Sind wir denn alle zusammen Feiglinge? Warum niemand im Beisein anderer helfend eingreift

Dieser Beitrag wurde zunächst in englischer Sprache in der englischsprachigen Ausgabe (10/2013, Ausgabe 18) des In-Mind Magazins veröffentlicht.

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Gerät ein Mensch in eine Notlage, so ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass ihm ein anderer Mensch hilft. Ist der Mensch also herzlos oder ist dieses Verhalten auf andere Faktoren zurückzuführen? In der Wissenschaft wird dieses Verhalten inzwischen mit dem sogenannten Bystander Effekt (der Mensch hält sich heraus, er kann sich nicht dazu durchringen einzugreifen) erklärt; zudem gibt es durchaus Möglichkeiten, diesen Effekt abzumildern.

Gerät ein Mensch in eine Notlage, so ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass ihm ein anderer Mensch hilft. Bild: ptrabattoni via pixabay (https://pixabay.com/de/obdachlose-nächstenliebe-schlecht-212591/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Gerät ein Mensch in eine Notlage, so ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass ihm ein anderer Mensch hilft. Bild: ptrabattoni via pixabay (https://pixabay.com/de/obdachlose-nächstenliebe-schlecht-212591/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Gerät ein Mensch in eine Notlage, so ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass ihm ein anderer Mensch hilft. Ist der Mensch also herzlos oder ist dieses Verhalten auf andere Faktoren zurückzuführen? In der Wissenschaft wird dieses Verhalten inzwischen mit dem sogenannten Bystander Effekt (der Mensch hält sich heraus, er kann sich nicht dazu durchringen einzugreifen) erklärt; zudem gibt es durchaus Möglichkeiten, diesen Effekt abzumildern.

Im Café Moto im New Yorker Vorort Brooklyn war eines Montagabends viel los. Der Verkehr brauste vorbei und ständig kamen neue Gäste. Im Restaurant finden 35 Gäste Platz; an diesem Tag war es jedoch voller als sonst. Die Gäste waren gerade beim Abendessen in diesem antik eingerichteten Restaurant; Lammrippchen, Miesmuscheln und hausgemachter Kuchen fanden reißenden Absatz. Und immer wenn ein Zug vorbeirauschte, ging der Geräuschpegel nach oben.

Plötzlich passierte etwas Außergewöhnliches: Ein lauter Knall war im gesamten Restaurantbereich zu hören. Später erklärte die Bedienung, sie habe den Knall eines Feuerwerkskörpers vernommen, sie sei jedoch zu beschäftigt gewesen, um dem Ursprung des Knalls nachzugehen. Ein Mann, der an der Bar stand, wandte sich an den Bassisten neben ihm. „Das hörte sich ja nach Gewehrschüssen an.“ Der Bassist nickte zustimmend. Jedem war klar, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, allerdings reagierte niemand. Niemand stieß einen Schrei aus und niemand rannte zum Fenster. Im Augenwinkel machte jemand eine Beobachtung und sah jemanden vorbeihuschen, der sich das Bein hielt. Ms Dobson, die Woche für Woche im Restaurant Musik macht, nahm die Gitarre und begann wieder zu spielen. Sie konnte nicht glauben, was sie wenige Augenblicke später sehen sollte: Überall in den Straßen standen Krankenwagen, überall war Blaulicht zu sehen. Die Leute standen in Grüppchen zusammen, um zu sehen, was passiert war. Die Polizei sperrte die Gegend mit gelben Bändern ab. Die Polizisten fanden zwei Patronenhülsen, die aus einer neunDie Polizisten fanden zwei Patronenhülsen, die aus einer neun Millimeter-Pistole abgefeuert worden waren. Bild: SoDope via pixabay (https://pixabay.com/de/patrone-hülsen-waffe-geschoss-2813768/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Die Polizisten fanden zwei Patronenhülsen, die aus einer neun Millimeter-Pistole abgefeuert worden waren. Bild: SoDope via pixabay (https://pixabay.com/de/patrone-hülsen-waffe-geschoss-2813768/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de) Millimeter-Pistole abgefeuert worden waren.

