Wenn der Hotline-Mitarbeiter plötzlich zurückmotzt: Warum wir am Arbeitsplatz authentischer sein sollten

Bei unserer Arbeit kann es vorkommen, dass wir Emotionen und Gedanken nicht äußern, weil das nicht professionell wäre. Schließlich gilt es, zuverlässig seine Aufgaben zu erledigen und persönlichen Dingen nicht zu viel Raum zu geben. Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass Beschäftigte, die am Arbeitsplatz authentisch sind, auch eine höhere psychische Gesundheit aufweisen. Wie kann der Spagat gelingen?

Bild 1: "Masken" können in bestimmen Situationen eine Funktion erfüllen.Bild 1: "Masken" können in bestimmen Situationen eine Funktion erfüllen.

Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten schon seit Jahren in einem Call-Center und müssen zu jedem noch so ungehaltenen Kunden zuvorkommend sein. Zudem hat Ihr Unternehmen genaue Vorgaben dazu, welche Sätze und Formulierungen Sie benutzen sollen. Und möglicherweise müssen Sie Produkte an Personen verkaufen, unabhängig davon, ob sie diese Produkte tatsächlich brauchen oder nicht. Bis zu welchem Punkt würden Sie dieses Spiel mitspielen? Einerseits würden Sie wohl damit leben müssen, dass Ihr Job es nun einmal erfordert, freundlich zu sein auch wenn Sie selbst gerade keine gute Laune haben. Gleichzeitig hätten Sie wahrscheinlich trotzdem immer den Drang, so zu kommunizieren wie Sie eben normalerweise kommunizieren und dem ein oder anderen Kunden mal Ihre ehrliche Meinung zu sagen. Dabei ist die Frage, wie authentisch Sie sich bei Ihrer Arbeit verhalten können nicht nur eine Frage des Stils, sondern auch eine Frage der psychischen Gesundheit. In diesem Artikel wird beschrieben, was Authentizität aus psychologischer Sicht ist und wie sich die positiven Zusammenhänge zwischen Authentizität, die in bisherigen Studien dazu gefunden wurden (Emmerich & Rigotti, 2017; Sutton, 2020) erklären lassen.

Was ist Authentizität überhaupt?

Darüber, was unter Authentizität genau zu verstehen ist, wurde schon viel diskutiert. Bereits Philosophen wie Aristoteles haben sich darüber Gedanken gemacht. Für sie war das Leben entsprechend der Eudaimonia, wie sie das wahre Selbst nannten, das höchste Ziel im Leben (Kernis & Goldman, 2006). Die psychologische Forschung hat sich erst in den letzten Jahrzehnten mit diesem Konzept beschäftigt und geht vor allem auf die Psychologen Michael Kernis und Brian Goldman (2006) zurück. Sie fassten die philosophische und psychologische Literatur in einer Definition mit vier Komponenten zusammen. Außerdem basiert ihr Konzept auf der Idee eines optimalen Selbstwerts, der hoch, aber nicht zu hoch ist und damit Raum für kritische Selbstreflexion und Weiterentwicklung lässt. Im Folgenden werden die vier Teilkomponenten kurz dargestellt:

[Selbstkenntnis]: Bevor wir uns gemäß unseres wahren Selbst verhalten können, müssen wir zunächst wissen, wie dieses wahre Selbst überhaupt ist. Laut dem psychologischen Verständnis bedeutet authentisch zu sein nicht, dass wir ‚einfach nur‘ wir selbst sind. Authentizität setzt voraus, dass wir wissen, wie wir sind, um dann auf dieser Basis zu handeln. Im Berufsleben bedeutet das, dass wir wissen, was wir können, wohin wir uns entwickeln wollen, welche Werte uns wichtig sind und welche Arbeit uns vielleicht nicht mehr guttut.

[Ehrlich zu sich sein]: Wir alle kennen Menschen, die ein Kompliment, das man ihnen macht, nicht annehmen wollen und stattdessen zum Beispiel die günstigen Umstände für einen beruflichen Erfolg verantwortlich machen. Die zweite Komponente von Authentizität bezieht sich darauf, keinen verzerrten Blick auf sich zu haben. Um sich selbst besser kennen zu lernen, ist es notwendig, dass wir Informationen und Feedback, das wir über uns erhalten, unverfälscht aufnehmen und sowohl unsere Bild 2: Unsere Wahrnehmung von uns selbst kann „verzerrt“ sein.Bild 2: Unsere Wahrnehmung von uns selbst kann „verzerrt“ sein.Stärken und Schokoladenseiten, aber auch unsere Fehler und Schwächen immer besser kennen.

