Sind wir neutrale BeobachterInnen? – Warum wir das gleiche Verhalten bei Linda und Kemal unterschiedlich verstehen.

Wir beobachten ständig, wie andere Menschen sich verhalten – und erschließen daraus ihre vermeintlichen Ziele, Überzeugungen oder Eigenschaften. Doch noch bevor wir das Verhalten einer Person beobachten, ordnen wir sie häufig sozialen Kategorien zu. Wenn wir eine Person dabei nicht als Mitglied unserer eigenen Gruppe, sondern als Teil der “Anderen” verstehen, dann beeinflusst dies unser Verständnis ihres Verhaltens – oftmals zu ihrem Nachteil. Wir beschreiben in diesem Artikel, inwiefern wir aufgrund sozialer Kategorisierung häufig weniger neutrale BeobachterInnen sind als gedacht.

Bild 1: Wir beobachten ständig das Verhalten anderer und werden ebenso von anderen beobachtet. Doch wie neutral sind wir, wenn wir unsere Verhaltensweisen gegenseitig interpretieren?Bild 1: Wir beobachten ständig das Verhalten anderer und werden ebenso von anderen beobachtet. Doch wie neutral sind wir, wenn wir unsere Verhaltensweisen gegenseitig interpretieren?

Ob wir gerade von einem Abend bei FreundInnen zurückkommen oder die neueste Folge unser liebsten Reality-Show im Fernsehen ansehen – wer stellt sich nicht hin und wieder die Frage, warum sich jemand ausgerechnet so verhalten hat, wie er oder sie es nun eben getan hat? Wenn wir das Verhalten unserer Mitmenschen beobachten, versuchen wir häufig, ihm Sinn zu entnehmen. Wir fragen uns, was die Ursache für ein Verhalten war oder ob wir selbst genauso gehandelt hätten. Auch wenn uns die Antworten auf diese Fragen mitunter eindeutig erscheinen, ist deren Beantwortung keineswegs eine triviale Aufgabe. Verhalten ist häufig mehrdeutig – unter anderem weil wir selten im Detail wissen in welcher persönlichen Situation sich die handelnde Person befand und schlichtweg nicht in ihren Kopf hineingucken können. Um eine Verhaltensweise zu verstehen, müssen wir sie deshalb auf sinnvoll erscheinende Ursachen attribuieren (siehe Attributionen).

Diese Mehrdeutigkeit von Verhalten eröffnet Spielraum für ein verzerrtes Verständnis Anderer: Selbst, wenn wir davon überzeugt sind, völlig neutral die einzig sinnvolle Schlussfolgerung aus einem beobachteten Verhalten zu ziehen, können bestimmte Faktoren unser Urteil ungerechtfertigterweise in die eine oder andere Richtung lenken. Ein besonders relevanter Faktor ist hierbei, ob wir die Person zuvor als Mitglied unserer Eigengruppe (also einer Gruppe, der wir uns zugehörig fühlen) oder einer Fremdgruppe identifiziert haben.

In diesem Artikel beschreiben wir, wie wir das Verhalten Anderer unter mehr oder weniger neutralen Bedingungen verstehen, wie soziale Kategorisierung in Eigen- und Fremdgruppen unser Verständnis verzerrt und was wir dagegen tun können.

Wie wir das Verhalten Anderer unter neutralen Bedingungen verstehen

Stellen Sie sich vor, Sie sehen, wie die Ihnen unbekannte Linda mit dem Handrücken eine teure Vase vom Esstisch pfeffert. Wenn Sie lediglich dieses Verhalten beobachten, was kommt Ihnen dann in den Sinn? Ist Linda tollpatschig? Oder ist Linda Bild 2: Ein Verhalten kann oft auf sehr vielfältige Art und Weise interpretiert werden. Zentral für unsere Interpretation ist oft die Frage danach, ob eine Handlung mit Absicht ausgeführt wurde.Bild 2: Ein Verhalten kann oft auf sehr vielfältige Art und Weise interpretiert werden. Zentral für unsere Interpretation ist oft die Frage danach, ob eine Handlung mit Absicht ausgeführt wurde.aggressiv? Die beiden Optionen unterscheiden sich in einer für unser Verständnis des Verhaltens zentralen Hinsicht, nämlich der Zuschreibung von Intentionalität: Wenn wir Linda für aggressiv halten, dann, weil wir glauben, dass sie willentlich die Vase zerstört hat. Wenn wir sie für tollpatschig halten, dann, weil wir glauben, dass es ein Versehen war. Ob wir ein Verhalten für intentional halten, hat also große Auswirkungen auf dessen Interpretation. Wenn wir wohlüberlegt entscheiden sollen, ob ein Verhalten als intentional anzusehen ist oder nicht, stützen wir uns auf eine Vielzahl von Informationen: Wir unterstellen Linda Intentionalität, wenn wir glauben, dass sie erstens dazu in der Lage war, das Verhalten auszuführen, zweitens überzeugt war, damit ein angestrebtes Ziel erreichen zu können, und sie sich drittens der Verhaltensausführung bewusst war (Malle & Knobe, 1997). Im Alltag führen wir jedoch selten solch komplexe Analysen durch, sondern basieren unsere spontanen Zuschreibungen von Intentionalität oft auf einfachen Hinweisen – im Falle einer Verhaltensbeschreibung zum Beispiel auf dem verwendeten Verb (Malle, 2002). So erscheint Lindas Verhalten möglicherweise stärker beabsichtigt, wenn sie die Vase vom Tisch pfeffert als wenn sie die Vase vom Tisch wischt.

