Gehirn unter Anklage: Einfluss der Neurowissenschaften auf das Strafrecht

Welche Rolle spielt die Neurowissenschaft in der Strafjustiz? Immer häufiger werden Hirnscans und neurobiologische Gutachten in Gerichtsverfahren herangezogen, um die Schuldfähigkeit der Angeklagten zu bewerten. Doch wie verlässlich sind diese Befunde und welche ethischen Fragen wirft dieses Vorgehen auf? Dieser Blogbeitrag beleuchtet aktuelle Forschung, bekannte Fallbeispiele und die Grenzen neurobiologischer Argumente im Gerichtssaal.

Herbert Weinstein war ein 65-jähriger, pensionierter Werbefachmann aus New York, als er in einem Moment der Aggression seine Frau Barbara erschoss. Der Fall erregte besondere mediale Aufmerksamkeit als neurologische Untersuchungen scheinbar entlastende Beweise lieferten: Es stellte sich heraus, dass Weinstein eine schwere Schädigung des präfrontalen Kortex hatte, also des Gehirnbereichs, der zentral ist die für Entscheidungsfindung und Impulskontrolle (Morse, 2018). War er also verantwortlich für seine Tat oder Opfer seiner neurologischen Defizite und deshalb schuldunfähig? Vor Gericht wirkten sich die Hirnschäden strafmildernd aus, verurteilt wurde Weinstein aber trotzdem.

Der Fall Weinstein ist heute kein Einzelfall mehr. Häufig wird im Strafrecht auf neurologische Gutachten und Hirnscans zurückgegriffen, um zu prüfen, ob Hirnverletzungen oder Tumore das Verhalten beeinflusst haben könnten. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse beeinflussen somit zunehmend die Fragen der Kriminalität, Schuldfähigkeit und Strafmilderung (Morse, 2018). Doch ihre Rolle im Gerichtssaal ist komplex: Wie hängen ein neurobiologisch auffälliges Gehirn und die Taten eines Individuums zusammen? Und wie fließen neurowissenschaftliche Erkenntnisse in die Entscheidungen von Gutachter:innen und Richter:innen ein?

Die Frage der Schuldfähigkeit ist zentral für die rechtliche Beurteilung von Straftaten. Nach deutschem Strafrecht gilt eine Person als nicht schuldfähig, wenn sie aufgrund einer psychischen oder neurologischen Störung das Unrecht ihrer Tat nicht erkennen oder ihr Verhalten nicht kontrollieren konnte (Von Buch et al., 2022).

Schäden im präfrontalen Kortex wie bei Weinstein sind besonders relevant, da dieser Bereich Verhalten, Moralität und das Abschätzen von Konsequenzen reguliert. Durch starke Einschränkungen der Reflexionsfähigkeit und kontrolliertem Handeln können solche Schäden zu impulsiven Entscheidungen und explosiven Reaktionen führen (Darby et al., 2018).

Ein weiteres Beispiel für den Einbezug neurologischer Befunde in die Beurteilung der Schuldfähigkeit ist der Fall von Charles Joseph Whitman, der 1966 16 Menschen ermordete, bevor er sich das Leben nahm. Eine Autopsie zeigte einen Tumor im limbischen System, das mit Emotionen und Impulsivität verbunden ist. In der initialen Autopsie wurde ein Zusammenhang zwischen Tumor und Verhalten verneint, im späteren Verlauf jedoch bestätigten Gutachtende, dass der Tumor womöglich zu unkontrollierter Aggression und letztendlich zur Tat geführt haben kann. Eine direkte Kausalität konnten die Mediziner jedoch nicht bestätigen.

Studien untersuchen neben Hirnverletzungen und Tumoren auch neurologische Erkrankungen wie Demenz, insbesondere die frontotemporale Demenz, und deren mögliche Verbindung zu kriminellem Verhalten.

Die frontotemporale Demenz ist eine seltene Form der Demenz, bei der Hirnregionen hinter der Stirn und den Schläfen betroffen sind, und die sich vor allem in Veränderungen der Persönlichkeit und des zwischenmenschlichen Verhaltens äußert. In einigen Fällen führt sie zu Verhaltensänderungen, die unkontrollierte Aggression begünstigen (Darby et al., 2018). Zudem untersucht die Forschung, ob neurogenetische Faktoren kriminelles Verhalten beeinflussen könnten (Sahni & Phakey, 2023). Es wird danach gefragt, wie genetische Prädispositionen für Aggression und Impulsivität das Verhalten prägen und ob Menschen mit solchen Veranlagungen anders beurteilt werden sollten.

Doch kann ein Täter weniger schuldhaft oder gar unschuldig sein, weil beispielsweise ein Tumor oder eine neurologische Anomalie sein Verhalten beeinflusste? Und wie sollen Gerichte damit umgehen?

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse  wirken meist als mildernder Faktor – können aber auch strafverschärfend sein, etwa wenn sie auf eine erhöhte Rückfallwahrscheinlichkeit oder eine eingeschränkte Impulskontrolle hinweisen, die das Risiko weiterer Straftaten erhöht. In solchen Fällen könnten Gerichte eine längere Haftstrafe oder Sicherheitsverwahrung in Betracht ziehen. Im Fall Weinstein hatte das Gericht die Defizite als mildernden Umstand anerkannt, aber nicht als ausreichenden Grund für eine vollständige Schuldunfähigkeit. Stattdessen wurde er mit milderem Strafmaß wegen Totschlags verurteilt.

Verteidiger sind dazu angehalten, neurologische Beweise angemessen zu nutzen sie sollten jedoch niemals allein zur Beurteilung der Schuldfähigkeit herangezogen werden. Diese Befunde müssen im Kontext der psychologischen, sozialen und emotionalen Situation des Angeklagten interpretiert werden, um eine gerechte Entscheidung treffen zu können.

Fazit: Neurowissenschaftliche Erkenntnisse bieten wertvolle Einblicke in die biologischen Faktoren, die das Verhalten beeinflussen. Sie spielen eine bedeutende Rolle, sind jedoch nur ein Teil des Gesamtbildes bei der Beurteilung von Schuldfähigkeit und Kriminalität. Eine fundierte Entscheidung erfordert die Berücksichtigung aller relevanten psychologischen, sozialen und medizinischen Faktoren.

Literaturverzeichnis

Darby, R. R., Horn, A., Cushman, F., & Fox, M. D. (2018). Lesion network localization of criminal behavior. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 115(3), 601–606. https://doi.org/10.1073/pnas.1706587115

Morse, S. J. (2018). 9. Neuroscience in Forensic contexts: Ethical concerns. In Columbia University Press eBooks (S. 132–158). https://doi.org/10.7312/grif18330-010

Von Buch, J., Müller, R. & Köhler, D. (2022). Schuldfähigkeit. In Was ist eigentlich . . .? (S. 11–14). https://doi.org/10.1007/978-3-662-64617-5_3

Sahni, S.P., Phakey, N. (2023). Kriminalpsychologie: Kriminelles Verhalten verstehen. In: Sahni, S.P., Bhadra, P. (eds) Kriminalpsychologie und das Strafrechtssystem in Indien und darüber hinaus. Springer. https://doi.org/10.1007/978-981-99-4316-6_2

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