Emeran Mayer „Das zweite Gehirn“
Riva Verlag, 2016, 19.99 Euro
Der Titel des Buches von Emeran Mayer „Das zweite Gehirn“ lässt zunächst vermuten, dass es ausschließlich von medizinischen oder neurobiologischen Themen handeln wird. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man weiß, dass der Autor Mediziner ist und sich seit gut 40 Jahren mit der Gastroenterologie beschäftigt. Auf den zweiten Blick jedoch – und auch wenn man sich den Untertitel „Wie der Darm unsere Stimmung, unsere Entscheidungen und unser Wohlbefinden beeinflusst“ genauer anschaut – offenbaren sich erstaunlich viele Informationen und Impulse, die durchaus für psychologisch Interessierte relevant sein können.
Haben Sie beispielsweise schon einmal vom sogenannten „Bauchhirn“ gehört? Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum man von „Bauchgefühl“ spricht, wenn man eine intuitive Entscheidung getroffen hat? Oder haben Sie sich gar schon einmal die Frage gestellt, inwieweit der Darm bzw. die Ernährung psychische Aktivität, wie etwa Emotionen und Entscheidungen beeinflussen kann?
Von diesen und ähnlichen Fragen handelt das Buch. Es ist dabei in drei Teile aufgegliedert. Im ersten Teil beschäftigt sich der Autor mit dem Aufbau und der Funktionsweise des Darmnervensystems, dem sogenannten Enterischen System. Dieser Teil ist eher biologisch-medizinisch ausgerichtet und führt auf faszinierende Art und Weise in eine Welt der Mikroorganismen ein. Diese sind kleinste Lebewesen, die mit bloßem Auge gar nicht zu erkennen sind, jedoch überall um uns herum in der Welt vorkommen. Auch im menschlichen Darm sind diese sogenannten Mikroben zuhause und entscheiden hier über Gesundheit und Krankheit.
Der zweite Teil ist sicher der relevanteste für psychologisch Interessierte. Hier geht es um die Frage, ob und wie der Darm menschliche Entscheidungen und Emotionen beeinflussen kann. Gerade im Hinblick auf Intuitionen oder Gefühle, die im Bewusstsein auftauchen, ohne dass man den Grund dafür kennt, ist dies relevant. Der Autor erläutert hier, dass sensorische Signale, die im Darmnervensystem entstehen, über spezifische Nervenbahnen ans Gehirn geleitet werden. Diese sensorischen Signale, die besonders in der Inselregion des Gehirns verarbeitet werden, werden dann vom Menschen als sogenannte „Bauchgefühl“ wahrgenommen, so der Autor. Diese Aussage hat mich als Psychologin stark an Antonio Damasios weit bekannte Hypothese der somatischen Marker erinnert, die im Prinzip etwas Ähnliches postuliert: Hier wird angenommen, dass emotionale Erfahrungen „verkörperlicht“ werden. Das bedeutet, dass Signale aus dem Körperinneren (nicht nur aus dem Darm) auftreten, in der Folge als Emotionen bewusst wahrgenommen werden und schließlich unbewusst als Entscheidungsgrundlage genutzt werden. Obwohl Mayer Damasios Hypothese in seinem Buch erwähnt, habe ich ausführlichere Verbindungen zu Damasios Arbeiten vermisst, da die Annahmen doch recht ähnlich sind.
Der dritte Teil schließlich widmet sich dem Thema Gesundheit. Der Autor geht hier der Frage nach, was wir Menschen tun können, um gesund zu bleiben. Gesundheit fängt dabei laut dem Autor bei einem gesunden und funktionsfähigen Darm an. Hier gibt er auch eine ganze Reihe praktischer Tipps zum Thema Ernährung, die ebenfalls einen maßgeblichen Effekt auf psychische Parameter hat. Interessant ist dabei zum Beispiel der Tipp, dass man nicht essen solle, wenn man wütend, traurig oder gestresst ist, da erste Befunde darauf hindeuten, dass sich bei negativen Emotionen das Darm-Mikrobiom (also das Zusammenwirken aller Mikroben im Darm) nachteilig verändern kann.
