Foul oder kein Foul, das ist hier die Frage! Das Schiedsrichter-Entscheidungs-Training SET

Höchste körperliche Anstrengung seit beinahe anderthalb Stunden, 35.000 schreiende Menschen auf engstem Raum, und jetzt muss eine Entscheidung gefällt werden, die hunderttausende Menschen in Freudentaumel und ebenso viele in abgrundtiefe Traurigkeit versetzen wird. In solch einer Situation finden sich Fußball-Schiedsrichter jedes Wochenende. In Sekundenbruchteilen treffen sie folgenschwere Entscheidungen und stehen dabei unter größtem körperlichen und psychischen Stress. Wie machen die das eigentlich? Dieser Beitrag stellt sport- und sozialpsychologische Forschung zum Thema Schiedsrichterentscheidungen vor und beschreibt ein neu entwickeltes Trainingsprogramm.

Entscheidungen von Schiedsrichtern haben zweifellos einen großen Einfluss sowohl auf die Ergebnisse als auch auf die Attraktivität von Fußball-Spielen. Doch wie treffen Schiedsrichter eigentlich ihre Entscheidungen? Tragen Schiedsrichter zum Heimvorteil bei? Lassen sie sich etwa von den Zuschauern beeinflussen? Und werden eher große oder eher kleine Spieler häufiger wegen Foulspiels belangt? In der Sozial- und Sportpsychologie gibt es eine Vielzahl von Studien, die sich mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigen, um Entscheidungen von Schiedsrichtern besser zu verstehen. Denn klar ist: Fußball-Schiedsrichter leisten beeindruckendes – doch wie gelingt ihnen das überhaupt? Und wie können Psychologen ihnen helfen, noch besser zu werden? Mit diesem Ziel wurde das Schiedsrichter-Entscheidungs-Training SET entwickelt. Teilnehmer an SET bekommen online Videos präsentiert, müssen Entscheidungen zu diesen treffen und bekommen dann Feedback. Eine Reihe von Evaluationsstudien belegen die Wirksamkeit von SET.

Spätestens im Juni 2010 ist es wieder so weit: Die angeblich schönste Nebensache der Welt wird zur Hauptsache – es findet die FIFA Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika statt! Vier Wochen lang gibt es kein Entkommen: Tageszeitungen, Zeitschriften, Internet und Fernsehen werden von der Fußball-Berichterstattung beherrscht. Vom Ergebnis der Spiele in der Vorrunde über die Stimmung in der deutschen Nationalmannschaft bis zum tragisch verschossenen Elfmeter, kein Thema darf fehlen. Und alle freuen sich, wenn über sie berichtet wird. Wirklich alle? Interessanterweise wird über die Schiedsrichter im Fußball und ihre Assistenten meist nur berichtet, wenn ihnen spektakuläre Fehlentscheidungen unterlaufen sind, sonst werden sie kaum beachtet. Welcher Fußball-Fan versetzt sich schon regelmäßig in die Rolle der Schiedsrichter auf dem Feld und freut sich mit ihnen über gelungene Foul-Pfiffe und souverän erkannte Abseits-Stellungen? Dabei ist die Leistung der Schiedsrichter während eines WM-Spiels mehr als beeindruckend (Helsen & Bultynck, 2004): Nicht nur laufen sie deutlich mehr als der durchschnittliche Spieler auf dem Platz, sie müssen auch noch in Sekundenbruchteilen komplizierte Entscheidungen treffen und diese überzeugend den Mannschaften und dem Publikum vermitteln. Oftmals haben sie dabei nicht nur 22 Spieler, sondern auch noch 35.000 Zuschauer gegen sich!