[Zu seinen Werten stehen]: Die dritte Facette bezieht sich darauf, was Authentizität im Kern bedeutet: Sich den eigenen Werten und Überzeugungen gemäß zu verhalten. Das kann bedeuten, dass wir unsere Begabungen und Fähigkeiten ausleben und in neuen Arbeitsrollen andere Seiten an uns entdecken. Es kann aber auch bedeuten, dass es mit Kosten verbunden ist, authentisch zu sein, zum Beispiel, wenn wir uns mit einem bestimmten Karriereschritt nicht treu bleiben würden. Oder wir könnten uns bei KollegInnen unbeliebt machen, wenn wir unsere ehrliche Meinung im Teammeeting äußern.

[Sein wahres Ich zeigen]: Authentisch sind wir nicht „für uns allein“. Authentizität schließt auch ein, dass wir anderen Menschen unser wahres Ich zeigen, Persönliches preisgeben und uns damit auch angreifbar und verletzbar machen. Im Arbeitskontext hat das sicherlich seine Grenzen. jedoch können wir nur dann als Person wahrgenommen und anerkannt werden, wenn wir uns tatsächlich so geben wie wir sind. 

Authentisches Verhalten kann sich auf viele Aspekte beziehen, zum Beispiel auf Gedanken, Einstellungen, Emotionen, Vorlieben, Bedürfnisse oder Ziele. Das führt zu einer hohen Komplexität, denn diese Aspekte sind nicht unbedingt zu jedem Zeitpunkt miteinander in Übereinstimmung. Wenn ich als ehrgeiziger Mensch gern viel in meine Arbeit investiere, aber gleichzeitig Familie und FreundInnen nicht vernachlässigen möchte, ist es dann authentisch, um 17 Uhr den Stift fallen zu lassen? Oder was sollte ich tun, wenn ich gern einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten möchte, aber eine Leidenschaft für schnelle Autos und Reisen habe? Was ist authentisch – der Kollegin offen zu sagen, dass man ihre neue Geschäftsidee ganz schrecklich findet oder sich einfach mit ihr zu freuen, weil sie so begeistert davon ist?

Und noch etwas ist interessant: Da unser Selbstbild durch unsere Kultur geprägt ist, gibt es auch Kulturunterschiede darin, wann wir uns authentisch fühlen (English & Chen, 2007): Für individualistisch geprägte Menschen wie Menschen aus westlichen Kulturen ist es eher unauthentisch, sich in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich zu verhalten. Für kollektivistisch geprägte Menschen wie etwa Menschen aus asiatischen Kulturen hingegen kann das Verhalten stark vom Kontext geprägt sein. Gegenüber FreundInnen sehr extrovertiert und gegenüber den Eltern eher introvertiert zu sein, empfinden kollektivistisch geprägte Menschen deswegen mit geringerer Wahrscheinlichkeit als unauthentisch als individualistisch geprägte Menschen (English & Chen, 2007).

Warum ist Authentizität psychisch gesund?

Einige psychologische Studien weisen auf den Zusammenhang zwischen Authentizität und psychischer Gesundheit hin (Sutton, 2020), der sich auch im Arbeitskontext zeigt (Emmerich & Rigotti, 2017). Damit ist authentisches Verhalten ein möglicher Ansatzpunkt, um die psychische Gesundheit von MitarbeiterInnen zu fördern. Und es ist gleichzeitig ein Argument für ArbeitgeberInnen, MitarbeiterInnen Authentizität zu ermöglichen - schließlich wollen sie auch, dass ihre Beschäftigten psychisch gesund und damit leistungsfähiger und kreativer sind. Im Folgenden werden drei theoretische Ansätze aus der Psychologie dargestellt, die diese Zusammenhänge erklären können: Die Selbstbestimmungstheorie (Deci & Ryan, 2000), die Person-Environment-Fit-Theorie (Edwards, Caplan & Harrison, 1998) und die Theorie der Emotionsarbeit (Hochschild, 1983).