Von unserer Zuschreibung von Intentionalität hängt ab, welche Arten von Erklärungen für das Verhalten in Frage kommen: Unabsichtliches Verhalten auf der einen Seite erklären wir normalerweise entweder über Eigenschaften der Person (internal, z. B. „Linda ist tollpatschig”) oder der Situation (external, z. B. „Die Vase stand zu nah am Rand”). Intentionales Verhalten auf der anderen Seite erklären wir nicht nur durch Eigenschaften der Situation und Eigenschaften der Person (hier z. B. “Linda ist aggressiv”), sondern oft auch indem wir versuchen, uns in sie hineinzuversetzen. Das heißt, wir versuchen, Ziele oder Überzeugungen abzuleiten, die zu der Intention geführt haben, das Verhalten auszuführen (Reeder, 2009).

All diese Ursachen – Persönlichkeitseigenschaften, situative Faktoren, Ziele und Überzeugungen – können wir auch völlig spontan schlussfolgern, also selbst, wenn wir gar nicht die Absicht haben, dies zu tun, und nicht selten ohne es zu bemerken (Uleman, Saribay, & Gonzalez, 2008). Selbst solche spontanen Rückschlüsse auf Personeneigenschaften  können aber bedeutsame Folgen nach sich ziehen. Haben wir beispielsweise erst einmal spontan eine Persönlichkeitseigenschaft über eine Person geschlussfolgert, so erwarten wir, dass sie auch zukünftig dieser Eigenschaft entsprechendes Verhalten zeigen wird – selbst, wenn wir uns gar nicht mehr an das ursprüngliche Verhalten erinnern (McCarthy & Skowronski, 2011). Wenn wir also zum Beispiel Linda nach dem Vorfall mit der Vase als aggressiv ansehen, werden wir auch in Zukunft eher cholerische Reaktionen von ihr erwarten – auch, wenn wir den Vorfall mit der Vase gar nicht mehr im Gedächtnis haben. Eine spontane Zuschreibung unerwünschter Eigenschaften kann also Nachteile für eine Person mit sich bringen, nämlich dann, wenn diese (potentiell negative) Zuschreibung ungerechtfertigt ist, weil das Verhalten zum Beispiel ganz andere Gründe hatte.

Nichtsdestotrotz nutzen Menschen häufig stabile Eigenschaften der handelnden Person als Erklärung für ihr Verhalten – selbst wenn plausible Alternativerklärungen verfügbar sind. Diese Tendenz wird als Korrespondenzverzerrung  bezeichnet (Gawronski, 2004). Beispielsweise würde sich die Korrespondenzverzerrung darin ausdrücken, dass wir Linda aufgrund des Vorfalls mit der Vase Aggressivität zuschreiben, selbst, wenn wir wüssten, dass ihr zuvor etwas passiert ist, das jede Person zu diesem Verhalten veranlasst hätte. Diese verzerrte Interpretation scheint interessanterweise nicht daran zu liegen, dass wir nicht an einen großen Einfluss der Situation auf unser Verhalten glauben und uns situative Erklärungen nicht in den Sinn kommen. Ganz im Gegenteil, eine Studie hat gezeigt, dass wir situative Erklärungen zeitgleich mit Persönlichkeitseigenschaften schlussfolgern können (Todd, Molden, Ham & Vonk, 2011). Vielmehr scheint die Korrespondenzverzerrung in der Eindrucksbildung dann aufzutreten, wenn wir diese uns bekannten situativen Alternativerklärungen nicht anwenden. Die Anwendung würde nämlich in vielen Fällen Motivation fordern, welche wir aber häufig nicht aufbringen können (Gawronski, 2004).