Schiedsrichter in der Sportpsychologie

Im Gegensatz zur „Vernachlässigung“ der Schiedsrichter in den Medien und bei den Fans gibt es in der Sozialpsychologie und vor allem der Sportpsychologie eine Vielzahl von Arbeiten, die sich mit Schiedsrichtern beschäftigen. Seit geraumer Zeit beschäftigt sich die Psychologie damit, menschliches Entscheidungsverhalten zu erforschen: Wie treffen Menschen eigentlich Entscheidungen? Welche typischen Fehler machen sie dabei? Und wie können Psychologen helfen, bessere Entscheidungen zu treffen? Da liegt es nahe sich anzusehen, wie „professionelle Entscheider“ funktionieren: Manager, Richter, Ärzte und eben Schiedsrichter! Manche Studien brachten dabei durchaus erstaunliche Ergebnisse zutage.

So scheinen Schiedsrichter durch ihre Entscheidungen zum Heimvorteil beizutragen, wie Studien zum so genannten Crowd-Noise Effekt nahelegen (Nevill, Balmer, & Williams, 2002). In mehreren Studien wurden Schiedsrichtern Foul-Szenen aus Fußballspielen vorgelegt. Die Schiedsrichter mussten entscheiden, ob sie für das jeweilige Foul eine gelbe Karte geben oder nicht. Manche dieser Szenen wurden zufällig gesteuert mit Ton (bzw. mit lautem Ton) und andere ohne Ton (bzw. mit leisem Ton) dargeboten. Dabei zeigt sich immer wieder folgender Effekt: Fouls in lauten Szenen werden mit höherer Wahrscheinlichkeit mit gelben Karten geahndet als Fouls in leisen Szenen, selbst wenn das Foul dasselbe ist und nur einer Gruppe von Schiedsrichtern laut und einer anderen Gruppe leise präsentiert wurde. Möglicherweise entsteht dieser Effekt dadurch, dass Schiedsrichter im Laufe ihrer Karriere einen Zusammenhang zwischen der Lautstärke der Zuschauer und der Schwere eines Fouls lernen (Unkelbach & Memmert, 2010): Je schwerer das Foul, desto lauter schreien die Zuschauer. Umgekehrt nutzen Schiedsrichter nun (wahrscheinlich eher unbewusst) die Zuschauer-Lautstärke als Hinweis auf die Schwere eines Fouls. Da jedoch bei einem Fußballspiel die Anhänger der Heimmannschaft meist in der Überzahl sind, entsteht ein Vorteil für die Heimmannschaft: Fans werden bei einem Foul gegen einen „ihrer“ Spieler lauter schreien als bei einem Foul gegen einen Spieler der „anderen“. Dadurch bekommen, bei sonst gleichem Spielverhalten, die Spieler der Gastmannschaft eher eine gelbe Karte.

Nachteile von den Schiedsrichtern haben auch groß gewachsene Spieler im Fußball zu befürchten, wie die Ergebnisse einer jüngst veröffentlichten Studie nahelegen (van Quaquebeke & Giessner, 2010). Eine Datenbank-Analyse ergab, dass gegen größere Spieler häufiger Foul gepfiffen wird als gegen kleinere. In zwei folgenden kontrollierten Experimenten fanden die Autoren tatsächlich, dass bei einem Kontakt zwischen zwei Spielern der größere der beiden eher als der „foulende“ wahrgenommen wird. Für ihren Befund bieten die Autoren zwei Erklärungen an: Eine Möglichkeit ist, dass Schiedsrichter dazu neigen, größere Menschen als aggressiver wahrzunehmen. Die Evolutionsbiologie legt nahe, dass die Wahrnehmung von Größe und Aggressivität miteinander verknüpft sind (Archer, 1988). Eine andere Möglichkeit ist, dass größere Spieler tatsächlich häufiger schwere Fouls begehen, weil sie damit erfolgreicher sind als kleinere. Schiedsrichter könnten wieder diesen Zusammenhang gelernt haben und umgekehrt jetzt aus der Größe eines Spielers auf die Schwere des Fouls rückschließen.

