Wie Gerüche uns in vergessen geglaubte Zeiten versetzen: Das Proust-Phänomen

Wenn wir etwas riechen, können wir häufig nicht sagen, was das eigentlich für ein Geruch ist. Aber: Gerüche sind in der Lage, ganz besondere Erinnerungen zu wecken. Die so geweckten Erinnerungen sind häufig sehr emotional, wir erinnern uns sehr lebhaft an das ursprüngliche Ereignis und es handelt sich häufig um ein Ereignis, das schon lange zurückliegt und an das wir schon lange nicht mehr gedacht haben. Solche Erlebnisse werden in der Forschung auch Proust-Phänomen genannt. Der Beitrag befasst sich mit zentralen Erkenntnissen sowie einigen aktuellen und spannenden Fragen zu diesem Phänomen.

Unser Gedächtnis gehört mit zu den zentralsten Bestandteilen, die uns als Person ausmachen. Wir sind unser Gedächtnis und „das Gedächtnis ist unser ganzes Leben“ (Zitat des spanischen Filmregisseurs Luis Buñuel, 1985, S. 2).

Gedächtnis - Bestandteil unseres Selbsts. Bild: Alexas_Fotos via pixabay (https://pixabay.com/de/figur-holz-puzzle-letztes-teil-3237653/o, CC:https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Gedächtnis - Bestandteil unseres Selbsts. Bild: Alexas_Fotos via pixabay (https://pixabay.com/de/figur-holz-puzzle-letztes-teil-3237653/o, CC:https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Dies zeigt sich deutlich an PatientInnen, die ihr Gedächtnis verloren haben – sie erleben jeden Augenblick völlig isoliert, ohne Bezug zu den bisherigen Episoden ihres Lebens, die sie selbst und ihre einzigartige Identität in Form von Erinnerungen ja gerade ausmachen (vgl. z. B. McCarthy & Wearing, 1995). Gedächtnis ist nämlich immer dann relevant, wenn wir uns mit Dingen beschäftigen, die aktuell nicht mehr für uns wahrnehmbar sind. Wir müssen dann, sozusagen offline, auf das zugreifen, was wir bereits in unser inneres Abbild über die Welt – also in unser Gedächtnis – überführt haben. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass dieses innere Abbild keineswegs eine exakte Kopie der Außenwelt darstellt. Zudem handelt es sich bei jedem Abruf um eine Re-Konstruktion der Erinnerung. Das Erinnerte wird also jedes Mal in einer mehr oder weniger modifizierten Variante abgerufen.

Was leistet nun aber unser Gedächtnis? Mithilfe unseres Gedächtnisses finden wir den Weg nach Hause, wir können unsere Muttersprache und Fremdsprachen sprechen und verstehen, können Fahrrad fahren oder paragliden, Probleme durch Neukombination von bekannten Strategien lösen, wir sind in der Lage, vergangene Episoden nochmals abzurufen und uns daran erneut zu erfreuen, uns zu merken, welche Dinge oder Orte gefährlich sind und vor welchen Personen wir uns hüten sollten. Und schließlich ist unser Gedächtnis ganz maßgeblich daran beteiligt, Vorhersagen über die Zukunft zu erstellen und unser Verhalten zu planen und anzupassen (z. B. Klein, Robertson & Delton, 2010). Unser Gedächtnis ist also für weit mehr gut, als nur dafür, dass wir uns etwas merken können. Es ist im Kern dafür da, dass wir besser mit der Welt interagieren und uns angemessen darin verhalten und handeln können.

Vermutlich am engsten mit dem Selbst und der Bildung einer Identität ist das autobiographische Gedächtnis verknüpft. Im autobiographischen Gedächtnis sind Erlebnisse und Dinge mit Bezug zu einem selbst gespeichert. Dies können semantische Informationen mit Bezug zur eigenen Person sein (z. B. das eigene Geburtsdatum), persönliche Erfahrungen und Interaktionen mit Objekten oder anderen Personen und eben auch alle Episoden, die wir erlebt haben und so wieder-erleben können. Die Forschung zum autobiographischen Gedächtnis untersucht, wie unser Gedächtnis im Alltag funktioniert und wie wir unsere ureigensten Erlebnisse wiedererleben. Dieser Beitrag fokussiert nun auf einen bestimmten Ausschnitt aus der Forschung zum autobiographischen Gedächtnis, der erst vergleichsweise kurz untersucht wird und dabei theoretische und praktische Bedeutung für mehrere Felder hat. Gleichzeitig kennen ihn die meisten Menschen aus ihrem Alltag, weshalb viele einen persönlichen Bezug dazu haben. Es geht um das sogenannte Proust-Phänomen.