Soziale Kategorien verzerren unser Verständnis vom Verhalten Anderer

Wie wir gesehen haben, ist die Bandbreite an möglichen Attributionen eines Verhaltens sehr groß: Uns kommen leicht situative Faktoren, Ziele, Überzeugungen oder Persönlichkeitseigenschaften in den Sinn, die eine Verhaltensweise erklären könnten. Bei der Auswahl einer Erklärung können uns aber Fehler unterlaufen, etwa, dass wir eine Verhaltensweise ungerechtfertigterweise auf eine Persönlichkeitseigenschaft zurückführen und uns daher unfairerweise einen bestimmten Eindruck über eine Bild 3: Fühlen wir uns einer Gruppe zugehörig, sind wir bestrebt, diese positiv zu verstehen und darzustellen. Wir ziehen dadurch häufig komplexere Erklärungen von Verhalten in Betracht.Bild 3: Fühlen wir uns einer Gruppe zugehörig, sind wir bestrebt, diese positiv zu verstehen und darzustellen. Wir ziehen dadurch häufig komplexere Erklärungen von Verhalten in Betracht.Person bilden ( Korrespondenzverzerrung ). Solche Fehler haben dann besondere Relevanz, wenn sie uns nicht nur zufällig unterlaufen, sondern systematisch – wir also vorrangig bestimmte Menschen ungerechtfertigterweise auf Basis ihres Verhaltens beurteilen. Tatsächlich kann unser Verständnis Anderer stark davon abhängig sein, in welche sozialen Kategorien  wir sie eingeordnet haben – ob wir ihnen also zum Beispiel auf Basis ihres Aussehens, Gesichtes, Kleidungsstils oder Namens ein bestimmtes Geschlecht oder Alter, eine Ethnizität oder einen sozioökonomischen Status zugeschrieben haben. 

Für unser Verständnis anderer Personen ist es dabei besonders relevant, ob wir uns diesen sozialen Kategorien selbst auch zugehörig fühlen – es sich also um eine Eigengruppe  oder eine Fremdgruppe  handelt. Wenn sich eine Person als deutsche Frau identifiziert und Linda aufgrund ihres Namens ebenfalls als deutsche Frau kategorisiert, dann zählt diese Person Linda zu ihrer Eigengruppe und Kemal zu ihrer Fremdgruppe. Wenn sich eine Person hingegen als türkischer Mann identifiziert und Kemal als türkischen Mann kategorisiert, dann zählt sie Kemal zu ihrer Eigengruppe und Linda zu ihrer Fremdgruppe.

Laut der Theorie der Sozialen Identität (Tajfel & Turner, 1979) identifizieren wir uns mit “unserer” Eigengruppe, und sind daher motiviert, ihr eher positive Eigenschaften, der Fremdgruppe hingegen eher negative Eigenschaften zuzuschreiben. Dieser Prozess kann auch Attributionen auf Grundlage von Verhalten verzerren, wie eine Studie belegt, bei der Vorgesetzte und untergebene Angestellte aus verschiedenen Unternehmen befragt wurden (Vonk & Konst, 1998). Den Teilnehmenden wurden Informationen über Verhaltensweisen einer unbekannten Person (z. B. “M. kam zu spät zum Meeting”) zusammen mit situativen Begründungen (z. B. “M. wurde nicht rechtzeitig Bescheid gegeben”) oder personenbedingten Begründungen für das Verhalten (z. B. “M. hatte die Zeit vergessen”) präsentiert. Die Teilnehmenden bezogen diese Begründungen in die Beurteilung von M. ein, indem sie M. entsprechend positiver bewerteten, wenn es eine situative Erklärung für das negative Verhalten gab – allerdings nur, wenn die Zielperson der Eigengruppe angehörte. Für Fremdgruppenmitglieder machten sie sich hingegen nicht die Mühe, diese Begründungen miteinzubeziehen, und bewerteten M. deshalb unabhängig von der Begründung des negativen Verhaltens schlecht. Bei positivem Verhalten zeigte sich der gegenteilige Effekt, also, dass situative Erklärungen bei der Beurteilung von Fremdgruppenmitgliedern, nicht aber von Eigengruppenmitgliedern einbezogen wurden.Bild 4: Ob wir in einem Meeting die situative Erklärung für das Zuspätkommen einer Person berücksichtigen, kann davon abhängen, ob wir die Person als Teil “unserer” Gruppe oder einer “anderen” Gruppe kategorisiert haben. Bild 4: Ob wir in einem Meeting die situative Erklärung für das Zuspätkommen einer Person berücksichtigen, kann davon abhängen, ob wir die Person als Teil “unserer” Gruppe oder einer “anderen” Gruppe kategorisiert haben.

