für die Kategorisierung natürlicher Szenen (VanRullen & Koch, 2003). In beiden Fällen wird auf Vorwissen zurückgegriffen. Für unbewusste Wahrnehmung muss dieses Vorwissen hoch automatisiert sein. Diese Automatisierung kann durch intensives Training erfolgen. Eine unbewusste Kategorisierung einfacher Schachfiguren-Konstellationen hinsichtlich der Frage, ob in ihnen der König bedroht ist oder nicht, ist nur möglich für ExpertInnen, nicht aber für unerfahrene SchachspielerInnen (Kiesel et al., 2009). Ebenso müssen komplexe Reize räumlich getrennt (nicht überlappend) präsentiert werden. Visuelle Reize können also durchaus, aber nur bis zu einer gewissen kategorialen und semantischen Komplexität, und bei ausreichender räumlicher Trennung, von unbewussten Prozessen analysiert werden. Dabei wird (nur) auf automatisiertes Vorwissen zurückgegriffen.

Wer entscheidet, was wir (unbewusst) tun?

Welche Tragweite haben diese Befunde? Entscheiden unsichtbare ( Prime-)Reize darüber, wie wir uns verhalten? Ist der Mensch unbewusster Manipulation ausgesetzt? Droht ihm gar, wie eingangs formuliert, der Verlust seines Status' als rationales und autonomes Wesen?

Wie erwähnt, wurde das „Kinoexperiment” entzaubert – unterschwellig eingeblendete Anweisungen wurden nicht befolgt. Dies ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit. Tatsächlich konnte nachgewiesen werden, dass durstige ProbandInnen häufiger zu einer unterschwellig eingeblendeten Getränkemarke griffen als zu einem nicht präsentierten Konkurrenzprodukt (Karremans, Stroebe & Claus, 2006). Unbewusste Werbung beeinflusst also die Entscheidung für ein spezifisches Produkt – ruft aber nicht das für eine Handlung notwendige Bedürfnis hervor. Im Gegensatz dazu ist bewusst dargebotene Werbung durchaus in der Lage, unser Konsumverhalten (Entscheidung und Bedürfnis) zu manipulieren!

Wenn das Erinnern einzelner, unter Narkose gehörter Wörter möglich ist, ist es dann auch das Lernen im Schlaf? Leider konnten bisher keine überzeugenden Effekte nachgewiesen werden (Greenwald et al., 1991). Es gibt lediglich erste Hinweise darauf, dass einfache Reiz-Reaktions-Verbindungen, zum Beispiel zwischen Gerüchen und Tönen, erlernt werden können (Arzi et al., 2012). Eindeutig belegt ist dagegen die Bedeutung des Schlafes, um Lerninhalte zu konsolidieren und abzuspeichern – also wach und fleißig lernen und dann beruhigt einschlafen!

Welchen Zweck erfüllt unbewusste Verarbeitung trotz dieser scheinbar eingeschränkten Wirksamkeit? Sicher ist, dass sie visuelle „Vorarbeit” leistet. Einzelne Reize werden vorab identifiziert und grob kategorisiert. Diese begrenzte unbewusste Verarbeitung ist insofern funktional, als sie das System schützt vor einer unendlichen Flut neuer Informationen.

Hier ist anzumerken, dass unbewusste Reize auch vergleichsweise komplexe Verhaltensfolgen haben können. Zum Beispiel können sie – nach vorheriger Instruktion – beeinflussen, welche von mehreren möglichen Aufgaben ProbandInnen ausführen (z. B. Tonhöhe oder Klangfarbe eines Tones beurteilen) oder ob ProbandInnen eine begonnene Reaktion zu Ende führen oder nicht (vgl. Kunde, Reuss & Kiesel, 2012).

Hier werden aber auch die Grenzen unbewusster Verarbeitung deutlich. Verhaltensrelevant werden die unbewussten Vorgänge nur innerhalb artifizieller Versuchsanordnungen und bei Zustimmung der ProbandInnen. Diese entscheiden sich bewusst und willentlich vor einem Experiment zum Beispiel für die Kategorisierung von Zielreizen. Der Prime beeinflusst lediglich die motorische Vorbereitung gewollter Reaktionen und dies auch nur, wenn so schnell wie möglich reagiert werden soll (Kiesel, Kunde & Hoffmann, 2007; für eine ausführlichere Darstellung in deutscher Sprache siehe Kiesel, 2009). Es macht keinen Sinn, hier von Manipulation zu sprechen!

Insgesamt gilt also Entwarnung. Unbewusste visuelle Prozesse dienen primär der kognitiven Entlastung. Frei werdende Ressourcen könnten anderweitig eingesetzt werden, zum Beispiel für wohl überlegte (und bewusste) Einschätzungen. Ob dies immer gelingt, ist jedoch fraglich: Beispielsweise bezeichnen sich die meisten Menschen als überdurchschnittlich humorvoll (eine statistische Unmöglichkeit)... Aber dies ist ein Fall für die Sozialpsychologie.

Referenzen

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