Was ist das Proust-Phänomen? Am einfachsten kann es an einem Beispiel erläutert werden. Machen Sie dazu die Augen zu und … Moment, wie können Sie weiterlesen, wenn die Augen zu sind? Vergessen Sie das, lassen Sie die Augen auf. Also, stellen Sie sich vor: Sie müssen einkaufen, aber Sie möchten heute mal etwas anders, etwas außerhalb der Routine machen. Anstatt wie sonst einen Supermarkt anzusteuern, fahren SieTomaten.Bild von RitaE via Pixabay (https://pixabay.com/de/tomaten-cocktailtomaten-rot-küche-2559809/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Tomaten.Bild von RitaE via Pixabay (https://pixabay.com/de/tomaten-cocktailtomaten-rot-küche-2559809/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de) deshalb zu einem Bauernhof, von dem Sie wissen, dass dort auch Gemüse verkauft wird. Sie kommen an und sehen die schönsten Tomaten, die Sie sich vorstellen können. Sie gehen zu den Tomaten und heben eine davon hoch.

Dann, während Sie einatmen und den Geruch der Tomaten ganz intensiv wahrnehmen, denken Sie plötzlich an ein Erlebnis aus Ihrer Kindheit, als Sie mit Ihrer Familie in Italien waren und auf einem Hof in der Toskana übernachtet haben. Auf dem Grundstück war eine kleine Tomatenplantage und Sie haben dort eine herrlich frische Tomatensuppe mit italienischen Kräutern gegessen. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit haben Sie nicht mehr an diesen Urlaub aus Ihrer Kindheit gedacht. Doch jetzt, ausgelöst durch den Tomatenduft, erinnern Sie sich lebhaft an die Kinder auf dem Hof, an die Tiere, die es dort gab, an die sommerliche Leichtigkeit und dass Sie dort eine sehr schöne Zeit mit Ihren Eltern und Geschwistern verbracht haben. Was ist hier gerade passiert? – Ein Geruch hat automatisch dazu geführt, dass eine sehr alte und fröhliche Erinnerung ins Gedächtnis gerufen wurde, an die Sie zudem schon lange nicht mehr gedacht haben. Sie hatten in diesem Fall ein Erlebnis, das in bestimmten Aspekten der Madeleine-Episode aus Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gleicht und deshalb Proust-Phänomen genannt wird.

In den letzten fast dreißig Jahren haben immerhin ein paar Forschergruppen diesem Phänomen Aufmerksamkeit geschenkt. Maria Larsson (eine der zentralen ForscherInnen zu diesem Thema) und ihre KollegInnen haben die Befunde zusammengefasst und 2014 in einem Artikel dem LOVER Akronym zugeordnet. Demnach sind autobiographische Erinnerungen, die von einem Geruch hervorgerufen sind, limbisch, alt (old), lebhaft (vivid), emotional und selten (rare). Etwas detaillierter gesagt:

L: Das limbische System ist – kurz gesagt – für Lernen und Erinnern, aber auch für emotionale Verarbeitung zuständig. Geruchswahrnehmung ist u. a. deshalb besonders, da im Gehirn das limbische System und der Bereich, in dem Gerüche primär verarbeitet werden, sehr nah beieinander liegen. Erinnerungen, die durch Gerüche ausgelöst werden, hängen (deshalb) stark mit Aktivität im limbischen System zusammen (Arshamian et al., 2013).

O: Im Vergleich zu autobiographischen Erinnerungen, die von Wörtern, Geräuschen oder Bildern hervorgerufen werden, stammen Erinnerungen, die von Gerüchen hervorrufen werden, häufiger aus einer früheren Zeit im Leben, nämlich eher aus dem Altersbereich zwischen 6 und 10 Jahren im Vergleich zu 15 bis 20 Jahren bei anders hervorgerufenen Erinnerungen (z. B. Chu & Downes, 2000).