Offensichtlich hatte das Ganze nichts mit Feuerwerkskörpern zu tun. Draußen vor der Bar war es unter den Reisenden, die eben mit dem Zug angekommen waren, zu einem Handgemenge gekommen, das außer Kontrolle geraten war. Unter den Reisenden hatte sich ein zehnjähriger Junge befunden, der zum Opfer wurde, da er sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten hatte. Die Gäste in der Bar hatten Recht. Irgendetwas stimmte nicht. Ein Junge war niedergeschossen worden und niemand hatte eingegriffen.

Die meisten von uns finden es seltsam, dass keiner der Anwesenden eingriff. Dies ist jedoch keine Ausnahme, denn in den meisten Fällen werden Leute in Gegenwart ihrer Mitmenschen ausgeraubt, beschimpft oder gar ermordet. Können wir davon ausgehen, dass die Anwesenden unter einem Mangel an Empathie leiden, oder handelt es sich einfach um Feiglinge? Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um Leute wie Du und ich. Psycholog/innen haben herausgefunden, dass es für dieses Phänomen einen ganz anderen Grund gibt, nämlich den sogenannten Bystander Effekt.

Der Bystander Effekt

Der sogenannte Bystander Effekt hat mit der Tatsache zu tun, dass Menschen mit geringerer Wahrscheinlichkeit dazu neigen, in einer Notsituation zu helfen, wenn noch weitere Menschen zugegen sind. Eine klassische Studie beleuchtet und erklärt dieses Phänomen. Die Testpersonen wurden gebeten, in Einzelkabinen Platz zu nehmen, von wo aus sie mit anderen Testpersonen mittels eines Kommunikationssystems in Kontakt treten konnten. Genau genommen nahm nur eine einzige Testperson an diesem Versuch teil; anstatt der anderen Testpersonen waren lediglich Stimmen von Tonträgern zu hören; darunter war eine Person, die einen epileptischen Anfall erlitt. Die Forscher veränderten die Größe der jeweiligen Diskussionsgruppen: Einige Gruppen bestanden gerade mal aus dem Versuchsteilnehmer und dem „Opfer“, wohingegen andere Gruppen aus den beiden genannten plus einer weiteren Person bestanden (dem sogenannten bystander, dem Beobachter bzw. Passanten). Oder in den Gruppen gab es sogar vier bystanders (Darley & Latané, 1968)

Am Ende eines kurzen Gesprächs hörte der/die echte Versuchsteilnehmer/in durch das Kommunikationssystem, dass ein anderer Versuchsteilnehmer einen epileptischen Anfall erlitten hatte. In diesem Zusammenhang stellt sich folgende Frage: Greift der oder die echte Versuchsteilnehmer/in ein und ruft die Versuchsleitung herbei, oder bleibt er bzw. sie untätig sitzen? In der Versuchsgruppe ohne bystanders griffen 85 % der Testpersonen ein, in der Gruppe mit nur einem bystander waren es nur 62 %, und in der Gruppe mit vier bystanders schlugen gerade mal 31 % der Versuchspersonen Alarm. Darley und Latané (1968) kamen zu der Die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Einzelperson zu Hilfe eilt, nimmt ab, wenn noch weitere Personen anwesend sind. Bild: Pankgraf via pixabay (https://pixabay.com/de/waden-beine-menschen-anstehen-540519/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Einzelperson zu Hilfe eilt, nimmt ab, wenn noch weitere Personen anwesend sind. Bild: Pankgraf via pixabay (https://pixabay.com/de/waden-beine-menschen-anstehen-540519/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Schlussfolgerung, dass die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Einzelperson zu Hilfe eilt, abnimmt, wenn noch weitere Personen anwesend sind. Dies könnte auch der Grund dafür sein, dass im Café Moto niemand eingriff. Allerdings ist die Frage noch nicht beantwortet, warum die Zahl der bystanders die Hilfsbereitschaft der Leute beeinflusst.

