Michael J. Sandel. Gerechtigkeit – Wie wir das Richtige tun

Ullstein Verlag, 21.99€, 416 Seiten

Ist es gerecht, dass wir Steuern zahlen müssen? Sind große Vermögensunterschiede fair? Oder sollte man das Recht haben, seine Niere meistbietend zu verkaufen? Und sorgen Quotenregelungen etwa bei der Studien- oder Jobbewerbung für mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft? Wie sollte man in solchen Fragen entscheiden: Danach, was insgesamt für alle Beteiligten die meisten Vorteile oder das meiste Glück bringt? Oder steht Gerechtigkeit über solchen Nützlichkeitsabwägungen?

Mit Fragen wie diesen beschäftigt sich das Buch „Gerechtigkeit – Wie wir das Richtige tun“, des politischen Philosophen Michael J. Sandel, erschienen 2013 im Ullstein Verlag (englische Originalfassung „Justice: What’s the right thing to do?“ 2009 erschienen bei farrar; Übersetzung von Helmut Reuter). Das Buch beruht auf Sandels Vorlesung, die er regelmäßig an der Harvard University hält und die nicht nur dort zu einer wahren Institution geworden ist.

Michael J. Sandels Buch ist eine Einladung, sich mit ihm auf einen Diskurs über Moral und Gerechtigkeit zu begeben. Dabei verknüpft er aktuelle gesellschaftliche Fragen, wie z.B. Steuergerechtigkeit, Quotenregelungen, Unveräußerlichkeit von Leib und Leben mit den großen philosophischen Schriften, angefangen von Bentham und Mill, Kant, Aristoteles bis hin zu Rawls und anderen Vertretern libertärer Gerechtigkeitstheorien. Das Besondere dabei ist, dass Sandel nicht – wie sonst üblich - die verschiedenen Theorien chronologisch abarbeitet. Sandel geht einen anderen Weg. Anhand dieser gesellschaftlichen Fragen exploriert er gemeinsam mit dem Leser die verschiedenen Gerechtigkeitstheorien. Er zeigt auf, wann wir unsere Argumente auf ihnen aufbauen, aber auch, wann wir mit ihnen argumentativ an Grenzen stoßen. Damit fordert Sandel unsere Intuitionen über Gerechtigkeit heraus und macht sie uns bewusst.

Über den größten Teil des Buches hinweg behält Sandel eine neutrale Erzählperspektive bei. Erst am Ende des Buches entwirft er seine Vorstellung von Gerechtigkeit. Darin erteilt Sandel sowohl den utilitaristischen Ansätzen von Bentham und Mill als auch den libertären Theorien etwa von Rawls eine Absage: Ersteren, weil sie die Rechte des Einzelnen zu wenig berücksichtigen; letzteren, weil Gerechtigkeit darin auf eine wertneutrale Verteilungsfrage reduziert werde. Für Sandel hingegen ist Gerechtigkeit eng mit Wert- und Moralvorstellungen verbunden. Debatten über Gerechtigkeit sollten demnach auch immer Debatten über die Frage „Was ist ein gutes Leben?“ beinhalten. Bei der Frage, warum es wichtig ist, in Debatten um Gerechtigkeit explizit Moralvorstellungen einzubeziehen und warum es nicht ausreicht, Gerechtigkeit als Entfaltungsfreiheit des Einzelnen zu verstehen, bleibt Sandel leider sehr vage – trotz zahlreicher Beispiele. Seine eigene Vorstellung von Gerechtigkeit bleibt daher für den Leser schwer greifbar. Das ist schade. Vielleicht werfen ihm Kritiker auch deshalb gern vor, zwar einen guten, leicht verständlichen Einstieg in Gerechtigkeits- und Moralphilosophie zu geben, darüber hinaus aber keine Anregungen oder Antworten zu diesen Fragen parat zu haben. Tatsächlich bleibt Sandel dem Leser abschließende Antworten schuldig. Aber vielleicht liegt genau hierin auch der Reiz dieses Buches. Sandel präsentiert keine fertige Weltanschauung über Gerechtigkeitsfragen. Er wirft Fragen auf, wägt Argumente ab und regt so seine Leserinnen und Leser an, sich selbst eine Meinung zu bilden. Dabei wird immer wieder deutlich, dass wir in unterschiedlichen Situationen sehr unterschiedlich über Gerechtigkeit urteilen. Ohne explizit darauf einzugehen zeigt Sandel somit auch die psychologische Seite in der Gerechtigkeit auf: Was wir als gerecht empfinden, scheint auch davon abzuhängen, worüber wir urteilen (z.B. Unveräußerlichkeit des Lebens oder faire Verteilung von Gütern) und in welcher Situation wir diese Urteile treffen. Dass Sandel dazu vor allem auf Beispiele der amerikanischen Gesellschaft zurückgreift, mag einschränkend angemerkt werden, ist aber nicht weiter störend. Viele der genannten Beispiele lassen sich auch auf Debatten in unserer Gesellschaft übertragen.

Sandels größte Stärke liegt zweifellos in seinem Talent, komplizierte philosophische Theorien in einfache Worte und Beispiele zu verpacken und so auch interessierten Laien zugänglich zu machen. Auch die deutsche Übersetzung bleibt diesem Prinzip der einfachen Sprache treu. Allerdings gelingt ihr dies nicht immer so gut wie dem englischen Original.

Insgesamt bietet dieses Buch in der Tat einen guten Einstieg in die Gerechtigkeitsphilosophie. Darüber hinaus ist es aber auch ein spannender Diskurs über unsere Gesellschaft. In diesem Sinne ist Sandels Buch erhellend, unterhaltsam und sehr empfehlenswert.  

 

 

Autor*innen

Buchbewertung

overall
5 of 5
novelty
4 of 5
readability
5 of 5