Das Kakerlaken-Labyrinth von Robert Zajonc

Kennst du das nicht auch: Wenn du eine knifflige Sache vor anderen vorführen musst, kommt es dir viel schwieriger vor, als wenn du allein in deinem Zimmer wärst. Vor über 50 Jahren hat der Psychloge Robert Zajonc ein berühmtes Experiment durchgeführt, um zu untersuchen, wieso das so ist. Bevor er sich dafür Menschen angeschaut hat, beobachtete er aber Insekten. Um genau zu sein: Kakerlaken. Diese ließ er durch Labyrinthe laufen, während andere Kakerlaken zuschauten. Wir haben das Experiment 2019 nachgemacht. Was glaubst du, kam dabei raus?

 

Emmi hat ganz schön viel geübt für ihr Blockflötenkonzert in der Schule vor Weihnachten. Am liebsten spielt sie Oh Tannenbaum, das ist ziemlich einfach. Viel schwieriger ist aber Kling Glöckchen Klingelingeling, da muss sie immer besonders gut aufpassen. Aber zuhause allein in ihrem Zimmer klappt es schon ganz gut. Dann ist es schließlich so weit: Das große Konzert, alle Kinder und LehrerInnen schauen zu. Oh Tannenbaum spielt Emmi so gut wie noch nie, ein großer Erfolg. Aber oh je, Kling Glöckchen Klingelingeling lief zuhause viel besser! Das hat sie leider total vergeigt – oder eher verblockflötet. Woran das wohl liegt?

Diese Frage haben sich schon viele gestellt und nach Antworten gesucht. Schwierige Aufgaben fallen einem schwerer, wenn andere dabei zuschauen. Die schwierigen Aufgaben werden durch die Zuschauenden gestört oder „sozial gehemmt“, so nennen es die ForscherInnen. Bei leichten Aufgaben ist das genau andersherum: das Publikum gibt uns einen Aufschwung, das heißt die Aufgaben gehen uns leichter von der Hand. Sie werden „sozial erleichtert“ wie ForscherInnen sagen. Diese Regel – die nicht nur für das Blockflötenspiel gilt, sondern für ganz viele verschiedene Aufgaben – wird deshalb die Theorie der sozialen Erleichterung und Hemmung genannt. Diese Theorie ist eine der ältesten Ideen in der Psychologie und wurde bereits vor über 120 Jahren diskutiert (Triplett, 1898*).

Diese Regel gilt aber nicht nur für Menschen, sondern sie tritt auch bei Tieren auf, wie zum Beispiel bei Kakerlaken oder auch Ziegen. Die ersten, die das genauer überprüfen wollten, waren Robert Zajonc und seine Kollegen vor über 50 Jahren (Zajonc et al., 1969). Bevor sie die Idee aber mit Menschen testeten, versuchten sie es tatsächlich erstmal mit Kakerlaken, weil Kakerlaken wie Menschen sehr sozial sind. Auch wenn sich Insekten natürlich von Menschen unterscheiden, kann man diese vergleichen, wenn man z. B. wie wir soziale Effekte mit Artgenossen untersuchen will. Und das hat sich gelohnt: Ihr Kakerlaken-Labyrinth ist sehr berühmt geworden und auch heute noch bekannt. Deshalb haben wir vor einiger Zeit beschlossen, das Experiment nachzumachen (Halfmann et al., 2020). Was wir genau gemacht und herausgefunden haben, möchten wir nun gerne ein bisschen genauer erzählen.

Am Anfang haben wir uns geärgert, warum es ausgerechnet Kakerlaken sein mussten. Kaninchen oder Baby-Katzen wären viel besser gewesen, die sind wenigstens schön flauschig. Der Vorteil von Kakerlaken ist aber, dass sie recht klein sind und zu den schnellsten krabbelnden Insekten der Welt zählen. Das ist schon mal beeindruckend. Außerdem sind sie tatsächlich auch sehr lernfähig, sozial und vor allem: sehr empfindlich. Die ungeteilte Aufmerksamkeit von jeder Menge anderer Kakerlaken als Publikum sollte sie also ganz schön aus dem Konzept bringen.