Warum wir nicht eingreifen

Wir gehen gemeinhin von der Annahme aus, dass mangelnde Hilfsbereitschaft durch eine gewisse Apathie bzw. eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem Opfer bedingt sei. Ganz im Gegenteil: Leute, die nicht eingreifen, sind gewöhnlich von dem Vorfall in stärkerem Maße betroffen als Leute, die aktiv eingreifen (Darley & Latané, 1968). Eine Person, die Zeuge eines Vorfalls wird, befindet sich in einer Konfliktsituation; dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um eine gefährliche Situation handelt wie zum Beispiel die Schießerei draußen vor der Bar. Der Mensch hat für gewöhnlich rationale und irrationale Ängste hinsichtlich der Auswirkungen eines möglichen Einschreitens. Unter Umständen wird die Person, die einschreitet, ebenso verletzt (Milgram & Hollander, 1964). Andererseits hegen die meisten von uns ein angeborenes Bedürfnis, einem Opfer zu helfen. Was könnte jedoch unsere Bereitschaft zu helfen und unser Bestreben, ein/e wohlmeinende/r Mitbürger/in zu sein, einschränken? Im Folgenden werden drei Möglichkeiten aufgezeigt, warum wir nicht einschreiten, wenn wir einer Problemsituation gegenüberstehen. Wenn wir uns dieser Hemmungen bewusst sind, so kann es uns eher gelingen, in einer künftigen Problemsituation diese Hemmungen auszuschalten.

Wir erkennen die Problemsituation nicht

Natürlich muss man erkennen, dass jemand dringend Hilfe braucht. Hastet man durch eine belebte Straße, so wird man mit geringer Wahrscheinlichkeit erkennen, dass sich ein Mitmensch in einer Notsituation befindet. Etwas ganz Banales (nämlich in Eile zu sein) kann also dafür verantwortlich sein, dass jemand nur mit geringer Wahrscheinlichkeit helfend eingreift. In einer Studie, die dies zeigte, wurden die Versuchspersonen in zwei Gruppen eingeteilt: in eine Gruppe, die in Eile war, und in eine Gruppe, die es nicht eilig hatte. Auf ihrem Weg in ein anderes Gebäude kamen die Versuchspersonen an einem Mann vorbei, der im Eingang lag. Dieser Mann, ein Mitarbeiter des Versuchsleiters, hustete und stöhnte, als die Versuchspersonen an ihm vorbeigingen. 63 % der Versuchspersonen, die nicht in Eile waren, boten diesem Mann ihre Hilfe an. Von den Versuchspersonen, die jedoch einen dringenden Termin hatten, boten lediglich 10 % ihre Hilfe an. Zum Teil mag dies damit zusammenhängen, dass die Mehrheit der in Eile befindlichen Versuchspersonen das vermeintliche Opfer gar nicht wahrnahmen (Darley & Batson, 1973). Selbiges mag für die Kellnerin im Café Moto gelten, die mit dem Bedienen so beschäftigt war, dass sie von der Schießerei gar nichts mitbekam.