Ähnlich würden wir mit hoher Wahrscheinlichkeit das Zerschmettern der Vase nicht auf eine negative Eigenschaft wie Aggressivität zurückführen, wäre es uns selbst oder einem Mitglied unserer Eigengruppe passiert. In diesem Fall wären wir motiviert, nachvollziehbare situative Gründe für das Verhalten zu finden, um unsere Eigengruppe vorteilhaft darzustellen. So würde unter diesen Umständen vermutlich keine Korrespondenzverzerrung auftreten.  Bei Fremdgruppenmitgliedern hingegen wären wir geneigter, negative Verhaltensweisen mit stabilen Eigenschaften zu begründen. Diese Tendenz gilt in umgekehrter Weise für positive Eigenschaften und wird auch als Intergruppen-Attributionsverzerrung  bezeichnet (Hewstone, 1990). Neuere Forschungsarbeiten weisen darauf hin, dass wir soziale Kategorien wahrscheinlich besonders dann in unser Verständnis von Verhalten einbeziehen, wenn dieses allein nicht besonders aussagekräftig und informativ ist, also Spielraum für Verzerrungen lässt (vgl. Rubinstein, Jussim & Stevens, 2018).

Zudem hat die soziale Gruppenzugehörigkeit nicht nur einen Einfluss darauf, wie wir das Verhalten unseres Gegenübers verstehen, sondern auch darauf, wie wir es beschreiben. So wurden Studienteilnehmende darum gebeten, als Cartoonzeichnungen dargestellte Verhaltensweisen von Eigen- oder Fremdgruppenmitgliedern zu beschreiben (Maass, Salvi, Arcuri & Semin, 1989). Die ProbandInnen wählten für positives, von Mitgliedern ihrer Eigengruppe ausgeführtes Verhalten eher abstraktere Beschreibungen, also z. B. eher “A. ist hilfsbereit” im Vergleich zu “A. leiht B. Geld”, verglichen mit demselben Verhalten der Fremdgruppe. Solche subtilen Unterschiede in sprachlichen Formulierungen können wiederum beeinflussen, welche Schlüsse Andere aus dem beschriebenen Verhalten ziehen. So implizieren abstrakte Formulierungen, dass ein Verhalten eher stabil in der Person begründet sei, und dass die Person sich in anderen Situationen genauso verhalten würde (Maass et al., 1989). Die Alltagsrelevanz dieser Effekte verdeutlicht eine Studie mit realen deutschsprachigen Medienartikeln zum Thema Kriminalität und MigrantInnen. Je abstrakter die entsprechenden Zeitungsartikel über Straftaten von MigrantInnen geschrieben waren, desto eher gingen Studienteilnehmende davon aus, dass diese auch in anderen Situationen Straftaten begehen würden, und desto stärkere subtile Vorurteile berichteten sie gegenüber MigrantInnen (Geschke, Sassenberg, Ruhrmann & Sommer, 2010).Bild 5: Die Intergruppen-Attributionsverzerrung drückt sich auch auf subtile Weise darin aus, wie wir das Verhalten von Eigen- und Fremdgruppenmitgliedern beschreiben. Diese subtilen Unterschiede erreichen z. B. in Zeitungsartikeln ein breites Publikum und beeinflussen so den Eindruck, den sich die LeserInnen über die beschriebene Person bilden.Bild 5: Die Intergruppen-Attributionsverzerrung drückt sich auch auf subtile Weise darin aus, wie wir das Verhalten von Eigen- und Fremdgruppenmitgliedern beschreiben. Diese subtilen Unterschiede erreichen z. B. in Zeitungsartikeln ein breites Publikum und beeinflussen so den Eindruck, den sich die LeserInnen über die beschriebene Person bilden.

Wie können wir zu neutraleren BeobachterInnen werden?