Bild 1: Eine erwachsene Totenkopfschabe, wie wir sie in unserem Experiment eingestezt habenBild 1: Eine erwachsene Totenkopfschabe, wie wir sie in unserem Experiment eingestezt habenWeil wir als PsychologInnen normalerweise nicht mit Insekten, sondern mit Menschen arbeiten, haben wir uns mit einer Biologin zusammengetan, die mit Kakerlaken forscht. Genauer gesagt mit Totenkopfschaben, die wir dann auch in unserem Experiment eingesetzt haben. In dem ursprünglichen Experiment von Robert Zajonc wurden andere Kakerlaken genutzt, nämlich Küchenschaben. Die sind zwar ein bisschen kleiner als die Totenkopfschaben, ansonsten unterscheiden sie sich nicht groß von unseren. Bei unseren Untersuchungen kamen keine Tiere zu Schaden und eine Gruppe von ForscherInnen, die vorher prüfen, dass es den Tieren bei solchen Untersuchungen gut geht, hat den Versuch genehmigt. Normalerweise wohnen die Kakerlaken, mit denen wir gearbeitet haben, alle zusammen in einem großen Kasten in einer Art Kakerlaken-Wohngemeinschaft. Vor unseren Untersuchungen haben wir sie für ein paar Tage in kleinere Kästen umquartiert, in denen sie alleine wohnten, mit genug Snacks (Kakerlaken lieben Äpfel) und Platz. Bevor wir mit den Testungen anfangen konnten, mussten unsere KollegInnen aus der Werkstatt der Universität erstmal ein Mini-Labyrinth nachbauen. Das war ziemlich knifflig, weil es von Zajoncs Experiment nur einen alten Bauplan und Maßangaben als Anleitung gibt. Aber das Ergebnis kann sich sehen lassen: Ein komplett durchsichtiger Kasten aus Plexiglas, durch das man die Kakerlaken prima beobachten kann.

Bild 2: Unser komplett durchsichtiger Kasten aus Plexiglas: Das Kakerlaken-LabyrinthBild 2: Unser komplett durchsichtiger Kasten aus Plexiglas: Das Kakerlaken-Labyrinth

An den Seiten des Kastens gibt es eine Start-Box und eine dunkle Zielbox, die wir mir schwarzer Pappe beklebt haben. Die Boxen sind so am Kasten befestigt, dass man sie mithilfe einer kleinen Tür öffnen und die Kakerlake ganz vorsichtig reinsetzen und auch wieder herausholen kann. Auf der anderen Seite der Box kann die Kakerlake dann in das Labyrinth reinlaufen. Und das sieht so aus: Zwischen den Boxen befindet sich eine Laufbahn, über die die Kakerlake von der Start- in die Zielbox laufen soll. Damit sie das macht, wird ein Licht angeknipst, das direkt in die Startbox leuchtet. Das tut der Kakerlake nicht weh, aber sie mag es nicht gern, weil Kakerlaken sehr lichtscheu sind. Die Kakerlake versucht dann so schnell sie kann einen dunklen Ort zu suchen, nämlich die abgedunkelte Zielbox.

Wie du auf dem Foto siehst, befinden sich neben der Laufbahn ebenfalls durchsichtige Boxen, in die man das Publikum, also jede Menge andere Kakerlaken, setzen kann. Von dort hat das Publikum einen guten Blick auf die Laufbahn, genau wie von den Tribünen in einem Sportstadion. Die Boxen haben auch kleine Löcher, durch die die Kakerlaken ihre Fühler stecken können. Und jetzt kommt der Kniff: den Kasten kann man umbauen, so dass es verschiedene Versionen gibt. Als erstes gibt es eine gerade Laufbahn, da läuft die Kakerlake einfach geradeaus in die Zielbox, wie bei einem 100m Lauf. Ziemlich einfach, oder? Es gibt aber auch eine schwierige Laufbahn, eine Art Labyrinth: Hier gibt es eine Kreuzung mit drei möglichen Wegen. Zwei davon sind Sackgassen, in denen die Kakerlake nicht weiterlaufen kann. Nur über die richtige Abzweigung kommt sie zur dunklen Zielbox, in der sie sich dann verstecken kann. Beim Labyrinth ist es also nicht so einfach, das Ziel zu finden. Fast so wie Kling Glöckchen Klingelingeling auf der Blockflöte zu spielen. Dazu kommen noch die Zuschauer-Kakerlaken, die entweder da sind und zuschauen oder eben nicht. Grund für das Experiment war es ja, dass wir wissen wollten, ob die Kakerlake besser oder schlechter beim Ziellauf wird, wenn andere Kakerlaken zuschauen. Insgesamt haben wir 120 Kakerlaken beobachtet, die entweder über die einfache Laufbahn oder durch das schwierige Labyrinth mit der Kreuzung liefen. Bei der Hälfte der Läufer-Kakerlaken waren dann auch Zuschauer-Kakerlaken dabei, bei der anderen Hälfte nicht.  Puh, das ist gar nicht so einfach zu verstehen, oder? Schau dir am besten nochmal das passende Bild an, dort kannst du alle vier möglichen Aufgaben sehen oder schau dir hier auf Youtube das Video dazu an.