Wir schätzen die Situation nicht als Notsituation ein

Selbst wenn jemand eine Notsituation wahrnimmt, mag es vorkommen, dass er oder sie nicht eingreift. Es ist nötig, einen Vorfall bzw. eine Situation als Notsituation zu erkennen; der Mensch ist nämlich nicht immer in der Lage, eine Situation korrekt einzuschätzen. Wenn man sich zum Beispiel in einer Bar aufhält und ein seltsames Geräusch vernimmt, so ist es durchaus wahrscheinlich, dass man davon ausgeht, dass alles in bester Ordnung sei, wenn niemand auf dieses Geräusch reagiert. In diesem Fall verlässt man sich auf die Mitmenschen als Informationsquelle. Die Crux besteht darin, dass jedoch auch die Mitmenschen nicht genau einschätzen können, was tatsächlich vorgefallen ist. Da es sich bei einer Notsituation zumeist um einen plötzlich auftretenden und undurchschaubaren Vorfall handelt, neigen die bystanders typischerweise zur Erstarrung, während sie noch herauszufinden versuchen, was tatsächlich vorgefallen ist. Werfen sie einen Blick auf die übrigen Anwesenden, sehen sie, dass auch diese nicht gerade betroffen reagieren. Dieses Phänomen kennen wir als pluralistische Ignoranz (die Tatsache also, dass die Mehrheit der Leute, die Zeug/innen eines Vorfalls werden, nicht genau beurteilen kann, was eigentlich vorgefallen war). Die bystanders gehen davon aus, dass trotz eines Vorfalls bzw. einer Notsituation alles in Ordnung sei, wenn die übrigen Anwesenden keinerlei Betroffenheit erkennen lassen (Aronson & Akert, 2007). Dies mag auch im Café Moto der Fall gewesen sein, da niemand auf die Gewehrschüsse reagierte und die Anwesenden den Vorfall nicht als Notsituation einschätzten.

Wir fühlen uns nicht zuständig

Nicht jede Notsituation stellt sich für die Passanten als schwer einschätzbar dar. Es gibt durchaus Notsituationen, in denen die Passanten ganz genau wissen, dass etwas vorgefallen ist, wie die beiden Männer in der Bar, die Gewehrschüsse wahrgenommen hatten. Sie eilten jedoch nicht zu Hilfe, wohl weil sie sich nicht in der Verantwortung sahen. Diese Scheu zu helfen kann mit dem Begriff der Verantwortungsdiffusion erklärt werden, also dem Übertragen von Verantwortung von der Einzelperson auf sämtliche Anwesenden. Das Verantwortungsbewusstsein der oder des einzelnen Anwesenden nimmt in dem Maße ab, in dem die Zahl der Anwesenden zunimmt. Die Verantwortung ruht ganz allein auf den Schultern einer oder eines einzigen Anwesenden, sie reduziert sich automatisch mit der Anzahl der Anwesenden. Man kann davon ausgehen, dass die Anwesenden die Gesamtverantwortung unter sich aufteilen; somit verringert sich die Verantwortung, die auf eine Einzelperson entfällt. Somit ist es durchaus möglich, dass die Einzelperson nur eine geringe Verantwortung auf sich lasten und somit keine Veranlassung zum Eingreifen sieht (Aronson & Akert, 2007). Wenn sich jedoch eine Einzelperson einer Notsituation ausgesetzt sieht, so erkennt sie, dass sie die einzige Person ist, die dem Opfer zu helfen vermag; demzufolge greift sie unvermittelt ein. Sind jedoch mehrere Menschen anwesend, reduziert sich die Wahrscheinlichkeit, dass niemand dem Opfer zu Hilfe eilt. Dieses Phänomen kommt sowohl in dem Experiment mit dem epileptischen Anfall zum Tragen als auch im Café Moto: Die Einzelperson geht davon aus, dass einer der Anwesenden bereits helfend eingegriffen habe und dass somit auf ihr keine Verantwortung mehr laste.

Wie können wir die Leute dazu bringen, dass sie helfend eingreifen?

Auch wenn der Mensch nicht ohne Weiteres helfend eingreift, sofern weitere Menschen anwesend sind, gibt es trotzdem Fälle, in denen wir eingreifen. So ist es wahrscheinlicher, dass jemand eingreift, der bereits vom Bystander Effekt gehört hat. Studierende, denen der Bystander Effekt bekannt war, griffen mit größerer Wahrscheinlichkeit helfend ein als Studierende, die noch nie etwas von diesem Phänomen gehört hatten (Beaman, Barnes, Klentz & McQuirk, 1978). Im Folgenden sollen drei Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie der Bystander Effekt vermindert werden kann. Somit könnte jeder bzw. jedem von uns geholfen werden, die bzw. der sich einmal in einer Opferrolle wiederfindet und dringend Hilfe benötigt.