In einer berühmten Studie sammelten die Autoren Belege dafür, dass nicht nur Zuschauerlärm und Spielergröße, sondern auch die Trikotfarbe Schiedsrichter beeinflusst (Frank & Gilovich, 1988). Zunächst ergab eine Datenbankanalyse in verschiedenen amerikanischen Ligen (z. B. American Football, Eishockey), dass Teams mit schwarzen Trikots häufiger für Foulspiel bestraft werden. Durch eine sehr überzeugende Studienanordnung wiesen die Autoren daraufhin nach, dass dieser Effekt nicht nur daran liegt, dass schwarz gekleidete Teams aggressiver sind, sondern tatsächlich daran, dass sie aggressiver wahrgenommen werden. Die Autoren produzierten einen Film, der einen Ausschnitt aus einem Football-Spiel zeigte und legten ihn Football-Schiedsrichtern vor. Das Video jedoch existierte in zwei Versionen. Beide Versionen waren bis auf eine Ausnahme identisch: Die Wissenschaftler hatten die Farbe der Teams zwischen den Versionen getauscht. Die Mannschaft, die in der ersten Version weiß gekleidet war, war in der zweiten Version schwarz gekleidet und umgekehrt. Je eine Gruppe von Schiedsrichtern sah eine Version des Videos, und in beiden Gruppen wurde die schwarz gekleidete Mannschaft häufiger wegen Foulspiels bestraft als die weiß gekleidete. Die Autoren erklären den beschriebenen Effekt so, dass Menschen allgemein schwarze Kleidung mit Aggressivität und Gewalt assoziieren (Beispiele reichen vom Schwarzen Ritter des Mittelalters über die Uniformen der SS im Dritten Reich bis zu Spezialeinheiten unserer Zeit). Dieses Vorwissen beeinflusst dann unsere Wahrnehmung und auch die von Schiedsrichtern.

Weitere Belege für den Einfluss von Farben auf die Einschätzung sportlicher Leistungen kommen aus dem Taekwondo, wo sich ein ähnlicher Effekt zeigt (Hagemann, Strauß, & Leißing, 2008). Bei Taekwondo-Wettkämpfen trägt einer der Kämpfer roten und der andere Kämpfer blauen Körper- und Kopfschutz. Träger des roten Schutzes werden von den Punktrichtern als aggressiver eingeschätzt als Träger des blauen Schutzes (was im Taekwondo im Gegensatz zum Fußball einen Vorteil bedeutet). Auch dieser Effekt konnte in einer Studie gezeigt werden, in der die Farben der Schutzausrüstung am Computer manipuliert wurden, so dass die unterschiedliche Farbe die einzige Erklärung für das Ergebnis war. Die letztgenannten Studien sind gute Beispiele dafür, dass die Forschung zu Schiedsrichtern nicht losgelöst von sonstiger sozialpsychologischer Forschung stattfindet, sondern oftmals diese ergänzt. Zahlreiche Studien außerhalb des Sports legen den Schluss nahe, dass Menschen nur sehr selten objektive und unverzerrte Urteile und Entscheidungen treffen können. Oftmals sind Entscheidungssituationen mit Unsicherheit behaftet, und wir müssen auf alle verfügbare Information zurück greifen, um zu einer Entscheidung zu gelangen.

Wie funktionieren Entscheidungen von Schiedsrichtern?

Bislang könnte es so aussehen, als würde die Sozial- und Sportpsychologie sich darauf beschränken, Fehler von Schiedsrichtern zu sammeln und zu erklären. Anders gesagt, wozu ist es gut, zu wissen, dass Schiedsrichter sich von Faktoren wie dem Lärm der Zuschauer und der Farbe der Trikots beeinflussen lassen? Die Antwort ist: Studien wie die oben beschriebenen helfen uns, die kognitiven Prozesse, die bei Entscheidungen von Schiedsrichtern eine Rolle spielen, besser zu verstehen (Plessner & Haar, 2006). Die Sozial- und Sportpsychologie macht nämlich durchaus mehr, als nur die Fehler von Schiedsrichtern zu beschreiben: In den letzten Jahren wurde von Psychologen der Universität Potsdam sowie der Universität Leipzig eine Trainingsintervention entwickelt, die Fußball-Schiedsrichter dabei unterstützt, ihre Entscheidungsfähigkeiten noch weiter zu verbessern. Die Grundidee bei der Entwicklung des Schiedsrichter-Entscheidungs-Trainings SET war, dass das Training einerseits dem neuesten Stand psychologischer Forschung entsprechen sollte, andererseits jedoch auch den praktischen Anforderungen als Trainingsinstrument für Fußball-Schiedsrichter (Brand, Schweizer, & Plessner, 2008). Im ersten Schritt schauten sich die Entwickler des Trainings die Entscheidungssituation von Fußballschiedsrichtern genau an, um zu verstehen, wie diese Entscheidungen funktionieren.

