Wer das liest...

… kann ganz schön viel! Denn Lesen ist ein bisschen wie Zaubern: Zum Beispiel kannst du das Wort „Dozibrofu“ laut vorlesen, obwohl du es sicherlich noch nie zuvor gesehen hast. Außerdem kannst du einen Satz lesen, in dem die Wröetr pölztlcih gnaz aderns asusheen. Und auch wenn etwas in einem Text nicht so genau beschrieben ist, kannst du dir die Dinge meistens trotzdem gut vorstellen. Vielleicht vermutest du deswegen auch schon, dass wir dir gleich erklären werden, wie Lesen funktioniert. 

 

 

 

Der Zauber des Lesens

Fast überall, wohin du schaust, begegnen dir Wörter, Sätze und Texte. Problemlos liest du jeden Tag Klingelschilder, Straßennamen, Aufschriften auf Müslipackungen, Spielanleitungen und manchmal sogar ganze Briefe und Bücher. Und das obwohl Wörter eigentlich nur aus ein paar Punkten und Linien bestehen. Damit du diese Punkte und Linien als Buchstaben, Wörter, Sätze und Texte verstehen kannst, brauchst du viele verschiedene Fähigkeiten (Gold, 2018*).

Bild 1: Der Zauber des LesensBild 1: Der Zauber des Lesens

Diese Fähigkeiten sind ein bisschen wie Zauberkräfte: Zum Beispiel kannst du blitzschnell Wörter erkennen – egal, ob du die Wörter schon kennst oder noch nicht. Ganze Sätze kannst du sogar mit vredhreetn Bchusatben ziemlich flüssig lesen. Und aus Texten kannst du mit ein paar Strategien deine eigenen Bilder im Kopf entstehen lassen, auch wenn diese Bilder im Text gar nicht so genau beschrieben werden. Alle Zauberkräfte zusammengenommen – Wörter erkennen, Sätze lesen, Texte verstehen – beschreiben dann das, was wir oft so einfach „lesen“ nennen.Bild 2: Lesen- ein Zusammenspiel aus verschiedenen ZauberkräftenBild 2: Lesen- ein Zusammenspiel aus verschiedenen Zauberkräften

In diesem Artikel erklären wir dir, was bei diesen Zauberkräften in deinem Kopf passiert und wie sie beim Lesen zusammenspielen.

 Zauberkraft „Wörter erkennen“

Die erste Zauberkraft deines Gehirns ist das Erkennen von Wörtern. Wenn du Wörter auf einem Blatt Papier liest, laufen eine ganze Reihe an Dingen gleichzeitig ab. Zuerst stellst du dir im Kopf vor, wie sich die Buchstaben in gesprochener Sprache anhören. Auch wenn Buchstaben eigentlich nur ein paar Punkte und Striche sind, hast du gelernt, welche Klänge Buchstaben haben. Der Buchstabe „T“ kann T, T ,T oder t geschrieben werden und trotzdem wirst du immer wissen, wie er in den Wörtern Ton, Tante, Bett oder rot“ ausgesprochen werden muss. Die einzelnen Buchstaben setzt dein Gehirn dann zu Silben zusammen. Aus diesen Silben setzt es wiederum ganze Wörter zusammen. Bei Leserinnen und Lesern funktioniert dieses Zusammensetzen automatisch und blitzschnell. Versuch zum Beispiel mal, das folgende Wort anzuschauen, ohne es zu lesen: König.

Das geht gar nicht, oder? Als Leserinnen und Leser haben wir nämlich gelernt, bekannte Wörter sofort „auf einen Blick“ zu erkennen (Coltheart, 2005). Das ist möglich, wenn die Schrift des Wortes als Bild in deinem Gehirn abgespeichert ist. Damit ein solches Bild in deinem Gehirn entsteht, musst du das Wort schon sehr häufig gelesen haben. Das Wort ist dann als Bild in einer Art Wörterbuch im Gehirn abgespeichert. Dein Gehirn kann dann auf dieses Bild zurückgreifen und du erkennst das Wort innerhalb von Millisekunden. Dabei erfasst du nicht mehr jeden Buchstaben einzeln und hintereinander, sondern das ganze Wort auf einmal.

