Stanley Milgram. Das Milgram-Experiment: Zur Gehorsamkeitsbereitschaft gegenüber Autorität.
Rowohlt Taschenbuch Verlag. Der Besprechung liegt die deutschsprachige Taschenbuchausgabe zugrunde, die Roland Fleissner übersetzt hatte. Sie erschien erstmals 1982. Das englischsprachige Original „Obedience to authority“ erschien erstmalig 1974. / Preis: 8,99 Euro
Das Milgram-Experiment ist wie die ihm zugrunde liegenden Untersuchungen ein Klassiker, daran besteht wohl kein Zweifel. Wann immer ungefähr die Begriffe „Hierarchie“, „sozialer Status“ und „Gehorsam“ in nur entfernt psychologischem Kontext genannt werden, ist es fast unerlässlich, dass dieses Buch (im entsprechenden Literaturverzeichnis) auftaucht. Allerdings hat es immer den Anschein, als gehöre die Beschreibung der Milgram-Experimente zu den Büchern, die im Original kaum jemand wirklich gelesen hat. Wobei ging es also beim Milgram-Experiment tatsächlich? Im ersten Kapitel stellt Milgram die relevanten Fragen selber und beantwortet sie dann: Das Ziel war vor allem zu eruieren, wie weit Personen der normalen US – amerikanischen Öffentlichkeit gehen würden, wenn sie von einer Autoritätsperson angewiesen werden, einem anderen Menschen Schaden zuzufügen. Die Versuchsanordnung war relativ simpel: Zwei Personen nahmen an dem Experiment teil und betreten gemeinsam mit dem Versuchsleiter ein Versuchslabor. Vorgeblich geht es um die Untersuchung des Einflusses von Bestrafung auf Lernleistung. Eine der Personen ist ein „Schüler“, dessen Arme festgebunden werden, der Wortpaare lernen soll und mitgeteilt kriegt, dass er bei Fehlern einem Elektroschock ausgesetzt wird. Die andere Person ist der „Lehrer“, der bei Fehlern aufsteigend schwere Elektroschocks verteilen soll. Die Apparatur wies an den Extrempunkten die Beschriftungen „15 Volt“ und „leichter Schock“ sowie „450 Volt“ und „bedrohlicher Schock“ bzw. gar „XXX“ auf. Die Zuteilung zu den Gruppen „Schüler“ und „Lehrer“ geschieht vermeintlich zufällig, in Wirklichkeit ist aber nur eine wahre Versuchsperson anwesend, die immer die Rolle des Lehrers übernimmt. Die andere vermeintliche Versuchsperson ist ein Schauspieler, dem stets die Rolle des Schülers zugelost wird. Die wahre Versuchsperson müsste also theoretisch denken, dass auch sie die nun folgende Schülerrolle hätte erhalten können. Nach Anweisung der ebenfalls anwesenden Autoritätsperson, dem Versuchsleiter im weißen Kittel, der die Aufsicht über das Experiment führt, muss der Lehrer nach falschen Antworten den Schüler mit sukzessiv steigenden Elektroschocks bestrafen, was überraschend viele der Studienteilnehmer bis zum Ende hin taten, obwohl der Schauspieler vor Schmerzen schrie, um Entlassung aus dem Versuch flehte und sich gegen Ende einer Versuchssitzung – zusammengesunken auf seinem Stuhl – gar nicht mehr äußerte.
Milgram beschreibt unterschiedliche Studien mit zum Beispiel geringer werdender physischer Distanz zwischen Schüler und Lehrer, die Milgram zwar als „Experimente“ bezeichnet. Eigentlich handelt es sich allerdings gar nicht um Experimente, da es nicht wirkliche experimentalpsychologische Bedingungen mit zufälliger Zuweisung auf unterschiedliche experimentelle Gruppen gibt. Allerdings werden durch die Darstellung diverse Faktoren offensichtlich, die in Milgrams Studien dazu führten, dass vergleichsweise weniger Versuchspersonen das äußerste Schockniveau auslösten. Räumliche Nähe und Körperkontakt (der sicher auch teilweise untrennbar mit räumlicher Nähe zusammenhängt) scheinen hier ganz entscheidende Punkte auszumachen. Vor allem aber bewirkte die Abwesenheit der Autoritätsperson (sie teilte in diesen Fällen Anweisungen telefonisch mit) ein Absinken des Gehorsams.
Hoch anzurechnen ist Milgram, dass er selber Kapitel zu ethischen und methodologischen Problemen eingefügt hat. Eine etwas andere und mitunter auch ausführlichere Ausgestaltung dieser Kapitel hätte ich mir dennoch gewünscht. Insgesamt handelt es sich um einen Klassiker der neueren psychologischen Forschung, der sich aus meiner Sicht trotz aller aufgeführten Kritikpunkte leicht liest und durchaus interessant geschrieben ist.
Nach einem Telefonat mit dem Verlag der deutschen Ausgabe hoffe ich, dass sich in künftigen Auflagen eventuell eine kommentierte Einführung findet und zumindest diese Punkte sobald wie möglich korrigiert werden:
Stanley Milgram ist 1984 verstorben. Das von mir gekaufte Buch stammt aus der 16. Auflage 2009. Bis heute hat sich keine Person des Verlags gefunden, die die Information „… und ist heute Professor für Psychologie am Graduate Center der City University of New York“ auf Seite 4 entfernt bzw. korrigiert hat.
Diverse Passagen könnten in der Übersetzung neu formuliert werden, insbesondere solche, die die Darstellung einzelner Versuchspersonen betreffen (z.B. auf S. 66).