Bild 3: Die verschiedenen Aufgaben des Experiments, von denen jede Kakerlake eine Aufgabe insgesamt zehn Mal hintereinander durchlaufen mussteBild 3: Die verschiedenen Aufgaben des Experiments, von denen jede Kakerlake eine Aufgabe insgesamt zehn Mal hintereinander durchlaufen musste

Jede Kakerlake musste zwar nur eine der abgebildeten vier Aufgaben machen, dafür aber zehn Mal hintereinander. Und das lief so ab: Die Forscherin setzte die Kakerlake in die Startbox und machte die Lampe an. Wegen des hellen Lichts lief die Kakerlake schnell in die Zielbox, wo es schön dunkel war, und sie sich verstecken konnte. Die Zeit, die sie zum Laufen brauchte, wurde haargenau mit einer Stoppuhr gemessen und aufgeschrieben. Das Ganze wiederholte die Forscherin zehn Mal mit jeder Kakerlake: Kakerlake in die Startbox, Licht an und Zeit stoppen, bis die Kakerlake in der Zielbox ist. Am Ende durfte die Kakerlake wieder zurück in die Wohngemeinschaft.

Bild 4: Die Kakerlake wird vorsichtig in die Startbox gesetzt, von der aus sie durch das Labyrinth läuftBild 4: Die Kakerlake wird vorsichtig in die Startbox gesetzt, von der aus sie durch das Labyrinth läuftWenn wir nun an die Theorie von Robert Zajonc und seinen Kollegen denken, dann sollte ihrer Meinung nach folgendes passieren: Am einfachsten zum Laufen ist die gerade Strecke. Bei dieser sollten die Kakerlaken durchflitzen und dabei schneller sein als beim Laufen durch das Labyrinth mit der Kreuzung. Das ist ja klar und gut zu verstehen. Zusätzlich gab es in der Theorie aber noch einen wichtigen Punkt, der uns besonders interessierte: In der einfachen Laufbahn sollte die Kakerlake schneller sein, wenn andere Kakerlaken zuschauen, als wenn sie allein läuft – wie der Oh-Tannenbaum-Effekt bei Emmi. Wahrscheinlich fühlt sich die Kakerlake gut, weil sie es schnell in die Zielbox schafft und vielleicht macht es ihr sogar Spaß, weil es so gut klappt.  Bei dem kniffligen Labyrinth mit der Kreuzung ist die Kakerlake aber vermutlich ziemlich aufgeregt, vor allem wenn sie in die Sackgassen läuft und merkt, dass es nicht weiter geht. Und wenn dann auch noch so viele andere Kakerlaken zuschauen, wird es noch schwieriger. Beim Labyrinth sollte die Kakerlake mit Publikum also länger brauchen das Ziel zu finden, als wenn keiner zuschaut – sozusagen der Kling-Glöckchen-Klingelingeling-Effekt. Bei Robert Zajonc und seinem Team konnte genau das gezeigt werden, was auch der Grund für die Bekanntheit der Studie ist. Nun waren wir aufgeregt: Klappt das bei uns auch? Hier kannst du dir Videos anschauen von den genauen Abläufen.