Uns muss klar sein, was genau vorgeht

Es wäre nützlich, wenn das Opfer den Anwesenden die Dringlichkeit der Situation klarmachte, denn die Wahrscheinlichkeit des Eingreifens hängt unter anderem auch davon ab, ob den anwesenden Personen bzw. den Passierenden klar ist, was in einer bestimmten Situation vorgeht. Zum Beispiel greifen die Anwesenden eher ein, wenn sie wissen, dass ein Fremder eine Frau schlägt, als wenn sie davon ausgehen, dass es sich um den Ehemann handelt. Dies hängt damit zusammen, dass die Anwesenden dies als Privatangelegenheit abtun und diese Interpretation als Ausrede dafür geltend machen, nicht einzugreifen. Der Mensch neigt zu der Annahme, dass es sich bei dem Aggressor um den Ehemann handle und somit kein Anlass zum Eingreifen bestehe (Felson & Feld, 2009). Als weiteres Beispiel seien hier die beiden Jungen angeführt, die den zweieinhalbjährigen James Bulger in Anwesenheit von Menschen ermordeten, die durchaus hätten eingreifen können. Später erklärten die Anwesenden, dass sie den Ernst der Lage nicht erkannt hatten. Zudem hätten sie nicht eingegriffen, da sie der Annahme waren, die Jungen seien Geschwister. Die Tatsache, dass sie die drei Jungen als Mitglieder ein und derselben Familie betrachteten, mag dafür verantwortlich sein, dass die Anwesenden in ihrer Rolle als Außenseiter sich nicht zum Eingreifen veranlasst sahen. (Levine, 1999). Dies deckt sich mit einer weiteren Erkenntnis: Die Anwesenden sind eher geneigt einzugreifen, wenn das Opfer zur gleichen sozialen Gruppe wie sie gehört und nicht aus einer ganz anderen sozialen Gruppe stammt (Levine, Prosser & Evans, 2005). Egal aus welchem Grund jedoch in den genannten Beispielen nicht eingegriffen wurde, ein Passant oder eine Passantin hätte den Opfern vielleicht geholfen, falls die gesamte Situation klarer gewesen wäre. Dadurch hätten sich irrige Interpretationen auf Seiten der Passierenden vermeiden lassen können; und die Passierenden hätten letztlich mit größerer Wahrscheinlichkeit eingegriffen.

Wir müssen persönlich angesprochen werden

Des Weiteren wäre es ratsam, einen der Passierenden persönlich anzusprechen, wenn man Hilfe braucht. Man ist eher geneigt zu helfen, wenn ein Opfer einen persönlich anspricht (Shaffer, Rogel & Hendrick, 1975). Es ist ratsam, einen der Passierenden persönlich anzusprechen, wenn man Hilfe braucht. Bild: RegioTV via pixabay (https://pixabay.com/de/zeigen-hand-gestik-freigestellt-244359/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Es ist ratsam, einen der Passierenden persönlich anzusprechen, wenn man Hilfe braucht. Bild: RegioTV via pixabay (https://pixabay.com/de/zeigen-hand-gestik-freigestellt-244359/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Eine weitere Untersuchung bestätigt dieses Ergebnis. Zwei frei erfundene Personen baten die Teilnehmenden eines Chats um Hilfe: „Kann mir einer sagen, wie ich das Profil von jemand Bestimmtem aufrufen kann?“, oder indem sie einzelne Teilnehmende herausgriffen und diese mit Namen ansprachen. Sprachen sie jemanden persönlich an, so wurde die Wirkung, die durch die Anzahl der Passierenden zustande kommt, noch übertroffen. Diese Untersuchung mag zwar sehr simpel sein, sie zeigt jedoch in aller Deutlichkeit, dass das direkte Ansprechen von Passierenden die Leute wohl dazu bringt, Hilfe zu leisten. Wenn Sie sich also in einer Situation befinden, in der Sie sofort Hilfe benötigen, sind Sie gut beraten, zum Beispiel diese eine bestimmte Person mit dem königsblauen Poloshirt anzusprechen.