V/E: Bei Erinnerungen, die durch Gerüche ausgelöst werden, hat man stärker das Gefühl, dass man wirklich wieder dahin zurückversetzt wird, wann und wo man das Erlebnis ursprünglich hatte (z. B. Willander & Larsson, 2007). Außerdem sind diese Erinnerungen meist emotionaler (z. B. Chu & Downes, 2002).

R: Noch dazu findet man oft, dass Personen im Alltag sehr viel seltener an diejenigen Erinnerungen denken, die von Gerüchen hervorgerufen werden, als an Erinnerungen, die von anderen Reizen hervorgerufen werden (z. B. Willander & Larsson, 2006).

 

Wir haben kürzlich die Methoden, Ergebnisse und theoretischen Erklärungen des Proust-Phänomens analysiert und zusammengefasst (Hackländer, Janssen & Bermeitinger, 2018). Als Fazit lässt sich sagen, dass autobiographische Erinnerungen, die von Gerüchen hervorgerufen werden, irgendwie anders sind als Erinnerungen, die von anderen Reizen hervorgerufen werden. Dies zumindest scheint ein stabiler Befund zu sein. Einige Aspekte des Phänomens sind – auf verschiedenen Ebenen – jedoch noch unklar. Teilweise sind die verwendeten Methoden kritisierbar. Ist es beispielsweise eher so, dass bei den verwendeten Methoden die Gerüche im Moment des Abrufs die Erlebensqualität ändern, anstatt etwas darüber aussagen zu können, dass Gerüche besondere Erinnerungen hervorrufen? Manchmal sind auch die theoretischen Erklärungen fraglich oder sie fehlen ganz. Und teilweise sind die Ergebnisse nicht ganz so eindeutig und einheitlich, wie man es sich für definitive Aussagen wünschen würde. Beispielsweise finden wir in einer Mini- Meta-Analyse, dass die Ein Duft liegt in der Luft. Bild von Lee_seonghak via Pixabay (https://pixabay.com/de/rauch-rauchig-licht-duft-geruch-1830840/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Ein Duft liegt in der Luft. Bild von Lee_seonghak via Pixabay (https://pixabay.com/de/rauch-rauchig-licht-duft-geruch-1830840/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Lebhaftigkeit von Erinnerungen, die durch Gerüche ausgelöst werden, vermutlich doch nicht stärker ist im Vergleich zur Lebhaftigkeit von Erinnerungen, die durch andere Reize ausgelöst werden.

Insgesamt muss man festhalten, dass die Proust-Forschung noch in den Kinderschuhen steckt; im Moment liegen erst ein paar wenige Studien zu dem Phänomen vor und weitere Forschung ist in jedem Fall wünschenswert. Insbesondere ist Forschung nötig, die sich den Mechanismen, die diesen Unterschieden zugrunde liegen, widmet. Es gibt mehrere theoretisch interessante Fragen, die man zum jetzigen Zeitpunkt stellen kann (und stellen sollte). In den nächsten Abschnitten gehen wir auf eine Auswahl der (aus unserer Sicht) wichtigsten dieser Fragen ein.

Warum sind autobiographische Erinnerungen, die durch Gerüche ausgelöst werden, anders?

Wenn Geruchs-induzierte autobiographische Erinnerungen wirklich anders sind als Erinnerungen, die von anderen Reizen ausgelöst wurden, dann stellt sich die Frage, warum das so ist. Die möglichen Erklärungen lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen: anatomische/ physiologische Erklärungen und psychologische Erklärungen. Die anatomischen/ physiologischen Erklärungen haben bisher die meiste Aufmerksamkeit erfahren. Bei der Olfaktorik laufen die Nervenbahnen von der Nase über nur eine Schaltstelle direkt zu dem Teil des Gehirns, in dem Gerüche primär verarbeitet werden. Bei allen anderen Sinnen gibt es mehrere Schaltstellen zwischen den jeweiligen Sinneszellen und dem entsprechenden primären Verarbeitungsbereich im Gehirn; unter anderem ist bei allen anderen Sinnen ein Teil des Gehirns, der mit Bewusstsein verbunden wird, früh in der Verarbeitung involviert. Außerdem liegt der primäre Verarbeitungsbereich für Gerüche im Gehirn sehr nah an Regionen, die für emotionale Verarbeitung relevant sind (z. B. Saive, Royet & Plailly, 2014). Manche AutorInnen gehen nun davon aus, dass diese räumliche anatomische Nähe Emotionen zu einem besonders wichtigen Merkmal von Gerüchen macht (Yeshurun & Sobel, 2010) und dass die enge Verknüpfung zum schnellen Abruf hochgradig emotionaler Erinnerungen führt, wenn ein Duft mit einer Erinnerung verknüpft ist und diese auslöst (Larsson et al., 2014; Saive et al., 2014).