Tatsächlich haben wir herausgefunden, dass die Kakerlaken schneller waren, wenn sie durch die einfache Strecke gelaufen sind, als wenn sie durch das Labyrinth mit der Kreuzung liefen. So weit so gut, das überrascht uns erstmal nicht. Aber was ist mit den Zuschauer-Kakerlaken? Unser Experiment hat gezeigt, dass die Läufer-Kakerlaken immer langsamer waren, wenn sie Publikum hatten - ganz egal ob sie den einfachen oder schwierigen Weg laufen mussten. Das ist also anders als in dem 50 Jahre alten Experiment von Robert Zajonc. Aber woran liegt das? Manchmal kann es vorkommen, dass Zuschauende generell zu sehr ablenken, also nur eine „soziale Hemmung“ auftritt. Vielleicht war das auch bei unseren Kakerlaken der Fall?

Insgesamt müssen wir aber sagen, dass die Theorie der sozialen Erleichterung und Hemmung in der Vergangenheit schon oft mit Menschen überprüft wurde (Bond & Titus, 1983). Denn auch wenn Kakerlaken sehr sozial sind — was das Wichtigste für die Untersuchung war — sind sie natürlich immer noch Insekten und unterscheiden sich sehr von Menschen. Bei Menschen klappte es meist genauso wie von Robert Zajonc vorhergesagt. Zum Beispiel mussten in einem anderen Experiment Menschen Zahlen so schnell wie möglich sortieren. Nachdem sie das einige Zeit geübt hatten, kam der Test. Bei diesem waren sie entweder allein oder sie wurden von einer anderen Person beobachtet — genau wie in unserem Kakerlaken-Experiment. Und auch hier gab es zwei verschiedene Schwierigkeiten: Einige von den Personen mussten die geübte Sortier-Aufgabe nochmal machen. Das war ziemlich einfach. Die anderen mussten aber eine ganz neue Aufgabe machen, die sie noch nicht kannten – das war natürlich schwieriger. Das Ergebnis zeigt, dass die Personen, die von jemandem beobachtet wurden, bei den neuen, schwierigeren Aufgaben schlechter waren als die anderen, die allein waren (Blascovich et al., 1999).

Auch wenn unser Experiment nicht genauso geklappt hat wie vor über 50 Jahren, haben wir trotzdem viel gelernt. Unsere Ergebnisse zeigen, wie wichtig es ist, auch alte Studien nochmal genauer anzusehen und man auch bei einem Nachbau andere Ergebnisse finden kann. Und das großartige an dem Kakerlaken - Labyrinth von Robert Zajonc bleibt: dass man die Theorie der sozialen Erleichterung und Hemmung damit toll erklären kann. Und — das verraten wir nur euch — wir fanden es am Ende dann doch ziemlich spannend mal mit Kakerlaken zu arbeiten, statt immer nur mit Menschen.

*In Klammern werden die AutorInnennamen angegeben, die zu diesem Thema schon geforscht haben, z. B. so: Triplett, 1898. Das bedeutet, dass jemand namens Triplett im Jahr 1898 dazu geforscht hat. Diese Vorarbeiten findet ihr ganz unten, am Ende des Artikels, ausgelistet.

Literaturverzeichnis

Blascovich, J., Mendes, W. B., Hunter, S. B., & Salomon, K. (1999). Social "facilitation" as challenge and threat. Journal of Personality and Social Psychology, 77(1), 68–77. https://psycnet.apa.org/doi/10.1037/0022-3514.77.1.68

Bond, C. F., Jr., & Titus, L. J. (1983). Social Facilitaition: A meta-analysis of 241 studies. Psychological Bulletin, 94(2), 265-292. https://psycnet.apa.org/doi/10.1037/0033-2909.94.2.265

Halfmann, E., Bredehöft, J., & Häusser, J. A. (2020). Replicating roaches – a pre-registered direct replication of Zajonc et al. (1969) social facilitation study. Psychological Science, 31, 332-337. https://psycnet.apa.org/doi/10.1177/0956797620902101

Triplett, N. (1898). The dynamogenic factors in pacemaking and competition. American Journal of Psychology, 9(4), 507-533. https://doi.org/10.2307/1412188

Zajonc, R. B., Heingartner, A., & Herman, E. M. (1969). Social enhancement and impairment of performance in the cockroach. Journal of Personality and Social Psychology, 13(2), 83-92. https://doi.org/10.1037/h0028063

 

Bildquellen

Bild 1: Eigentum von Emma Halfmann

Bild 2: Eiegntum von Emma Halfmann

Bild 3: Eigentum von Friederike Gerbig

Bild 4: Eigentum von Emma Halfmann
 

 

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