Für Psychologinnen und Psychologen mag im dritten Teil vor allem Folgendes interessant sein: Hier werden Darmmikroben bspw. auch mit psychischen Störungen in Verbindung gebracht, wie zum Beispiel der Depression. Der Autor erläutert, dass selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, die typischerweise bei schweren Depressionen verschrieben werden, das serotonerge Neurotransmittersystem anregen. Dies alleine ist nicht weiter neu. Der Autor führt jedoch weiter aus, dass Serotonin nicht wie lange angenommen ausschließlich im Gehirn wirkt, sondern dass ein Großteil des Serotonins in dafür spezialisierten Darmzellen gespeichert ist. Diese Zellen weisen enge Verbindungen zum Gehirn auf und ganz besonders zu Hirnarealen, die am emotionalen Erleben beteiligt sind. Der Autor mutmaßt, dass diese Darmmikroben daher möglicherweise auch bei der Entstehung der Depression eine Rolle spielen könnten. Dies ist jedoch, wenn auch sehr interessant, ein bislang noch kaum erforschtes Gebiet. Für Psychologinnen und Psychologen, die sich mit der Erforschung der Entstehung psychischer Störungen beschäftigen, bietet diese neurobiologische Grundlage möglicherweise einen interessanten Impuls, der in zukünftigen Studien mit berücksichtigt werden kann. Laiinnen und Laien erfahren an dieser Stelle einmal mehr in eindrucksvoller Weise, wie Körper und Geist miteinander verbunden sind. Dies ist in der Tat ein Thema, welches lange bekannt und in der Fachsprache als Leib–Seele–Problem bekannt ist. Es tauchte schon früh in der Literatur auf (z. B. in der Philosophie des Geistes). Der Autor des Buches positioniert sich dabei ganz klar und postuliert, dass Körper und Geist zusammengehören und Wohlbefinden oder Unwohlsein immer auf körperlicher und geistiger Ebene zu verstehen sind. Er geht dabei über die derzeit etablierte Sichtweise, dass Körper und Geist zusammengehören hinaus und fügt den beiden Komponenten Gehirn und Geist noch eine dritte, lange ignorierte Komponente, nämlich den Darm hinzu.
Das Buch ist insgesamt leicht verständlich geschrieben, flüssig zu lesen und mit vielen nützlichen Beispielen versehen. Die Zeit beim Lesen vergeht hier sehr schnell, da der Autor recht kurzweilig schreibt. Positiv anzumerken sei in diesem Sinne auch, dass man dem Autor seine Begeisterung für sein Themengebiet deutlich anmerkt, was das Buch lebendig macht. Die Fallbeispiele über stressbedingte Magen-Darm-Störungen, die Emeran Mayer aus seiner praktischen Tätigkeit berichtet, sind dabei besonders interessant (z. B. „Bill“, S. 38f). Sie machen die Wechselwirkungen zwischen Darm und Psyche sehr schön deutlich. Komplexe biologische Vorgänge werden stets so anschaulich wie möglich erklärt. Immer wieder wird die Interaktion von Gehirn und Darm betont sowie deren Einfluss auf emotionales Erleben („der Darm [... ist] ein Theater, in dem das Schauspiel der Emotionen gespielt wird“, S. 38). Einige Umschreibungen wie zum Beispiel „Die Mikroben [...] können mithören, wenn das Gehirn den Darm davon unterrichtet, dass Sie gestresst, glücklich, ängstlich, oder wütend sind, selbst wenn Sie selbst sich dieser Gemütszustände nicht voll bewusst sind“ (S. 28) wirken auf mich jedoch ein wenig sehr plakativ. Andererseits führen sie dazu, dass sich Leserinnen und Leser, die sich noch nicht mit dem Thema auskennen, die komplexen biologischen und chemischen Vorgänge innerhalb des Körpers bildlich vorstellen können. Da dieser Rezension die deutsche Übersetzung zugrunde lag, handelt es sich möglicherweise aber auch um Eigenheiten der deutschen Sprache, sodass das englische Original ganz anders geklungen