Dein gestresstes Gehirn- Was macht eigentlich ein Tiger im Klassenzimmer?

Mit deinem Gehirn denkst du. Ob Mathe oder Schwimmen, dein Gehirn lernt alles. Aber wusstest du, dass das auch manchmal ein Nachteil sein kann? Dein Gehirn kann auch Stress lernen. Wir erklären, was bei schwierigen oder schlimmen Dingen alles in deinem Kopf und Körper passiert, z. B. bei Schulstress, Ärger mit den Eltern oder nach einen schweren Unfall. Und wir erklären, dass Stress eigentlich ganz normal ist, manchmal gut aber manchmal auch schlecht sein kann. Und natürlich, was du selbst für dein Gehirn tun kannst.Bild 1: GehirnBild 1: Gehirn

Dilara im Stress

Dilara rannte so schnell sie konnte. Sie musste unbedingt den Bus kriegen. Zuspätkommen wäre eine Katastrophe. Sie konnte gestern einfach nicht einschlafen. Die gestern geübten Worte schwirrten in ihrem Kopf herum. Und dann hatte sie vergessen, den Wecker zu stellen. Als sie aufwachte und auf die Uhr schaute, war sie so schnell sie konnte aus dem Bett gesprungen und ohne Frühstück losgerannt. Ihre Lunge brannte, ihr Herz pochte, Hunger spürte sie keinen mehr. Aufs Klo hatte sie es auch nicht mehr geschafft, aber das merkte sie jetzt nicht. Jetzt alles oder nichts! Dilara flog über die Straße und erreichte geradeeben den Bus. Als sich Dilara im Bus hinsetzt, rast ihr Herz, sie schwitzt und ist völlig außer Atem. Es dauert etwas, bis sich ihr Körper beruhigt hat und Dilara wieder normal atmen kann. Der Herzschlag wird langsam und ihre Beine fühlen sich an, als hätte jemand warmes Wasser hinein geschüttet.

Was ist im Körper passiert?

Unser Körper kann sich an unterschiedliche Situationen anpassen. Bei Dilara sehen wir Stressanpassungen. Dilara erreicht den Schulbus. Das heißt, der Stress ist hier etwas Gutes! Sie bekommt genügend Energie und Kraft, um schnell zu rennen. Ein ganzes System ist dabei angesprungen. Wir nennen es das sympathische Nervensystem und die Hauptrolle spielt hier der Sympathikus. Das hat aber nichts mit Sympathie zu tun.

Der Sympathikus sorgt dafür, dass wir Menschen uns zum Beispiel gegen wilde Tiere verteidigen können. Oder zumindest schnell weglaufen. Aber eben auch um pünktlich zur Klassenarbeit zu kommen. Das funktioniert ein bisschen so wie ein Gaspedal: das Herz schlägt schnell und stark, damit die Muskeln viel Blut und Kraft bekommen, die Pupillen werden groß (und können besser im Dunkeln gucken), die Lunge kann viel Luft aufnehmen. Was man in so einer Situation nicht braucht, wie Hunger, oder der Drang aufs Klo zu gehen, wird blockiert, das ist was für später.

Bild 2: Info für Schlaumeier 1, Stress und BotenstoffeBild 2: Info für Schlaumeier 1, Stress und Botenstoffe

Bild 3: Sympathikus und ParasympathikusBild 3: Sympathikus und Parasympathikus

Am Nachmittag liegt Dilara erschöpft auf ihrem Kuschelkissen. Alles ist gut gegangen, alle Wörter, die Sie geübt hatte, waren drangekommen. Sie hört ihr Lieblingshörspiel. Ihre Mutter hat ihr einen warmen Tee gemacht. Sie atmet tief und gleichmäßig, ihre Hände sind ganz warm.

Der Gegenspieler des Sympathikus ist der Parasympathikus. Das parasympathische Nervensystem ist für Entspannung da. Die Verdauung wird dabei angekurbelt, um Gegessenes aufzunehmen. Deshalb blubbert dein Bauch, wenn du entspannt und ruhig bist. Auch merkt man Hunger oder wenn man aufs Klo muss. Das passiert weil das Gehirn signalisiert: Alarm Ende, alles in Ordnung.