Wir brauchen eine Veranlagung helfend einzugreifen

Befindet man sich in einer Notlage, so stellt sich die Frage, welcher Passierende am ehesten zu Hilfe eilen wird. Huston, Ruggiero und Geis (1981) befragten 32 Personen, die in gefährlichen Fällen wie zum Beispiel bei tätlichen Übergriffen, bewaffneten Raubüberfällen und Banküberfällen geholfen hatten. Sie verglichen die Gruppe von „Eingreifern“ mit einer Gruppe von „Nicht-Eingreifern“. Die Eingreifer berichteten, dass sie in ihrem Leben – im Vergleich mit den Nicht-Eingreifern – schon mehr Notfälle und Situationen erlebt hätten, in denen sie selbst in der Rolle des Opfers waren. Als deutlichster Unterschied zwischen den beiden Gruppen kristallisierte sich heraus, dass sie bereits Erfahrung im Helfen hatten (Huston et al., 1981). Leute, die Erfahrung im Erste-Hilfe-Leisten, im Retten von Leben oder eine medizinische oder Polizeiausbildung hatten, waren eher bereit, in Notsituationen zu helfen. Dies galt auch in den Fällen, in denen die konkrete Ausbildung in der bewussten Notsituation nicht zur Anwendung gelangen konnte. Zum Beispiel waren die Leute, die eine Ausbildung als Sanitäter/in hatten, eher bereit, in Situationen zu helfen, die keinen medizinischen Notfall darstellten. Die Forschenden kamen zu der Schlussfolgerung, dass die Ausbildung die Eigenwahrnehmung der eingreifenden Person als jemand, der anderen zu helfen in der Lage ist, verstärkte. Die eingreifenden Personen wiesen im Vergleich zu den nicht eingreifenden Personen auch andere körperliche Charakteristika auf. Sie waren größer und auch ein paar Kilo schwerer als die nicht eingreifenden Personen. Dieser Studie zufolge wäre es also am geschicktesten, diejenigen Passierenden anzusprechen, die für den Einsatz in Notsituationen ausgebildet sind. Und wenn einem diese Informationen nicht verfügbar sind, wäre es das Beste, sich an den oder die größte/n und kräftigste/n Passierende/n zu wenden (Huston et al., 1981).

Schluss

Das Nicht-Eingreifen in Notsituationen kann nicht einfach mit einer lethargischen Veranlagung bzw. mit Gleichgültigkeit erklärt werden. Je größer die Zahl der Leute, die eingreifen könnten, desto geringer fällt die Bereitschaft zu helfen aus. Obwohl die Zahl der Passierenden eine deutliche Auswirkung auf die Hilfsbereitschaft hat, ist es wohl möglich, diesen Zusammenhang zu umgehen, indem man geschickte Interventionsstrategien anwendet. Die Kenntnis derselben ist nützlich, wenn man sich einmal in der Rolle der oder des Passierenden befindet, der zum Eingreifen bereit ist, oder wenn man sich selbst in der Rolle des Opfers befindet und dringend Hilfe benötigt. Drei nützliche Möglichkeiten des Eingreifens wurden oben für beide Situationen beschrieben. Zum Ersten können wir besser eingreifen, wenn wir Notsituationen dadurch erkennen, dass wir mitbekommen, was um uns herum alles abläuft (Darley & Batson, 1973). Zum Zweiten können wir besser eingreifen, wenn wir nicht einfach davon ausgehen, dass die Reaktionen der Mitmenschen eine Notsituation wahrheitsgemäß widerspiegeln (Aronson & Akert, 2007). Zum Dritten können wir besser eingreifen, wenn wir uns klarmachen, dass wir die Verantwortung haben, anderen zu helfen, selbst wenn noch weitere Personen zugegen sind (und somit den Effekt der Verantwortungsdiffusion vermeiden; cf. Darley & Latané, 1968).