Die Selbstbestimmungstheorie (Deci & Ryan, 2000) geht davon aus, dass Menschen, die selbstbestimmt handeln (können), Aktivitäten wählen, die ihre Grundbedürfnisse erfüllen. Diese Grundbedürfnisse sind die Bedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und nach sozialer Eingebundenheit. Ihre Erfüllung führt zu höherer intrinsischer, also innerer Motivation, Wohlbefinden und persönlichem Wachstum. Da authentisches Handeln selbstbestimmtem Handeln entspricht, führt authentisches Handeln laut dieser Theorie dazu, dass wir uns frei, kompetent und sozial eingebunden fühlen. Das gilt auch im Arbeitskontext: Haben wir die Freiheit, viele Dinge bei unserer Arbeit selbst zu bestimmen, werden dadurch unsere Grundbedürfnisse besser erfüllt. Dann arbeiten wir intrinsisch motiviert und nicht nur angetrieben durch äußere Belohnungen, wie ein hohes Gehalt. Außerdem steigt durch die Erfüllung der psychologischen Grundbedürfnisse unser Wohlbefinden und unsere psychische Gesundheit. 

Die Person-Environment-Fit-Theorie (Edwards et al., 1998) bietet eine weitere Erklärung, warum Authentizität mit psychischer Gesundheit zusammenhängt. Die Theorie besagt, dass psychischer Stress entsteht, wenn eine Person und ihre Umwelt nicht zusammenpassen. Das passiert zum Beispiel, wenn man als Beschäftigter im Einzelhandel Dinge verkaufen muss, von denen man selbst nicht überzeugt ist. Eine mangelnde Passung kann zum Beispiel auch auftreten, wenn man bei seiner Arbeit viel vor anderen Leuten sprechen muss, obwohl man eher introvertiert ist. Das kostet zusätzliche Ressourcen – unabhängig davon, ob man in diesen Aufgaben kompetent ist oder nicht. Dieser Ressourcenverlust wirkt sich negativ auf das Stresskonto aus und kann zu negativen Gesundheitsfolgen führen. Stress kann auch dann auftreten, wenn man innerhalb seiner Arbeitstätigkeit verschiedene Rollen innehat, die widersprüchliche Anforderungen beinhalten. Dies wird als Rollenstress (Örtqvist & Wincent, 2006) bezeichnet. Wenn ich als Hotline-Mitarbeiter beispielsweise zum einen die Rolle habe, meinen KundInnen den besten Service zu bieten, gleichzeitig aber Vorgaben dazu bekomme, bestimmte Produkte an sie zu verkaufen, gerate ich in Rollenkonflikte.

Auch mit dem Konzept der Emotionsarbeit von Hochschild (1983) kann man die negativen gesundheitlichen Folgen von unauthentischem Verhalten erklären. Hochschild beschreibt, dass das Zeigen bestimmter Emotionen, zum Beispiel im Bild 3: Wir haben in unserem Leben verschiedene Rollen, die manchmal nicht zusammen zu passen scheinen.Bild 3: Wir haben in unserem Leben verschiedene Rollen, die manchmal nicht zusammen zu passen scheinen.Dienstleistungsbereich, psychische Ressourcen kostet. Ein zu hoher Ressourcenverbrauch kann langfristig zu Burnout und Depressionen führen (Hülsheger & Schewe, 2011). Besonders hoch ist der Ressourcenverbrauch laut dieser Theorie dann, wenn wir das sogenannte Surface Acting ausüben, also Emotionen wie ein Lächeln oder Freude zeigen, ohne sie tatsächlich zu empfinden. Üben wir hingegen Deep Acting aus, also verändern wir unsere Emotionen und Einstellungen und zeigen dann die echten Emotionen, führt das zu weniger emotionaler Erschöpfung (Hülsheger & Schewe, 2011). Unauthentisches Verhalten wie das Unterdrücken von Emotionen oder das Zeigen von Emotionen, die wir gar nicht empfinden, kostet demnach Ressourcen. Dies kann eine verringerte psychische Gesundheit zur Folge haben.

Wie kann man authentischer werden?

Wenn authentisches Verhalten für viele nun als erstrebenswert gilt und dieses mit psychischer Gesundheit zusammenhängt, wie können wir es dann schaffen, uns auch am Arbeitsplatz authentischer zu verhalten? Auf der Basis der Definition von Authentizität und weiteren Studien sollen hier mögliche Ansatzpunkte vorgestellt werden.