Bei unbekannten Wörtern ist das für dein Gehirn schwieriger. Lies zum Beispiel mal das folgende Wort: Dozibrofu. Wenn du so ein unbekanntes Wort liest, nimmt dein Gehirn einen Umweg über die Laute des Wortes. Das Gehirn muss das ganze Wort wieder in seine einzelnen Silben aufteilen und diese nacheinander erlesen (Do-zi-bro-fu). Das Erkennen des Wortes dauert deswegen etwas länger. Weil du für die deutsche Sprache gelernt hast, wie du jeden Buchstaben aussprichst, kannst du auch ein Fantasiewort wie „Dozibrofu“ Silbe für Silbe erlesen. Indem du die Klänge der Silben dann zusammensetzt, kannst du das Wort als Ganzes vorlesen. So kannst du jedes Wort erlesen – egal, ob es einen Sinn ergibt oder frei erfunden ist. Vielleicht erinnerst du dich auch noch, wie anstrengend das Lesen von einzelnen Wörtern für dich früher war. Damals musstest du noch Buchstabe für Buchstabe einzeln erlesen. Jetzt, wo du viel öfter das Wort direkt als Ganzes erkennst, ist das Lesen leichter geworden.

Als geübte Leserinnen und Leser können wir also bekannte Wörter schnell und automatisch erkennen. Unbekannte Wörter können wir aber auch erlesen, indem wir die Klänge einzelner Buchstaben und Silben zu einem ganzen Wort zusammensetzen.

Zauberkraft „Sätze lesen“

Das schnelle Erkennen von Wörtern ist notwendig für die zweite Zauberkraft, das flüssige Lesen von Sätzen. Auch bei dieser Zauberkraft werden wieder kleine Bausteine (einzelne Wörter) zu größeren Bausteinen (ganze Sätze) zusammengesetzt.

Wie das funktioniert, weiß man aus Experimenten, in denen man die Augenbewegungen von Menschen beobachtet hat, während sie lesen (Rayner & Duffy, 1986). Dabei stellte man fest: Wir lesen nicht hintereinander Wort für Wort. Vielmehr machen unsere Augen immer wieder ruckartige Bewegungen – mal springen wir beim Lesen vor, mal zurück. Manchmal machen wir kurze Stopps, manchmal überspringen wir sogar ganze Wörter. Das kannst du selbst auch beobachten. Frag eine Person, ob sie dir einen Text vorlesen kann und beobachte währenddessen ihre Augen. Du wirst sehen, dass die Augen während des Lesens immer wieder vor- und zurückspringen. Durch so ein Fixieren einzelner Wörter und das Überspringen unwichtigerer Wörter können erfahrene Leserinnen und Leser zwischen 200 und 300 Wörtern pro Minute lesen (Dehaene, 2012).

Je mehr Übung wir im Lesen gewinnen, desto schneller können wie auch ganze Sätze lesen. Slbset wnen die Bchusatben in eniem Staz pölztlcih vretuachst snid, hsat du nur wnieg Porbelme. Vielleicht hast du auch den Tippfehler im vorletzten Satz überlesen. Das passiert, weil dein Gehirn nicht mehr nur einzelne Buchstaben erkennt. Stattdessen werden ganze Wörter zu einem Satz zusammengefügt. Dieses schnelle Lesen von Sätzen hilft dir dabei, dass du dich mehr auf den Inhalt – also die Bedeutung des Gelesenen – konzentrieren kannst.