Beispielsweise nimmt ein Fußball-Schiedsrichter einen Kontakt zwischen zwei Spielern wahr. Einer der beiden Spieler stürzt. Der Schiedsrichter entscheidet innerhalb einer Sekunde Foul basierend auf den folgenden Hinweisen: Spieler 1 rutscht in Spieler 2, Spieler 2 stürzt und Spieler 2 hatte den Ball zum Zeitpunkt des Kontakts bereits gespielt. Um die korrekte Entscheidung zu treffen, musste der Schiedsrichter in der Lage sein, unter extremem Zeitdruck alle drei Hinweisreize zu verarbeiten. Jeder der Hinweisreize für sich genommen ist kein ausreichender Grund für eine Foul-Entscheidung. Nicht immer, wenn ein Spieler stürzt, ist es ein Foul, und wäre der Ball noch nicht gespielt gewesen, wäre es kein Foul gewesen.

Der Schlüssel zum Verständnis der Schiedsrichter-Entscheidung liegt darin, dass der Schiedsrichter innerhalb sehr kurzer Zeit mehrere Informationen verarbeiten musste. Die entscheidende Frage ist also: Wie konnte der Schiedsrichter in so kurzer Zeit (< 2 Sekunden) und unter so widrigen Umständen (suboptimale Sicht, körperliche Anstrengung, Stress) eine derart komplexe Entscheidung treffen? Tatsächlich können viele psychologische Theorien und Modelle diese Fähigkeit nicht ausreichend erklären. Sie nehmen entweder an, dass Menschen mehrere Informationen nacheinander (in der Regel bewusst) verarbeiten müssen – dann könnte der Schiedsrichter aber nicht so schnell entscheiden. Oder sie nehmen an, dass Menschen komplexe Entscheidungen dadurch lösen, dass sie sich auf einzelne Informationen konzentrieren und andere vernachlässigen – dann könnte der Schiedsrichter aber oft nicht korrekt entscheiden. Eine Erklärung, wie Menschen in sehr kurzer Zeit mehrere Informationen verarbeiten können, bieten Ansätze zum so genannten intuitiven Entscheiden (Gigerenzer, 2004; Gilovich, Griffin, & Kahneman, 2002; Plessner, Betsch, & Betsch, 2008). Verschiedene Forschergruppen innerhalb der Psychologie haben unterschiedliche Auffassungen darüber, welche psychologischen Phänomene sie unter dem Begriff Intuition zusammen fassen. Diese unterschiedlichen Auffassungen werden durchaus kontrovers diskutiert. Die in diesem Artikel vertretene Sichtweise auf das Thema Intuition versteht darunter Entscheidungen, die auf der parallelen (also gleichzeitigen) Verarbeitung von Informationen beruhen (Glöckner & Witteman, 2010). Solche Entscheidungen geschehen sehr schnell, und wir sind uns des Entscheidungsprozesses nicht notwendigerweise bewusst. Statt dessen „wissen“ wir plötzlich einfach die richtige Entscheidung, oder wir erleben sie als Gefühl, das wir nicht näher begründen können. Sozusagen das Gegenteil zur Intuition ist aus dieser Perspektive die Deliberation. Deliberative Entscheidungen sind das Resultat bewussten Abwägens oder Nachdenkens, sie dauern eher lange und wir können danach ziemlich gut erklären, wie wir zu einem Ergebnis gekommen sind.

Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit dem Auto eine Straße entlang, an deren Seite immer wieder Autos parken, so dass die Straße verengt wird. Ihnen kommt ein Auto entgegen, und völlig ohne darüber nachzudenken, fahren Sie mit Ihrem Wagen rechts ran, halten kurz hinter einem geparkten Auto, lassen den anderen Fahrer vorbei und fahren weiter. Eine typische intuitive Entscheidung – die Sie aber nur so mühelos treffen konnten, weil Sie zuvor schon viele Male in einer ähnlichen Situation waren. Überlegen Sie nur, wie viel Mühe Ihnen diese Entscheidung als Fahranfänger bereitet hätte. Dieses Beispiel illustriert ein wichtiges Merkmal intuitiver Entscheidungen: Man kann Menschen nur schlecht durch Erklärungen und Instruktionen beibringen, intuitiv zu entscheiden. Gute Intuitionen in einem bestimmten Gebiet erlernt man durch Erfahrung (Hogarth, 2008). Wenn man viele intuitive Entscheidungen trifft und Feedback zu diesen Entscheidungen bekommt, dann werden die intuitiven Entscheidungen mit der Zeit besser.

Dieser Befund illustriert die zentrale Idee des Schiedsrichter-Entscheidungs-Trainings SET: Um die intuitiven Entscheidungskompetenzen von Schiedsrichtern zu verbessern, müssen Schiedsrichter sehr viele Entscheidungen treffen und ein Feedback zu diesen bekommen. Das ist keineswegs so trivial, wie es sich vielleicht anhört. Im Gegensatz zu Athleten, die mehrmals pro Woche trainieren, gibt es für Schiedsrichter nämlich keine solchen Möglichkeiten. Schließlich dürfte es eher selten vorkommen, dass sich zwei Fußballmannschaften nur deshalb treffen und ein Spiel austragen, damit ein Schiedsrichter seine Entscheidungen trainieren kann. SET ist ein videobasiertes Online-Trainingsprogramm. Kernstück von SET ist eine Datenbank, die mehrere hundert Videos enthält. Diese Videos sind sortiert nach ihrer Herkunft (z. B. WM oder Bundesliga), nach Foulart (z. B. rempeln oder treten) und nach zu treffender Entscheidung (z. B. Foul oder gelbe Karte). Die Videos zeigen potentielle Foulsituationen und sind eher kurz (ca. 10 Sekunden). Zu jedem Video hat der Lehrwart des Deutschen Fußball-Bundes die korrekte Entscheidung zur Verfügung gestellt. Teilnehmende Schiedsrichter erhalten einen Zugang zur Online-Plattform und können sich dann ortsunabhängig einloggen. Sie nehmen an regelmäßigen Trainings-Sitzungen teil. Im Laufe einer Sitzung werden den Schiedsrichtern eine Reihe von Videos gezeigt, die potentielle Fouls enthalten. Direkt nach dem Kontakt, der beurteilt werden soll, wird das Video gestoppt. Jetzt müssen die Teilnehmer per Mausklick ihre Entscheidung angeben: Foul oder kein Foul? Wenn sie Foul entscheiden, müssen sie weiterhin entscheiden zwischen Freistoß, Gelbe Karte oder Rote Karte.

Während dieser Entscheidungen stehen die Schiedsrichter unter Zeitdruck, um die Trainingssituation der Situation auf dem Platz so ähnlich wie möglich zu machen. Direkt nach jeder Entscheidung bekommen die Schiedsrichter Feedback. Dieses besagt entweder „Richtig!“ oder „Falsch! Richtige Entscheidung ist ...“. Über dieses Feedback hinaus bekommen die Teilnehmer keine weiteren Begründungen, Erklärungen oder Analysen geliefert. Es wird also nicht gesagt „Das war ein Foul, weil der eine Spieler den anderen getreten hat, dabei aber nicht den Ball gespielt hat“. Wie oben erläutert, verbessern sich intuitive Entscheidungen, indem Menschen Erfahrungen mit diesen Entscheidungen machen und wissen, ob sie richtig oder falsch entschieden haben. Erklärungen oder Begründungen sind dabei jedoch nicht erforderlich. Die Teilnehmer sind schließlich erfahrene Schiedsrichter, sie kennen die Regeln und Entscheidungsgrundlagen in- und auswendig. Es geht nicht mehr darum, ihnen zu erklären, was sie warum entscheiden sollen. Es geht vielmehr darum, sie den Entscheidungsprozess an sich trainieren zu lassen. Erinnern Sie sich an den Fahranfänger aus dem obigen Beispiel: Es nutzt nichts, ihm die Verkehrsregeln zu erläutern. Um ein guter Autofahrer zu werden, muss er Fahrpraxis sammeln.

