Michael Tomasello "Mensch werden – Eine Theorie der Ontogenese"
Was macht das menschliche Denken einzigartig? Was eint und was unterscheidet uns von unseren nächsten Verwandten im Tierreich, den Menschenaffen? Diese Fragen beschäftigen den US-amerikanischen Anthropologen Michael Tomasello seit mehr als 20 Jahren. Auch in seinem jüngsten Buch „Mensch werden – eine Theorie der Ontogenese“ stehen sie im Mittelpunkt. Neu für mich als Leserin: Anders als in seinen Büchern von 2014 und 2016 untersucht Tomasello nun die individuelle Entwicklung von Denken und Moral im Säuglings- und Kleinkindalter. Seine bisherigen Überlegungen zur natur- und stammesgeschichtlichen Entwicklung menschlichen Denkens sind Grundlage dafür. Die spannende These des Autors: Wir Menschen sind durch und durch kooperative Wesen – genau das macht uns einzigartig. Obwohl wir überraschend viele kognitive und soziale Fertigkeiten mit Menschenaffen teilen, unterscheiden wir uns von letzteren durch unsere Fähigkeit zur Perspektivübernahme und geteilter Intentionalität. Was faszinierend ist: Diese Unterschiede lassen sich nicht erst im Erwachsenenalter, sondern bereits im Alter von neun Monaten bzw. drei Jahren beobachten.
Tomasello untermauert seine These mit zahlreichen Forschungsergebnissen, die er als Co-Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig von 1998 bis 2018 gesammelt hat. Als Leserin erhalte ich einen umfassenden und gut strukturierten Einblick in diese Ergebnisse: In acht Kapiteln werden wesentliche Aspekte menschlichen Denkens und Sozialverhaltens (z. B. soziale Kognition, Kommunikation, Zusammenarbeit) vorgestellt und anschaulich beschrieben, wie sich die Entwicklung von Menschenaffen und Menschenkindern unterscheidet. Interessant sind die vergleichenden Verhaltensexperimente an Kindern und Primaten, z. B. von Vierjährigen und Schimpansen im Kooperationsspiel „Hirschjagd“, um darüber Entscheidungsprozesse der beiden Spezies zu untersuchen. Da im Buch selbst nur wenige Abbildungen und Graphiken zu finden sind, lohnt der Blick auf die begleitende Website becoming-human.org. Über diese erhalte ich als Leserin Zugriff auf Videoaufnahmen der jeweiligen Experimente. Leider ist die Website nicht ins Deutsche übersetzt worden, sondern basiert auf der englischen Fassung des Buchs „Becoming Human“. Obwohl dies die Navigation auf der Website erschwert, bietet letztere spannende Einblicke in das experimentelle Schaffen Tomasellos.
Neben vielfältigen Forschungsergebnissen bietet „Mensch werden“ auch eine theoretische Einordnung von Tomasellos Befunden. Schon der Buchttitel macht deutlich, dass Tomasello das Ziel verfolgt, eine neue Theorie der menschliche Individualentwicklung (der Ontogenese) zu formulieren. Dies erfolgt im Schlussteil des Buchs. Was mich beeindruckt: Tomasello spannt einen theoretischen Bogen, der Platz für all die Befunde bietet, die er zuvor auf 415 Seiten ausführlich dargestellt hat. Auch beschränkt er sich nicht auf eine Disziplin oder Denkschule. Vielmehr gelingt es ihm, Ansätze aus Evolutionstheorie, Philosophie des Geistes und Entwicklungspsychologie überzeugend miteinander zu verknüpfen. Der Nachteil: Gerade auf Grund ihrer Differenziertheit ist Tomasellos „Theorie der Ontogenese“ recht komplex und stellt hohe Anforderungen an Vorwissen und Ausdauer der Leserschaft. Zu würdigen ist in diesem Zusammenhang die Übersetzungsleistung von Jürgen Schröder, der die vielschichtigen Inhalte des Buchs mit sprachlicher Präzision auf den Punkt bringt.
Die Kombination aus komplexen Inhalten und sachlicher Darstellung hinterlässt bei mir den Eindruck, dass sich Tomasello mit „Mensch werden“ primär an ein wissenschaftliches Fachpublikum richtet. Die breite Öffentlichkeit – und auch mich als Leserin – verliert er leider aus dem Auge. Statt mich direkt anzusprechen und mit lebendigen Geschichten abzuholen, präsentiert mir Tomasello ein komplexes Denkgebäude, das ich mir mühevoll erarbeiten muss. Auch die Frage, welche Relevanz das Buch hat und, weshalb eine Lektüre für mich als Leserin lohnenswert ist, bleibt weitgehend unbeantwortet. Am Ende lege ich das Buch somit gut informiert, aber auch etwas angestrengt zur Seite. Echte Begeisterung und Freude hat sich bei mir leider nicht eingestellt.
FAZIT: „Mensch werden“ bietet eine neue Perspektive auf die individuelle Entwicklung menschlichen Denkens und Sozialverhaltens. Das Buch besticht dabei vor allem durch die Vielfalt der dargestellten Forschungsbefunde und seine differenzierte theoretische Einordnung. Das macht die Lektüre nicht immer einfach, aber durchaus lohnenswert. Insbesondere für ein Fachpublikum, das an einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Frage, was das menschliche Denken einzigartig macht, interessiert ist, ist „Mensch werden“ daher absolut zu empfehlen.