Zauberkraft „Texte verstehen“

Lesen ist mehr als das schnelle Erkennen von Wörtern und das flüssige Lesen von Sätzen. Lesen bedeutet vor allem, zu verstehen, was jemand anderes aufgeschrieben hat. Durch das Lesen von Texten kommen wir an Informationen heran, die uns jemand anderes hinterlassen hat: Wir können durch den Text miteinander sprechen. Dazu müssen wir als Leserinnen und Leser unsere eigenen Bilder vom Inhalt entwickeln und Schlussfolgerungen ziehen. Lies dir zum Beispiel diesen kurzen Text durch: Jeden Morgen setzte König Neko voller Stolz seine Krone auf. Aber heute konnte er sie einfach nicht finden. Er rief seinen Diener. Der musste grinsen und brachte dem König einen Spiegel.Wahrscheinlich verstehst du problemlos, dass König Neko seine Krone wiederhaben möchte. Du verstehst, dass er seinen Diener um Hilfe fragt, wo die Krone sein könnte. Du verstehst, dass der Diener (und nicht König Neko) grinsen muss. Und du verstehst, dass König Neko die Krone schon die ganze Zeit auf dem Kopf trägt. All das denkst du beim Lesen mit, obwohl es gar nicht so genau in dem Text steht.

Vielleicht kennst du die Redewendung „zwischen den Zeilen lesen“. Sie bedeutet, dass man auch Dinge herleiten kann, die jemand nicht direkt gesagt hat. Im Grunde lesen wir fast immer „zwischen den Zeilen“, wenn wir einen Text verstehen möchten. Wir verstehen nämlich Texte, indem wir uns unsere eigenen Vorstellungen machen, was der Autor oder die Autorin damit gemeint haben könnte. Diese Bilder, die Leserinnen und Leser dabei im Gehirn entwickeln, werden auch mentale Repräsentationen genannt (Kintsch, 1998). Beim Lesen werden unsere inneren Bilder ständig ergänzt, weil wir unser Wissen mit den neuen Informationen aus dem Text zusammenbringen. Beim ersten Satz aus unserer Geschichte stellen wir uns zum Beispiel zunächst nur einen König vor, der glücklich über seine Krone ist. Im Laufe der Geschichte werden unsere Bilder dann erweitert: Wir stellen uns den König jetzt erstmal ohne Krone vor. Dann erfahren wir ja, dass der Diener ihm grinsend einen Spiegel bringt. Diese Informationen verknüpfen wir dann, um zu schlussfolgern: In dem Spiegel erkennt der König, dass er die Krone die ganze Zeit schon auf dem Kopf trägt. Darüber ist er vermutlich glücklich, weil er seine Krone wiedergefunden hat.Bild 3: Mentale Repräsentationen werden beim Lesen erweitertBild 3: Mentale Repräsentationen werden beim Lesen erweitert

Solche mentalen Repräsentationen können von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich sein. Zum Beispiel hängen sie davon ab, wie viel eine Leserin oder ein Leser schon über das Thema weiß. Wer nicht weiß, was eine mentale Repräsentation ist, wird aus den vorherigen Sätzen nicht verstehen, warum Menschen sich darin unterscheiden können und warum sie vom Vorwissen abhängen. In so einem Fall kann eine Leserin oder ein Leser Strategien anwenden, um den Text besser zu verstehen.

Zum Beispiel können wir schwierige Wörter wie „mentale Repräsentationen“ klären, indem wir sie in einem Wörterbuch nachschlagen, im Internet recherchieren, eine andere Person fragen oder sie uns durch die Sätze drumherum erschließen. Manchmal müssen wir sogar wieder ganze Absätze in einem Text nach oben springen. In diesem Text können wir zum Beispiel weiter oben nachlesen, dass mentale Repräsentationen innere Bilder sind, mit denen wir Informationen aus einem Text zusammenbringen.