Bild 5: Info für Schlaumeier 2, kurzer und langer StressBild 5: Info für Schlaumeier 2, kurzer und langer Stress 

Hast du auch manchmal so Tage wie Dilara? Wie merkst du, dass du Stress hast? Was kannst du dagegen tun? Zum Entspannen kannst du dir einen Trick zum Nutzen machen, denn du kannst deinen Parasympathikus anschalten, auch wenn du eigentlich gestresst bist, schau in Infobox 1 (vgl. Boie, 2013 und Krüger, 2011).

Bild 6: Infobox 1Bild 6: Infobox 1

Der Tiger im Klassenzimmer

Mattes sitzt in der Schule. Die Mathestunde hat begonnen. Ein unangenehmes Gefühl macht sich breit. Die Hände werden kalt und es fühlt sich an, als hätte er Steine verschluckt. Mattes mag Mathe überhaupt nicht. Die Lehrerin schreibt eine Aufgabe an die Tafel: “Mattes, kommst du bitte nach vorne und löst das so, wie letzte Stunde besprochen?”. Mattes merkt, wie sein Kopf heiß wird. Dann kalt. Sein Herz klopft. Wie ein Roboter steht er auf und geht Richtung Tafel. Es ist für ihn so, als würde er gar nicht selbst gehen, sondern sich dabei zusehen. Er dreht sich zur Lehrerin. “Mattes, komm, versuch‘s mal…” Die Stimme kommt ihm vor wie aus weiter Ferne, sein Kopf ist leer, seine Knie sind weich, sein Herz rast. Mattes möchte einfach nur weg.

 Bild 7: AmygdalaBild 7: Amygdala

Was ist Angst?

Sicher hast du dich schonmal so, wie Mattes gefühlt. Mattes hat Angst, das ist ein Gefühl, das oft in einer stressigen Situation entsteht. Wie sich Angst im Körper zeigt, ist bei jedem Menschen unterschiedlich, aber viele bekommen ein unangenehmes Gefühl im Magen und Bauchschmerzen. Oder schwitzige Hände, Zittern, Herzklopfen... Andere haben Kopfschmerzen und schlafen schlecht.

Wir merken die Angst aber auch im Kopf - du bist vielleicht nervös und unkonzentriert. Oder es fühlt sich so an, als sei dein Gehirn unter Strom. Und dir gehen nur noch Sachen durch den Kopf, die nicht hilfreich sind, sondern die Angst noch schlimmer machen (Boie, 2013*). Wenn wir Angst haben, dann machen wir manchmal Sachen, die wir ohne Angst ganz anders machen würden - manchmal rennen wir einfach weg (wenn das geht) oder manchmal halten wir es einfach aus (so wie Mattes).

Jetzt fragst du dich bestimmt: “Wenn sich Angst so schlecht anfühlt, warum haben wir sie dann?” Um das zu verstehen, müssen wir uns anschauen, was dabei im Gehirn passiert und warum.

Was passiert bei Stress und Angst im Gehirn?

Die Forschung hat gut untersucht, was bei uns im Gehirn bei Stress und Angst passiert (Codrington, 2020). Dein Gehirn besteht aus mehreren Teilen. Stell es dir vor wie einen Baum mit Wurzeln. Die Wurzeln sind ein ganz wichtiger Teil und liefern Wasser und Nährstoffe. Beim Gehirn heißt das Stammhirn und ist für wichtige Dinge zuständig, über die du nicht nachdenken musst, Atmen oder der Herzschlag zum Beispiel.

Die Verbindung zwischen Wurzeln und Ästen ist der Baumstamm - er sorgt dafür, dass Wasser und Nährstoffe weitergeleitet werden. Das ist im Gehirn das Mittelhirn. Da drin ist ein wichtiges Zentrum, das limbische System. Das bestimmt, wie wir fühlen, was wir tun, was uns in Erinnerung bleibt. Eine Struktur darin hat die Form einer Mandel und deshalb heißt sie Mandelkern (auf Schlau: Amygdala). Der Mandelkern ist verantwortlich für intensive Gefühle, wie z. B. Angst, aber auch Freude. Die Äste sind der jüngste Teil des Baumes - im Gehirn das Großhirn. Das ist verantwortlich für alles, was du bewusst denkst und tust. Dieser Teil heißt frontaler Kortex.

Warum haben wir Angst?