Sind wir also neutrale BeobachterInnen? Im Allgemeinen muss man die Titelfrage verneinen. Unser Verständnis Anderer ist häufig nicht neutral, sondern zum Teil deutlich verzerrt. Und wenngleich unser Eingangsbeispiel, eine Vase zu zerbrechen, eher trivial erscheinen mag, können solche kleinen Interpretationsunterschiede durchaus sehr relevant werden. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn wir das Verhalten von Mitgliedern unserer Fremdgruppe immer wieder nachteilig interpretieren. Solange wir ihre negativen Verhaltensweisen auf stabile Eigenschaften zurückführen und ihre positiven Verhaltensweisen stets durch situative Faktoren wegerklären, haben sie gar keine Chance, einen positiven Eindruck zu hinterlassen. Dies kann beispielsweise auch dazu beitragen, dass negative Vorurteile gegenüber einer Fremdgruppe aufrechterhalten werden (Hewstone, 1990). Zudem kann selbst die durch Kategorisierung verzerrte Interpretation eines einzelnen Verhaltens sehr dramatische Konsequenzen nach sich ziehen, wie etwa bei strafrechtlichen Verurteilungen.

Wenn wir dazu gewillt sind, scheint es aber durchaus möglich, zu neutraleren BeobachterInnen zu werden. Beispielsweise absolvierten die ProbandInnen einer Studie ein Training, in welchem ihnen Fotos von Fremdgruppenmitgliedern zusammen mit stereotypen Verhaltensweisen präsentiert wurden (Stewart, Latu & Kawakami, 2010). Daraufhin wurden ihnen jeweils zwei Erklärungen angeboten – eine situative und eine personenbedingte. Ihre Aufgabe war es, jedes Mal die situative Erklärung auszuwählen. Nach diesem Training schlussfolgerten die Teilnehmenden spontan vermehrt situative Ursachen für negative Verhaltensweisen der Fremdgruppenmitglieder und verbanden sogar weniger stereotype Eigenschaften mit der Gruppe. Eine weitere Studie zeigt, dass auch der aktive Versuch, die Perspektive eines Fremdgruppenmitglieds einzunehmen, dazu beitragen kann, dass wir situative Erklärungen vermehrt in Betracht ziehen (Vescio, Sechrist &Paolucci, 2003). So bewerteten Studienteilnehmende eine Fremdgruppe positiver, wenn sie dazu aufgefordert wurden, die Perspektive ihrer Mitglieder einzunehmen. Dies lag unter anderem daran, dass die Teilnehmenden das Verhalten der Fremdgruppenmitglieder weniger auf stabile Eigenschaften und stärker auf die Situation zurückführten.

Schlussendlich gibt es keine einfachen Strategien, die uns vor einem verzerrten Verständnis unserer Mitmenschen bewahren. Die beschriebenen Studien demonstrieren aber, dass wir bewusst in diesen fehleranfälligen Prozess eingreifen können. Wenn wir also andere Menschen und insbesondere Mitglieder anderer Gruppen besser verstehen wollen, sollten wir aktiv üben, uns für situative Erklärungen ihres Verhaltens zu entscheiden. Wir sollten zudem vorsichtig abwägen, ob sie ein Verhalten mit Absicht ausgeführt haben, und versuchen, ihre Perspektive einzunehmen. Zuletzt sollten wir darauf achten, dass wir die Gruppenzugehörigkeit Anderer nicht darüber entscheiden lassen, wie konkret oder abstrakt wir ihr Verhalten beschreiben. Damit ermöglichen wir auch anderen Menschen, das beschriebene Verhalten möglichst neutral zu verstehen. Wenn wir daraus eine Gewohnheit werden lassen, können wir dem Ziel, neutralere BeobachterInnen zu werden, etwas näherkommen.

Bildquellen

Bild 1:  Henri Fantin-Latour: Hommage à Delacroix  (Quelle: wikimedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Fantin-Latour_Homage_to_Delacroix.jpg).

Bild 2: Guilty by Henry Hintermeister (Quelle: wikimedia https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Guilty_by_Henry_Hintermeister.jpg).

Bild 3:  Franz Xaver Winterhalter: The Empress Eugenie Surrounded by her Ladies in Waiting, Quelle:Wikimedia https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Winterhalter_Franz_Xavier_The_Em...).

Bild 4: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:P.S._Kr%C3%B8yer,_Et_m%C3%B8de_i... Bild:https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Josef_Danhauser,_Newspaper_reade..., Quelle: Wikimedia Commons

Bild 5: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Josef_Danhauser,_Newspaper_reade..., Quelle: Wikimedia Commons.

Literaturverzeichnis

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