haben mag. Kritisch sei noch anzumerken, dass ich mir als Forscherin an der einen oder anderen Stelle etwas mehr methodische Klarheit in Bezug auf die wissenschaftlichen Studien, auf die der Autor im Laufes des Buches Bezug nimmt, gewünscht hätte. Es wird zwar häufig erwähnt, dass wissenschaftliche Studien zu einem bestimmten Thema durchgeführt worden sind, allerdings geht der Autor kaum darauf ein, wie diese Studien genau ausgesehen haben. Angaben zum genauen Studiendesign oder Informationen zur Art der Studie und den exakten Ergebnissen fehlen. Innerhalb des Fließtextes finden sich zudem keinerlei Quellenbelege. Zwar findet sich am Ende ein ausführliches Literaturverzeichnis, die Quellen werden allerdings nicht im Fließtext erwähnt. Falls eine Studie im Fließtext erwähnt wurde, obliegt es also der Leserschaft selbst, diese ausfindig zu machen, was teilweise kaum möglich ist. Dies hat bei mir zu dem Gefühl geführt, dass einige Thesen des Autors (besonders im Bereich der Interaktion von Darmprozessen und psychischen Phänomenen) schlecht nachprüfbar sind. Durch die stets anschauliche Schreibart weiß man zudem nicht immer, welche Ideen bereits mit empirischen Studien untermauert worden sind und welche erst mal Spekulation sind und in zukünftigen Experimenten getestet werden müssen. Psychologinnen und Psychologen, die sich mit dem Themengebiet auskennen, können diesbezüglich sicher eine Einordnung anhand des eigenen Faktenwissens vornehmen. Für Laiinnen und Laien dürfte es schwierig sein, zu unterscheiden, was bereits gesicherte Erkenntnis ist und was noch der empirischen Überprüfung bedarf (z. B. S. 188f: Darmtätigkeit und Schlaf/Traum).
Zusammenfassend lässt sich folgendes Resümee ziehen: Emeran Mayer schafft es auf unterhaltsame Art und Weise, der Leserschaft die immense Bedeutung des Darmnervensystems sowohl für das körperliche als auch das psychische Wohlbefinden zu verdeutlichen. Dabei macht er gekonnt deutlich, wie hoch entwickelt das Darmnervensystem, das „2. Gehirn“ ist und wie eng es mit dem „1. Gehirn“ in Verbindung steht. Interessierte Leserinnen und Leser bekommen so noch einen kurzen Medizinkurs in Gastroenterologie mit auf den Weg. Am Schluss der Lektüre ist man restlos davon überzeugt worden, dass der Darm tatsächlich ähnlich komplex und einflussreich ist wie unser Gehirn. Für Psychologinnen und Psychologen sind vor allem Mayers Ausführungen zu den möglichen Wechselwirkungen von Darmprozessen und emotionalen bzw. kognitiven Prozessen interessant. Ich als Psychologin konnte hieraus wichtige Impulse und Ideen für zukünftige Projekte mitnehmen. Die take-home message ist auch hier, dass körperliche und geistige Prozesse nicht losgelöst voneinander betrachtet werden sollten, sondern dass verschiedene Disziplinen gemeinsam arbeiten sollten, um ein möglichst ganzheitliches Bild des Menschen zu erhalten. Letztendlich beschäftigt sich das Buch mit einem Thema, welches lange Zeit ignoriert worden ist, welchem sowohl die Wissenschaft als auch die Medien in letzter Zeit jedoch verstärkt ihr Interesse geschenkt haben. Dies ist nicht zuletzt geschehen auch aus humoristischer Perspektive, wie zum Beispiel durch die Medizinstudentin Giulia Enders und ihren Bestseller „Darm mit Charme“.
Personen, die sich zusätzlich zu dem rezensierten Buch mit dem Thema beschäftigen möchten, empfehle ich des Weiteren Emeran Mayers Fachartikel „Gut feelings: The emerging biology of gut-brain communication“, der 2011 im Nature Magazin erschienen ist oder auch das Pionierwerk zum Darmnervensystem „Der kluge Bauch. Die Entdeckung des zweiten Gehirnes“ von Michael Gershon.