Evaluation von SET

Das Schiedsrichter-Entscheidungs-Training SET wurde in einer Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen evaluiert (Schweizer, Brand, Plessner, & Kahlert, 2010). Die Entwickler wollten empirische Belege dafür finden, dass das Training auch tatsächlich funktioniert und heraus finden, welche Trainingsbedingungen der Lernleistung besonders förderlich sind. Verschiedene Trainingsbedingungen wurden hypothesengeleitet gegeneinander getestet. Das bedeutet, die Entwickler hatten vor Studienbeginn Annahmen darüber, welche Bedingung am besten funktionieren sollte. Diese Annahmen waren aus bestehenden Modellen und Befunden aus der Entscheidungs- und Schiedsrichterforschung abgeleitet. Die Evaluationsuntersuchungen liefen stets nach einem ähnlichen Muster ab. Zu Beginn der Studie nahmen alle Teilnehmer an einem so genannten Vortest teil. Dieser diente dazu, die Ausgangsleistung der Teilnehmer vor dem Training festzustellen. Der Vortest bestand aus 40 Szenen (20 Foul und 20 Nicht-Foul), die den Teilnehmern online dargeboten wurden. Die Teilnehmer mussten zu allen Szenen Entscheidungen abgeben, erhielten jedoch kein Feedback zu diesen. Daraufhin folgte eine Trainingsphase. Meistens dauerte die Trainingsphase circa drei Wochen. Während dieser Zeit nahmen die Teilnehmer an sieben Trainingssitzungen mit je 20 bis 25 Videos teil. Nach der Trainingsphase folgte ein Nachtest um festzustellen, wie sich die Leistung der Teilnehmer im Laufe des Trainings verändert hatte. Der Nachtest bestand aus den gleichen Szenen wie der Vortest. Für die Trainingsphase wurden die Teilnehmer zufällig auf verschiedene Gruppen zugeteilt, so genannte Kontroll- und Experimentalgruppen. In den Experimentalgruppen wurden verschiedene Trainingsbedingungen gegeneinander getestet, um die effektivsten heraus zu finden. In einer Studie nahm eine Gruppe nur am Vor- und Nachtest teil ( Kontrollgruppe), eine Gruppe nahm am Training teil und erhielt ein Feedback direkt nach jeder Entscheidung (Sofortiges-Feedback-Gruppe) und eine weitere Gruppe nahm am Training teil, bekam aber immer erst am Ende jeder Trainingssitzung Feedback (Verzögertes-Feedback-Gruppe). Die Autoren der Studie nahmen an, dass die Mitglieder der Sofortiges-Feedback-Gruppe sich verbessern würden, die Mitglieder der Verzögertes-Feedback-Gruppe und der Kontroll-Gruppe jedoch nicht. Diese Annahmen konnten bestätigt werden.