Die zweite Gruppe von Erklärungen ist stärker psychologisch. Bei diesen Ansätzen ist die Idee, dass Personen bestimmte Gerüche mit bestimmten Erinnerungen in Verbindung bringen. Dem zugrunde liegt, dass unsere Erfahrungen mit Gerüchen teilweise anders sind als unsere Erfahrungen mit anderen Reizen. Beispielsweise nehmen wir Gerüche seltener bewusst wahr als andere Reize (was u. a. an der speziellen neuronalen Verschaltung liegen könnte, siehe oben) und wir schenken Gerüchen oft nicht viel Aufmerksamkeit. Dadurch kann es sein, dass die Gerüche, denen wir Aufmerksamkeit schenken, dann mit nur wenigen Ereignissen assoziiert sind (im Vergleich zu anderen, stärker und häufiger beachteten Reizen und damit assoziierten – anzahlmäßig mehr – Ereignissen). Des Weiteren spielt bei dieser Gruppe von Erklärungen eine Rolle, dass Gerüche in jüngeren Lebensjahren besonders wichtig sind (z. B. Schaal, 1988). Dies würde wiederum dazu führen, dass Gerüche in der Kindheit per se häufiger und insbesondere häufiger gemeinsam mit den erlebten Ereignissen abgespeichert werden. Mit zunehmendem Alter fokussieren wir (zumindest in westlichen Kulturen) immer weniger auf Gerüche (z. B. Classen, Howes & Synnott, 1994), weshalb diese immer seltener mit Ereignissen assoziiert und abgespeichert werden.

Es gibt also mehrere mögliche theoretische Erklärungen für das Proust-Phänomen und eventuell wirken auch mehrere Mechanismen zusammen.

Wie viele Proust-Phänomene gibt es eigentlich?

Abbildung 1: Unabhängige vs. abhängige Effekte, Abbildung von © Ryan P. Hackländer und Christina Bermeitinger.Abbildung 1: Unabhängige vs. abhängige Effekte, Abbildung von © Ryan P. Hackländer und Christina Bermeitinger.

Gibt es nur ein Proust-Phänomen oder mehrere? Anders gesagt: Sind die verschiedenen Effekte, die man im Zusammenhang mit Geruchs-induzierten Erinnerungen findet, abhängig voneinander oder sind sie unabhängig und haben verschiedene zugrundeliegende Ursachen? Zumeist werden die verschiedenen Effekte des Proust-Phänomens (also dass Erinnerungen, die durch Gerüche ausgelöst werden, alt, lebhaft, emotional und selten sind) wie im LOVER-Akronym als separate Effekte dargestellt, die sich nicht gegenseitig beeinflussen oder hervorrufen (siehe linke Seite in Abbildung 1). Diese Annahme erscheint jedoch u. a. aufgrund logisch erschließbarer möglicher Zusammenhänge als eher unwahrscheinlich. Stattdessen ist plausibler, dass die Effekte abhängig voneinander sind: Ein Geruch führt zu einem ersten Effekt, welcher wiederum weitere Effekte auslöst und/ oder mit weiteren Effekten zusammenhängt (siehe rechte Seite in Abbildung 1 für Beispiele möglicher [Kaskaden-]Modelle).

Warum werden die Erinnerungen als besonders emotional erlebt?