Auch wenn diese inneren Bilder von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein können, sind sie trotzdem nicht beliebig. Die eigenen Bilder sollten sich nicht zu weit von den Informationen aus dem Text entfernen. Ansonsten würde man seine eigene Geschichte erfinden und nicht mehr das erfahren, was uns jemand eigentlich mitteilen wollte. Wenn wir zum Beispiel aus unserer Königsgeschichte schlussfolgern, dass der König ein grün-gepunktetes Flügeltier im Spiegel sieht, das die Krone gestohlen hat, ist das vermutlich nicht das, was uns der Autor oder die Autorin mit dem Text sagen wollte.

Bild 4: Mentale Repräsentationen sollten nicht frei erfunden werdenBild 4: Mentale Repräsentationen sollten nicht frei erfunden werden

Fassen wir also noch einmal zusammen: Um Texte zu verstehen, entwickeln wir also sogenannte mentale Repräsentationen. Diese helfen uns, die Informationen sinnvoll zusammenzustellen und zwischen den Zeilen zu lesen. Durch unser Vorwissen und durch Schlussfolgerungen, die wir aus dem Text ziehen, werden diese Bilder dann immer weiter ausgebaut.

Wer das liest, kann ganz schön viel

Lesen ist für dein Gehirn keine leichte Aufgabe. Häufig merken wir gar nicht, wie viel unser Gehirn leistet, wenn wir lesen. Es muss Buchstaben, Silben und Wörter erkennen. Es muss Sätze flüssig lesen. Und es muss Texte verstehen, auch wenn darin nicht alle Informationen gegeben sind, die wir eigentlich zum Verstehen benötigen. Viele Dinge laufen beim Lesen also gleichzeitig ab.

Durch dieses Zusammenspiel der einzelnen Zauberkräfte entsteht nochmal etwas ganz Besonderes: Wenn du liest, kannst du dir Gedanken zu eigen machen, die jemand anders an einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt aufgeschrieben hat. Zum Beispiel kannst du alles, was wir hier in diesem Text – im Dezember des Jahres 2022 in der Stadt Münster – für dich aufgeschrieben haben, zu einem späteren Zeitpunkt an einem anderen Ort erfahren. Die Informationen aus den Texten, die du liest, kannst du dann für dich selbst nutzen und in neuen Situationen anwenden. Zum Beispiel kannst du dich nach diesem Text fragen: „Was denke ich jetzt über das Thema Lesen? Was möchte ich mir merken? Was möchte ich noch wissen?“ Und dann für dich in vielen anderen Texten weiterlesen.

*In Klammern werden die Autor*innennamen angegeben, die zu diesem Thema schon geforscht haben, z. B. so: Gold, 2018. Das bedeutet, dass jemand namens Gold im Jahr 2018 dazu geforscht hat. Diese Vorarbeiten findet ihr ganz unten, am Ende des Artikels, aufgelistet.

Literaturverzeichnis

Coltheart, M. (2005). Modeling reading: The dual-route approach. In M. J. Snowling & C. Hulme (Hrsg.), The science of reading: A handbook (S. 6-23). Blackwell Publishing.

Dehaene, S. (2012). Lesen. Knaus.

Gold, A. (2018). Lesen kann man lernen. Vandenhoeck & Ruprecht.

Rayner, K., & Duffy, S. A. (1986). Lexical complexity and fixation times in reading: Effects of word frequency, verb complexity, and lexical ambiguity. Memory & Cognition, 14(3), 191–201.

Bildquellen

Bild 1: cc-by-nc4.0 Arbeitseinheit Diagnostik und Evaluation im schulischen Kontext / Universität Münster

Bild 2: cc-by-nc4.0 Arbeitseinheit Diagnostik und Evaluation im schulischen Kontext / Universität Münster

Bild 3:cc-by-nc4.0 Arbeitseinheit Diagnostik und Evaluation im schulischen Kontext / Universität Münster

Bild 4: cc-by-nc4.0 Arbeitseinheit Diagnostik und Evaluation im schulischen Kontext / Universität Münster 

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