In zwei weiteren Studien wurde getestet, ob die Lernerfolge noch gesteigert werden können, wenn die Teilnehmer die Videos nicht nur einmal (wie in der ersten Studie), sondern mehrfach sehen. Wieder wurden drei Gruppen gebildet: Eine Kontrollgruppe, eine Wiederholungsgruppe und eine Standard-Trainingsgruppe. Die Mitglieder der Wiederholungsgruppe sahen ein Video, gaben ihre Entscheidung ab, erhielten Feedback und sahen danach das Video nochmals. Die Mitglieder der Standard-Trainingsgruppe erhielten keine Wiederholung des Videos. Man könnte vermuten, dass die Mitglieder der Wiederholungs-Gruppe mehr lernen als die der Standard-Trainingsgruppe: Wiederholung von Lernmaterial ist schließlich eine häufige Lehr- Lernmethode. Tatsächlich nahmen die Autoren der Studie jedoch an, dass die Mitglieder der Wiederholungsgruppe nicht mehr lernen sollten als die Mitglieder der Standard-Trainingsgruppe: Entscheidend für das Erlernen von Intuitionen ist das Treffen von Entscheidungen und Feedback zu dieser Entscheidung, Wiederholungen sind nicht erforderlich. Auch diese Annahme konnte bestätigt werden: Die Mitglieder der Wiederholungsgruppe und der Standard-Trainingsgruppe verbesserten sich im Laufe des Trainings, die Mitglieder der Kontrollgruppe jedoch nicht. Dabei lernten die Mitglieder des Wiederholungsgruppe nicht mehr als die der Standard-Trainingsgruppe. Der letzte Befund muss jedoch vorsichtig interpretiert werden: Er bedeutet nicht, dass Wiederholungen grundsätzlich unsinnig sind, sondern nur, dass beim vorliegenden Trainingsszenario Wiederholungen keinen besseren Lernerfolg erzielten als einfache Darbietung.

Das Schiedsrichter-Entscheidungs-Training: Erstes Fazit und Ausblick

Die bislang durchgeführten Studien lassen den Schluss zu, dass Teilnehmer an SET sich durch das Training verbessern. Diese Lerneffekte sind statistisch wie praktisch bedeutsam, die Mitglieder der Trainingsgruppen machen im Nachtest durchschnittlich zwischen 20% und 25% weniger Fehler als im Vortest. Darüber hinaus weisen die Lernerfolge Muster auf, die mit den bestehenden Modellen und empirischen Befunden zum Thema Intuition in Einklang stehen. Eine derzeit noch offene Frage ist, ob die Lernerfolge, die im Online-Training erzielt werden, sich auch auf die tatsächliche Leistung bei der Leitung eines echten Fußballspiels auswirken. Die Entwickler sind jedoch zuversichtlich, diese und andere noch offene Fragen in naher Zukunft klären zu können. Denn die Entwicklung des Schiedsrichter-Entscheidungs-Trainings SET ist keineswegs abgeschlossen. So wurde im Jahr 2009 das Trainingsprogramm an die Bedürfnisse von Basketball-Schiedsrichtern angepasst. Damit sind einerseits weitere wissenschaftliche Untersuchungen möglich. Andererseits soll SET im Basketball bald standardmäßig als Teil des regulären Weiterbildungs-Programms für Schiedsrichter eingesetzt werden. SET ist somit ein gutes Beispiel für eine erfolgreiche Verbindung von Grundlagenforschung und angewandter Psychologie. Konzepte, Modelle und Befunde aus Sozialpsychologie und Entscheidungsforschung wurden aufgegriffen, um ein praktisch nutzbares Trainingsprogramm zu entwickeln und zu evaluieren. Umgekehrt ist es aber auch denkbar, dass Studienergebnisse, die mit SET erzielt werden, unser grundlegendes Verständnis von Entscheidungsprozessen verbessern können.

Literaturverzeichnis

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  • Unkelbach, C., & Memmert, D. (2010). Crowd noise as a cue in referee decisions contributes to the home advantage. Manuscript submitted for publication.

Author Note

SET wurde entwickelt im Rahmen eines Forschungsprojekts, das gemeinsam vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft und vom Deutschen Fußball-Bund gefördert wurde (IIA1-071017/06-08). SET wurde von Benno Bartels von der InsertEFFECT Bartels Kavasoglu Robledo GbR in Nürnberg programmiert.

Die Autoren danken zwei anonymen Gutachter(inne)n für wertvolle Hinweise zur Verbesserung des Manuskripts.

Autor*innen