Editorial : „Politische Psychologie – Politisches Handeln verstehen und gestalten“

Der Mensch ist ein politisches Wesen („zoon politikon“). Zu dieser Einschätzung gelangte bereits Aristoteles vor mehr als 2000 Jahren. Was ist damit gemeint? Zunächst drückt sich in dieser Vorstellung die Beobachtung aus, dass Menschen als soziale Wesen naturgemäß in Gemeinschaften leben (bspw. Familie, Kommune, Staat). Die Organisation dieser sozialen Gemeinschaften ist die Kernaufgabe dessen was wir als Politik bezeichnen und so wundert es nicht, dass politisches Denken und Handeln zur Grundausstattung der menschlichen Psyche gezählt wird. Oder, um es mit den Worten Aristoteles’ zu sagen: „Wie im Samen der ganze Baum veranlagt ist, so ist im Menschen der Staat veranlagt."

Obwohl sich Philosophen seit jeher mit den psychologischen Grundlagen politischen Denkens und Handelns beschäftigen wird die Geburtsstunde der politischen Psychologie häufig auf die 1940er Jahre datiert. Ausgehend von den verstörenden Erfahrungen des zweiten Weltkriegs wurden in dieser Zeit von Theodor W. Adorno und Kollegen erste wissenschaftliche Belege für die Existenz einer [autoritären Persönlichkeit] vorgelegt. In dieser sahen Adorno und Kollegen eine Erklärungsansatz dafür, dass Menschen in totalitären Regimen zu Mitläufern und Mittätern werden. Die wissenschaftliche Untersuchung politisch relevanter Persönlichkeitsmerkmale stellt bis heute ein wichtiges Forschungsfeld innerhalb der politischen Psychologie dar.

In den vergangenen 70 Jahren hat die politische Psychologie eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte politischen Denkens und Handelns wissenschaftlich untersucht und dabei Erkenntnisse gewonnen, die für das Verständnis und die Gestaltung politischer Prozesse hilfreich und wichtig sind. Dabei haben (wie bei Adorno und Kollegen) häufig gesellschaftliche Erfahrungen und Problemstellungen den Anstoß zu Forschungsarbeiten gegeben. Im Kontext der Bundestagswahl 2013 wollen wir mit diesem Themenheft die Relevanz psychologischer Forschung für die Gestaltung politischen Handelns aufzeigen. Dabei war es uns ein Anliegen die Politischer Psychologie in ihrer Breite abzubilden, die vom Handeln und Entscheiden professioneller Politiker (Beitrag Mojzisch und Häusser), und der Wahrnehmung politischer Kommunikation (Beitrag Schneider et al.), über innergesellschaftliche Auseinandersetzungen zwischen "links" und "rechts" (Beitrag Kandler und Riemann) oder zwischen Demonstrierenden und der Polizei (Beitrag Becker), bis hin zu nationalen Identitäten (Beitrag Lauenstein & Reese) und internationalen Beziehungen (Beitrag Harth) reicht. Ausgehend von gesellschaftspolitischen Phänomenen werden daher Forschungsbereiche und Erkenntnisse auf unterschiedlichen Ebenen politischen Handelns überblicksartig vorgestellt.

1. Politische Gremien treffen immer wieder folgenschwere Fehlentscheidungen. Eines der bekanntesten Beispiele stellt die Schweinebuchtinvasion der USA im Jahre 1961 dar. Die Invasion erwies sich als Fiasko und steht seither als Sinnbild dafür, dass selbst hochqualifizierte Expertengremien nicht vor Fehleinschätzungen gefeit sind. Andreas Mojzisch und Jan A. Häusser stellen in ihrem Beitrag „Fehlentscheidungen in politischen Gremien: Wie sie entstehen und wie sie sich verhindern lassen“ Befunde aus der Forschung zu Gruppenentscheidungen vor und geben Hinweise darauf wie Fehlentscheidungen in politischen Gremien verhindert werden können.

2. Um Bürgerinnen und Bürger für politische Themen zu interessieren wird in der massenmedialen Politikvermittlung zunehmend versucht politische Unterhaltungsformate zu schaffen. Diese Entwicklung kann als Entertainisierung der Politik bezeichnet werden und findet beispielsweise Ausdruck in TV-Duellen und neuartigen politischen Talkshowformaten („Absolute Mehrheit – Meinung muss sich wieder lohnen“). Frank Schneider und Kollegen thematisieren in ihrem Beitrag „Entertainment that matters: Unterhaltung in und mit politischen Themen“ die Chancen und Risiken einer solchen Entwicklung aus einer psychologischen Perspektive.

3. Die politische Ausrichtung von Parteien in demokratischen Systemen wird häufig auf einem Kontinuum zwischen links und rechts beschrieben. So werden in Deutschland beispielsweise SPD und Bündnis90/ Die Grünen eher als links und sozial orientiert, CDU/CSU und FDP eher als rechts und konservativ eingeschätzt. Diese Links-Rechts Ausrichtung spiegelt sich auch in den politischen Orientierungen von Bürgerinnen und Bürgern wider, die ihrerseits eine erstaunliche Stabilität über die Lebenszeit aufweisen. In ihrem Beitrag „Rechts oder links? Wie Gene unsere politische Orientierung beeinflussen“ führen Christian Kandler und Rainer Riemann diese hohe Stabilität politischer Orientierungen auf genetische Einflüsse zurück.

4. Soziale und politische Protestbewegungen sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten verstärkt in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt. Die Proteste um den Bau von „Stuttgart 21“ in Deutschland, aber auch die globale Occupy-Bewegung sind Beispiele für außerparlamentarische Bewegungen, in denen sich Menschen politisch engagieren. Julia Becker stellt in ihrem Beitrag „Kollektives Handeln – Außerparlamentarischer Aktivismus“ dar, wie sich die Beteiligung an politischen Protestbewegungen psychologisch erklären lässt.

5.  Die Idee einer europäischen Union ist auch als Gegenentwurf zu einem Europa rivalisierender Nationalstaaten entstanden. Nicht nur deswegen gibt die aktuelle Entwicklung widererstarkender nationalistischer Bewegungen in Europa Anlass zur Besorgnis. Ist die Eurokrise auch eine Krise der europäischen Identität? Ausgehend von dieser Frage stellen Oliver Lauenstein und Gerhard Reese in ihrem Artikel „Besuchen Sie Europa, solange es noch steht: Zur Frage europäischer Identität in Zeiten der Krise“ psychologische Beiträge und Befunde zur Rolle der sozialen Identität im politischen Kontext vor.

6. Konflikte zwischen Volksgruppen sind seit Menschengedenken eine Ursache für Krieg und gewaltsame Auseinandersetzung. Die Überwindung dieser Konflikte gestaltet sich in der Regel schwierig und stellt häufig einen langwierigen politischen Prozess dar. Das bekannteste Beispiel dafür ist der Israel-Palästina-Konflikt, der sich seit den 1950er Jahren trotz widerkehrender internationaler Bemühungen um Befriedung immer wieder gewaltsam entlädt. Nicole Hardt gibt in ihrem Beitrag „Intergruppenkonflikte und Versöhnung“ einen Überblick über psychologische Forschung dazu, wie Versöhnung zwischen sozialen Gruppen gelingen kann.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern interessante Einblicke in die Hintergründe der politischen Psychologie und viel Spaß beim Lesen der Beiträge. Zu jedem Artikel haben angemeldete Nutzer die Möglichkeit, Beiträge zu kommentieren und mit anderen Leserinnen und Lesern zu diskutieren.

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