Eine nicht triviale Frage lautet, wodurch die Erinnerungen, die durch Gerüche ausgelöst werden, eigentlich so emotional sind. Resultiert die hohe Emotionalität aus den ursprünglichen Erlebnissen, die mit den Erinnerungen verknüpft sind – bestand also z. B. ein Unterschied dahingehend, dass sehr emotionale Erlebnisse wahrscheinlicher abgespeichert werden und später damit wahrscheinlicher wieder abgerufen werdenRiechen - und Wohlfühlen. Bild von PublicDomainPictures via Pixabay (https://pixabay.com/de/erwachsene-schönheit-gesicht-19033/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de)Riechen - und Wohlfühlen. Bild von PublicDomainPictures via Pixabay (https://pixabay.com/de/erwachsene-schönheit-gesicht-19033/, CC: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de) können? Oder ist der Effekt zurückzuführen auf den Moment des Wiedererlebens? Obwohl ein Hauptbestandteil des Proust-Phänomens ja gerade ist, dass Gerüche (sehr) emotionale Erinnerungen hervorrufen, gibt es eine alternative Erklärung: Die Emotion könnte durch den Geruch zum Zeitpunkt des Abrufs ausgelöst werden und die Versuchspersonen führen diese Emotion fälschlicherweise wiederum auf die Erinnerung zurück, weshalb sie dann angeben, dass das damalige Ereignis sehr emotional gewesen sei. Denkbar ist auch ein Mischmodell, bei welchem die Gerüche emotional passende Erinnerungen hervorrufen, also beispielsweise könnte ein positiver Duft als ein Abrufreiz für eine positive Erinnerung wirken. Bisher gibt es erste Evidenz gegen diese sogenannte Cue-Effekt Hypothese (Chu & Downes, 2002; Willander & Larsson, 2007), aber die Frage ist aufgrund methodischer Probleme noch offen (Hackländer et al., 2018), weshalb keine abschließende Antwort möglich ist.

Nach unserer Einschätzung stellen diese und weitere Fragen relevante (und spannende) Bereiche dar, zu denen bisher jedoch nur sehr wenig Forschung vorliegt. Eine Neuausrichtung der Forschung zum Proust-Phänomen auf diese und ähnliche Fragen würde das Feld auf eine solidere theoretische Basis stellen. Neben dem Gewinn für eine theoretische Fundierung von Geruchs-induzierten autobiographischen Erinnerungen kann eine theoretisch ausgerichtete Proust-Forschung einen Einfluss auf die Theoriebildung zu autobiographischen Erinnerungen und allgemeinen, übergreifenden Theorien zum Gedächtnis haben. Darüber hinaus könnte solcherart Forschung auch Forschung und Theorien zu olfaktorischer Kognition (z. B. zur Frage danach, wie Gerüche überhaupt kognitiv repräsentiert sind oder welchen Einfluss Gerüche z. B. auf die Verarbeitung visueller/ auditiver Reize haben) insgesamt inspirieren.

Und schließlich ist das Phänomen im Alltag und in der psychologischen Anwendung hochgradig relevant. Beispielsweise werden Gerüche gezielt eingesetzt, um bei Personen bestimmte Erinnerungen zu wecken, unter anderem bei ZeugInnen in Strafprozessen oder auch bei Alzheimer-PatientInnen (z. B. El Haj, Gandolphe, Gallouj, Kapogiannis & Antoine, 2018). Das Phänomen spielt zudem bei der Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen eine Rolle, da traumatisierende Ereignisse, die mit Gerüchen verbunden sind, die Betroffenen später in besonderem Maße beeinträchtigen (Woodward, Kahn, Ball, & Sizemore, 2017). Dies muss man wissen und berücksichtigen, um dann in der Therapie damit arbeiten zu können und ggf. Gerüche gezielt einzusetzen.

Literaturverzeichnis

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Buñuel, L. (1985). Mein letzter Seufzer: Erinnerungen. Frankfurt/Main: Ullstein.

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Classen, C., Howes, D., & Synnott, A. (1994). Aroma: The cultural history of smell. London: Routledge.

El Haj, M., Gandolphe, M. C., Gallouj, K., Kapogiannis, D., & Antoine, P. (2018). From nose to memory: The involuntary nature of odor-evoked autobiographical memories in Alzheimer’s disease. Chemical Senses, 43, 27-34.

Hackländer, R. P., Janssen, S. M. J., & Bermeitinger, C. (2018). An in-depth review of the methods, findings, and theories associated with the Proust effect. Manuskript zur Veröffentlichung eingereicht.

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