Sich selbst kennen: Laut Kernis und Goldman (2006) ist die Basis von Authentizität die Kenntnis des eigenen Selbst. Sich selbst zu reflektieren ist damit der erste Schritt zu mehr Authentizität. Was zeichnet mich aus, was sind meine Stärken und Schwächen? Was ist mir wirklich wichtig? Welche Bedürfnisse und Ziele habe ich? Der Hotline-Mitarbeiter könnte sich zum Beispiel fragen, was ihn dazu motiviert, diese Tätigkeit auszuüben und wo seine persönlichen Stärken dabei liegen. Er könnte sich auch fragen, was ihm im Umgang mit KundInnen wichtig ist. So kann er Grenzen definieren, inwiefern er Verständnis für aufgebrachte KundInnen hat und wann ein solches Verhalten für ihn nicht mehr akzeptabel ist, so dass er dies dem Kunden bzw. der Kundin gegenüber kommuniziert bzw. das Gespräch abhängig von den Unternehmensregeln abbricht. Unsere Selbstkenntnis können wir auch erhöhen, indem wir uns neuen Aufgaben und Herausforderungen stellen, uns in neue Kontexte begeben und neue Rollen ausprobieren. Jeder Mensch hat viele Facetten – das widerspricht nicht dem Gedanken von Authentizität, sondern ermutigt im Gegenteil dazu, seine vielen ‚wahren Gesichter‘ kennen zu lernen.

Es ist, was es ist: Der zweite Aspekt von Authentizität bezieht sich auf die möglichst unverzerrte Verarbeitung von selbstbezogenen Informationen (Kernis & Goldman, 2006). Das bedeutet zum Beispiel, offen für Feedback von KollegInnen zu sein oder diese selbst aktiv einzuholen. Dabei sollten wir aufgeschlossen gegenüber neuen Informationen über uns selbst sein, um uns besser kennen zu lernen, anstatt diese Informationen nur zur Bestätigung unseres Selbstbildes zu nutzen. Ein wichtiger Schritt dabei ist es, unsere Gedanken, Emotionen, Einstellungen und Wünsche zu akzeptieren. Der Hotline-Mitarbeiter muss sich möglicherweise eingestehen, dass ihn ein bestimmter Kunde nervt oder ein bestimmtes Verhalten wütend macht. Das soll kein Freifahrtschein dafür sein, KundInnen schlecht zu behandeln. Es soll vielmehr der Startpunkt für eine Reflexion darüber sein, was am Verhalten dieses Kunden genau Ärger oder Wut auslöst. Auf dieser Basis kann er an sich arbeiten und auf diesen Kunden, aber auch im Umgang mit anderen generell besser auf deren Verhalten reagieren.

Erwartungserwartungen: Wie wir eine Rolle ausfüllen ist manchmal stark von Erwartungserwartungen geprägt, also davon, was wir erwarten, was andere von uns erwarten könnten. So gibt es zum Beispiel eine bestimmte Erwartung, wie eine Führungskraft zu sein hat. Übernehmen wir eine Führungsrolle, können wir dann die Erwartung an uns haben, diesem Bild zu entsprechen, statt die gleichen Rollen und Aufgaben mit etwas mehr von uns selbst auszufüllen. Manchmal braucht es etwas Mut, sich von vorgefertigten Rollenerwartungen zu lösen und es selbst anders zu machen.

‚Wie‘ statt ‚Was‘: Authentisch zu sein ist manchmal nicht so sehr eine Frage des ‚was‘, sondern vielmehr des ‚wie‘. Authentizität sollte nicht mit mangelnder Wertschätzung verwechselt werden. Wenn ich einer Kollegin gegenüber ohne Wertschätzung harte Kritik äußere, sollte es mich nicht wundern, wenn eine ebenso harte Gegenreaktion erfolgt. Meine authentischen Botschaften werden am besten Gehör finden, wenn ich Respekt zeige, Botschaften aus der Ich-Perspektive formuliere, Bedenken und Gegenargumente gut erkläre und den anderen sein lasse, wer er oder sie ist.

Echte Beziehungen: Wie entwickeln sich echte, authentische Beziehungen? Laut Social Penetration Theory (Altman & Taylor, 1973) passiert das über eine Art Tauschgeschäft: Teilen wir persönliche Informationen über uns mit und erwidert dies eine andere Person mit persönlichen Informationen über sich, entwickelt sich diese Beziehung ein Stück tiefer. Setzt sich dieser Prozess fort und tauschen wir immer persönlichere Informationen, Erfahrungen und Gedanken aus, entstehen immer tiefere Beziehungen. Hier kommt die Authentizität ins Spiel: Teilt diese andere Person nichts über sich mit und drückt damit in dieser Beziehung ihr authentisches Selbst nicht aus, entwickelt sich diese Beziehung nicht in die Tiefe. Wünscht sich unser Hotline-Mitarbeiter authentischere Beziehungen zu seinen KollegInnen, kann er den ersten Schritt gehen und Dinge teilen, die ihn beschäftigen oder aus seinem Privatleben erzählen. Gehen seine KollegInnen darauf ein und werden die Themen immer ein Stück persönlicher, entwickeln sich authentische Beziehungen. Gerade im Arbeitskontext gehen wir damit ein Risiko ein und machen uns unter Umständen ein Stück verletzlich oder angreifbar. Gleichzeitig eröffnet es aber KollegInnen die Möglichkeit für gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit und fördert ein Zusammengehörigkeitsgefühl.