Wir Menschen sind schon ziemlich lange auf der Welt und unser Gehirn ist darauf ausgelegt, uns vor Gefahren zu schützen, Tiger zum Beispiel. Wir haben gelernt, Gefahren schnell zu erkennen und ganz schnell unser Stresssystem einzuschalten. Wenn du im Dschungel umher gehst und plötzlich ein hungriger Tiger vor dir steht, dann hast du keine Zeit nachzudenken. Deshalb schaltet dein Gehirn - das Angstzentrum im Mittelhirn - alles, was kompliziert ist, ab. Es geht nur noch um Kämpfen oder Fliehen – Oder darum, sich einfach tot zu stellen – eine „Nichts-geht-mehr-Situation“ (Krüger, 2011). So würden es auch eigentlich alle Menschen tun - es ist uns angeboren.

Nun gibt es aber Menschen und Situationen, die nicht gefährlich sind, aber dennoch alles auf Alarm steht. Das Problem ist, dass dein Gehirn bei Angst nicht unterscheidet zwischen einem Tiger oder einer Mathelehrerin.

So war es auch bei Mattes: als er an die Tafel musste, hatte er solche Angst, dass er gar nichts mehr sagen und tun konnte, sondern einfach erstarrte. Es war so, als würde ihn ein hungriger Tiger fragen, ob er ihn zum Abendbrot verspeisen kann und nicht die eigentlich ganz nette Lehrerin ihm nur eine Matheaufgabe stellte.

Wie kann es Mattes schaffen, wieder nachzudenken und einen geraden Satz über die Lippen zu bringen? Anders: Wie bekommt man jetzt das Großhirn aktiv, damit es dem Angstzentrum sagen kann: Stopp mal, alles in Ordnung, keine Gefahr? Schau in Infobox 2.Bild 8: Infobox 2Bild 8: Infobox 2

Ein besonderer Stress: Was ist ein Trauma?

Wir können also auf verschiedene Arten Stress und Angst erleben - wie Dilara im Alltag, oder Mattes in der Schule, aber natürlich auch gefährlichen Situationen: zum Beispiel bei einem schlimmen Unfall, wenn man überfallen wird oder wenn um einen herum Krieg ist (Roberts, 2018). Das nennt man dann Trauma. Das, was bei einem Trauma in unserem Gehirn passiert und was wir in unserem Körper spüren, ist ähnlich wie bei Stress und Angst. Aber zusätzlich passiert bei einem Trauma noch mehr. Wie bei Mariya:

Mariya

Mariya ist zwölf und lebte mit ihren Eltern in der Ukraine. Im Februar 2022 ging der Krieg los, Mariya musste oft bei Luftalarm in den Bunker und hat die Explosionen gehört. Alle hatten Angst. Im Herbst ist Mariya mit ihrer Mutter und ihren zwei Geschwistern nach Deutschland gekommen. Sie sind froh, hier zu sein, machen sich aber große Sorgen um ihre Familie, die noch in der Ukraine ist. Mariya geht hier zur Schule und konnte schon Freundinnen finden. Aber immer wieder geht es ihr nicht gut. Mariya kann nicht gut schlafen, hat Albträume, ist in der Schule müde und unkonzentriert und hat auf kaum etwas Lust. Auch ist sie schnell wütend und weint. Das war früher nicht so. Sie ist oft schreckhaft und es kommen oft Bilder in den Kopf ohne, dass sie das will. Ganz besonders schlimm war es an Silvester bei Feuerwerk - sie hatte Panik und es war so, als ob sie wieder im Krieg war.

Bild 9: TraumaBild 9: Trauma

Der Unterschied zwischen Stress im Alltag und Stress bei einem Trauma ist folgender: Bei Dilara und bei Mattes waren es schwierige Momente, Angst, Panik und Herzrasen. Aber das ging ja alles wieder vorbei. Dilara hat den Bus bekommen. Und Mattes’ Mathestunde ging vorbei.

Manche Menschen entwickeln nach einem schlimmen Ereignis ein Trauma. Und beim Trauma ist das so eine Sache. Das Gehirn von Mariya sagt praktisch die ganze Zeit: Mariya, pass auf, jedes laute Geräusch kann eine Bombe sein. Die Welt ist unsicher!

Und das obwohl Mariya jetzt hier ist und in Deutschland kein Krieg ist und keine Bomben fallen. Es fühlt sich für sie alles unsicher an. Die gute Nachricht: Es gibt ExpertInnen, die Mariya mit Gesprächen und Übungen helfen können, ihr Trauma zu bewältigen. Eine hilfreiche Übung, die dabei oft gemacht wird, stellen wir dir in Infobox 3 vor (vgl. Krüger, 2011).