Es könnte jedoch noch wichtiger sein, die Mitmenschen dazu zu bewegen, den Bystander Effekt auszuschalten, wenn wir uns selbst in einer misslichen Lage befinden. Erstens können wir eher Hilfe erhalten, wenn wir die Passierenden auf die konkrete Notsituation aufmerksam machen (Felson & Feld, 2009). Zweitens können wir den Bystander Effekt bei unseren Mitmenschen eher ausschalten, wenn wir sie einzeln ansprechen und bei ihnen dadurch ein Verantwortungsbewusstsein erzeugen (Shaffer et al., 1975; Markey, 2000). Drittens können wir die Wahrscheinlichkeit, dass uns geholfen wird, vergrößern, wenn wir den oder die größte/n und kräftigste/n Passierende/n ansprechen (Huston et al., 1981).

Sind wir also allesamt Feiglinge?

Das ist unter Umständen der Fall; dies gilt jedoch hoffentlich nicht mehr nach der Lektüre dieses Beitrags. Es scheint mehrere Möglichkeiten zu geben, ein/e bessere/r Helfer/in in einer Notsituation zu werden; zudem gibt es mehrere Kniffe, mit denen man Passierende zum Helfen animieren kann. Die hier vorgestellten Vorschläge, wie man eine passierende Person dazu bringt, einem zu helfen, klingen relativ simpel; wenn man sich allerdings gut damit auskennt, können sie Leben retten.

Referenzen

Aronson,E. & Akert, R.M. (2007). Social psychology. London, UK: Pearson.

Beaman, A., Barnes, P. J., Klentz, B. & McQuirk, B. (1978). Increasing helping rates through information dissemination: Teaching pays. Personality and Social Psychology Bulletin, 4, 406-411.

Darley, J. M. & Batson, C. D. (1973). ‘From Jerusalem to Jericho': A study of situational and dispositional variables in helping behavior. Journal of Personality and Social Psychology, 1, 100-108

Darley, J. M. & Latané, B. (1968). Bystander intervention in emergencies: Diffusion of responsibility. Journal of Personality and Social Psychology, 8, 377-383.

Felson, R. B. & Feld, S. L. (2009). When a man hits a woman: Moral evaluations and reporting violence to the police. Aggressive Behavior, 35, 477-488.

Huston, T. L., Ruggiero, M., Conner, R. & Geis, G. (1981). Bystander intervention into crime: A study based on naturally-occurring episodes. Social Psychology Quarterly, 1, 14-23.

Latané, B. & Darley, J. M. (1970). The unresponsive bystander: Why doesn’t he help? New York, NY: Appleton-Century-Croft.

Levine, M. (1999). Rethinking bystander nonintervention: Social categorization and the evidence of witnesses at the James Bulger murder trial. Human Relations, 52, 1133-1155.

Levine, M., Prosser, A., Evans, D. & Reicher, S. (2005). Identity and emergency intervention: How social group membership and inclusiveness of group boundaries shape helping behavior. Personality and Social Psychology Bulletin, 31, 443-453.

Markey, P. M. (2000). Bystander intervention in computer-mediated communication. Computers in Human Behavior, 2, 183-188.

Milgram, S. & Hollander, P. (1964). Murder they heard. Nation, 198, 602-604.

Shaffer, D. R., Rogel, M. & Hendrick, C. (1975). Intervention in the library: The effect of increased responsibility on bystanders’ willingness to prevent theft. Journal of Applied Social Psychology, 5, 303-319.

 

 

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