Die richtige Umgebung: Auch die Personen, mit denen wir zusammenarbeiten, haben einen Einfluss. Sie können beeinflussen, wie authentisch wir uns selbst verhalten. In Bezug zum Teamklima ist zum Beispiel ein Klima der psychologischen Sicherheit (Edmondson, 1999) förderlich, in dem Teammitglieder so akzeptiert werden, wie sie sind. Hat der Hotline-Mitarbeiter etwa einen sehr außergewöhnlichen Kleidungsstil, müsste er in einem psychologisch sicheren Team nicht fürchten, dass hinter seinem Rücken über ihn geredet wird. Auch eine Fehlerkultur, in der man keine Angst davor haben muss, einen Fehler zu machen oder zuzugeben, fördert einen positiven Umgang mit den eigenen Schwächen. Emmerich et al. (2020) fanden in ihrer Studie einen Zusammenhang zwischen dem authentischen Verhalten von KollegInnen mit der eigenen psychischen Gesundheit, d. h. in einer Umgebung, in der sich die KollegInnen authentisch verhalten. ist auch die eigene psychische Gesundheit höher. Eine positive Fehlerkultur steht zudem im Zusammenhang mit einer höheren Leistung (van Dyck et al., 2005). Auch die Arbeitsbedingungen können authentisches Verhalten beeinflussen. Dazu gehört, wie viel Freiraum ein/e ArbeitgeberIn zulässt. Erhält der Hotline-Mitarbeiter genaue Anweisungen dazu, wie er ein Gespräch führen soll? Gibt es enge explizite oder implizite Regeln, wie die Arbeit genau auszuführen ist? Ein hohes Maß an Freiräumen ist dabei förderlich für die psychische Gesundheit (Rosen, 2016).

Vollständige Authentizität ist nicht immer möglich: Im Arbeitsalltag kann es auch Situationen geben, in denen es einfach nicht möglich ist, dass wir unsere Gedanken und Emotionen offen ausdrücken. Als RichterIin, KrankenpflegerIn oder AnimateurIn ist es Teil der Arbeitsaufgabe, bestimmte Emotionen (nicht) zu zeigen. Hier ist es dann wichtig, Orte zu finden, in denen wir uns offen ausdrücken können. So konnte eine Studie von Grandey und KollegInnen (2011) zeigen, dass KrankenpflegerInnen nicht an Burnout durch intensive Emotionsarbeit mit PatientInnen und Angehörigen litten, wenn in ihrem Team ein Teamklima herrschte, in dem Emotionen offen gezeigt werden konnten. Unsere Umgebung können wir uns nicht immer aussuchen, aber oft können wir sie ein Stück mitgestalten. Und wenn der nächste Arbeitsplatzwechsel ansteht, können wir ein Auge darauf haben, wie selbstbestimmt wir uns bei unserer neuen Arbeitsstelle verhalten können.

Zu guter Letzt: Zurückmotzen oder nicht Zurückmotzen?

Was empfehlen wir mit diesen Erkenntnissen nun jenem Hotline-Mitarbeiter? Soll er tatsächlich auf den oder die nächste/n launische/n KundIn ebenso launisch reagieren? Stattdessen könnte man ihm Folgendes raten: Er sollte versuchen, in seinem ‚wahren Selbst‘ sicher zu sein, die Gereiztheit anderer Personen nicht persönlich zu nehmen und mit freundlichen, aber klaren Worten zu kommunizieren, wo seine Grenzen liegen. Er könnte versuchen, seinen KollegInnen gegenüber offen zu teilen, welche KundInnen ihn belastet haben. Und er könnte sich ein Stück zurücklehnen, die schlechte Laune ignorieren und mit einem ehrlichen Blick auf sich zugeben: Ein motzender Kunde war ich auch schon mal.

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Literaturverzeichnis

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