Bild 10: Infobox 3Bild 10: Infobox 3

Zum Ende möchten wir noch über Widerstandskraft (auf schlau: Resilienz) sprechen. Nicht alle Menschen entwickeln nach einem Trauma oder nach viel Stress Probleme, die wir oben beschrieben haben. Das kann passieren, muss aber nicht. Stress und Resilienz sind Themen mit denen sich die Wissenschaft schon lange beschäftigt. Die Forschung möchte herausfinden, warum nicht alle Menschen gleich auf Stress reagieren, wie alles im Gehirn und Körper funktioniert und wie Stress und Gesundheit zusammenhängen - und vor allem auch, was man gegen Dauerstress tun kann.

Du hast gelernt, wie sich Stress anfühlt, was dabei im Gehirn passiert, dass es verschiedene Arten von Stress gibt, und wir aus verschiedenen Gründen Stress haben können. Wir hoffen, wir konnten dir ein paar Tricks gegen Stress vorstellen! Stress und Angst haben ist normal, aber manchmal kann unser Körper nicht gut damit umgehen. Deshalb zum Schluss noch zwei wichtige Dinge:

    1. Nicht vergessen: Familie und FreundInnen

      Oft ist es hilfreich, Unterstützung bei Personen zu suchen, die dir wichtig sind, z. B. bei deinen Freunden oder deinen Eltern. Erzähle ihnen, was los ist bei dir. Vielleicht haben Sie ja eine Idee, was du tun kannst- oder was ihr zusammen tun könnt! Aber was ist, wenn du merkst, dass dein Stress nicht weg geht? Oder was ist, wenn dir ein Trauma passiert?

    2. Hole dir Unterstützung!

      Es gibt Personen, so wie Jan oder Claudia, die sind genau dafür da, dass sie Kindern und Jugendlichen helfen, mit Kummer, Wut, Ängsten, Sorgen und anderen blöden Gefühlen umzugehen. Was ihr dann macht heißt Psychotherapie. Du kannst dir das so vorstellen: wenn du etwas mit den Augen hast, gehst du zum Augenarzt. Wenn du etwas mit den Ohren hast, zum Ohrenarzt. Und wenn es dir nicht gut geht, dann zu einem Arzt oder Spezialisten für Gefühle. Sprich mit deinen Eltern darüber, wie du dich fühlst. Sie werden dir dabei helfen, die richtige Unterstützung zu bekommen.

      Beratung für dich gibt es auch telefonisch, ruf einfach die Nummer gegen Kummer an! Da kannst du auch anrufen, ohne zu sagen, wer du bist. Vertrauensvoll, kostenlos und jederzeit möglich! Tel.: 116111

      Deine Eltern können sich auch beraten lassen. Die Nummer gegen Kummer für Eltern ist Tel.: 0800 111 0 550

      Weitere Infos: www.nummergegenkummer.de

*In Klammern werden die Autor*Innennamen angegeben, die zu diesem Thema schon geforscht haben, z. B. so: Boie, 2013 Das bedeutet, dass jemand namens Boie im Jahr 2006 dazu geforscht hat. Diese Vorarbeiten findet ihr ganz unten, am Ende des Artikels, ausgelistet.

 Literaturverzeichnis

Literatur für die Kids:
Port, M. (2013). Das mutige Buch. Klett Kinderbuchverlag.

Roberts, C. (2018). Wie ist es, wenn man kein Zuhause hat? Alles über Flucht und Migration.  Große Fragen kindgerecht erklärt. Gabriel in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH.

Boie, K. (2012). Kirsten Boie erzählt vom Angsthaben. Oetinger Taschenbuch.

Lang, S. & Lang, M. (2022). Kein Stress, Jim! Lustiges Comic-Buch über den Umgang mit Stress und Gefühlen. Loewe Graphix.

Krüger, A. (2011). Powerbook. Erste Hilfe für die Seele. Elbe & Krüger Verlag.

Literatur für die Erwachsenen:
Siegel, D., & Bryson, T. (2019). Achtsame Kommunikation mit Kindern: zwölf revolutionäre Strategien aus der Hirnforschung für die gesunde Entwicklung Ihres Kindes. Arbor Verlag.

Bildquellen

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