Wie verständigen wir uns eigentlich in Alltagssituationen?
Dieser Beitrag wurde zunächst in englischer Sprache in der englischsprachigen Ausgabe (4/2009, Ausgabe 9) des In-Mind Magazins veröffentlicht.
Kürzlich kam nach einer Vorlesung über „Zwischenmenschliche Kommunikation“ ein Student auf mich zu und stellte mir eine Frage zu dem im Kurs verwendeten Buch. Ich beantwortete seine Frage und wir unterhielten uns eine Weile über das Buch. Plötzlich stellten wir jedoch fest, dass der Student über ein Marketingbuch sprach, während ich mich auf ein kursbegleitendes Buch zum Thema „Kommunikation“ bezog. Wie sich herausstellte, wollte der Student die nachfolgende Vorlesung besuchen, hatte jedoch den Dozenten noch nicht kennengelernt. Und so nahm er an, dass ich sein Dozent sei, nachdem ich in meinen Unterlagen blätternd vor dem Hörsaal stand. Die meisten haben ähnliche Situationen bereits erlebt. Nachdem man eine ganze Zeit lang über ein Thema gesprochen hat, dämmert es einem plötzlich, dass man über verschiedene Dinge spricht.
Die Tatsache, dass derartige Formen von Missverständnissen entstehen, wird verständlich, wenn wir uns genau ansehen, was wir in Unterhaltungen sagen. Das, was wir sagen, ist nämlich ziemlich ungenau und bisweilen zweideutig. Nehmen wir ein einfaches Beispiel wie „Ich bin bald da“. Diese Worte können entweder „in einer Minute“ oder „morgen“ bedeuten. In ähnlicher Weise kann eine Aussage wie „Wir müssen uns über Obama wundern“ alles Mögliche bedeuten, sowohl positiv als auch negativ. Zudem werden viele sprachliche Äußerungen wie zum Beispiel Bitten indirekt formuliert. Anstatt zu sagen „Mach die Tür zu“, sagt man häufig „Es ist ganz schön kalt hier drinnen“ oder „Hoffentlich entwischen uns die Katzen nicht“. Und schlimmer noch: Manchmal meinen wir genau das Gegenteil von dem, was wir sagen (z. B. das ironische „Du bist mir ja ein lieber Freund“) oder etwas gänzlich Verschiedenes von dem, was wir wörtlich äußern (z. B. „Du bist mein Sonnenschein“). Wenn Worte so zweideutig sein können, wie schaffen wir es dann eigentlich, uns zu verständigen?
Das Verstehen der wörtlichen Bedeutung einer Reihe von Wörtern ist offensichtlich nur der Ausgangspunkt beim Interpretieren der Redeabsicht eines/r Sprechers/in. Eine der wichtigsten Aufgaben des/r Hörers/in besteht folglich darin, die Absicht hinter den Worten eines/r Sprechers/in herauszufinden. Die Sprechakttheorie (Austin, 1962; Searle, 1969) stellte einen der ersten Versuche dar herauszufinden, wie Menschen das tun. Der/die HörerIn muss herausfinden, was jemand zu sagen beabsichtigt mit einem Satz wie „Hoffentlich entwischen uns die Katzen nicht“. Dies ist von essenzieller Wichtigkeit, denn wenn diese Äußerung wörtlich aufgefasst wird, mag es sein, dass wir die Katzen an die Leine nehmen. Wenn die Äußerung als indirekte Bitte aufgefasst wird, ist es wahrscheinlich, dass der/die HörerIn tatsächlich die Tür schließt. Um zu diesem Verständnis zu gelangen, muss der/die HörerIn zuallererst erkennen, ob die wörtliche Bedeutung gemeint ist oder ob der/die SprecherIn auf indirekte Weise eine bestimmte Redeabsicht kommuniziert. Wie wir dieses Problem bewältigen, ist eine unendlich schwierige Frage und ForscherInnen aus unterschiedlichen Disziplinen sind immer noch damit beschäftigt, darüber zu diskutieren. Ganz allgemein kann man jedoch sagen, dass die Intonation einer Äußerung, der Kontext, in dem die Äußerung gemacht wird, und das Hintergrundwissen in verschiedener Art und Weise dazu beitragen, dass wir erfolgreich miteinander kommunizieren können (Holtgraves, 2002).
Abgesehen von der Bedeutung eines Wortes wird ein großer Teil der Bedeutung einer Äußerung auf nonverbale Weise kommuniziert, zum Beispiel durch die Stimmlage, Gestik oder Mimik. Menschen nutzen verbale und nonverbale Handlungen im Zusammenspiel, um die Bedeutung einer Äußerung zu kommunizieren (Bavelas & Chovil, 2000). Wenn der/die SprecherIn auf die Tür zeigt und dabei sagt „Hoffentlich entwischen uns die Katzen nicht“, dann ist es so gut wie klar, dass der/die SprecherIn möchte, dass die Tür geschlossen wird. Und wenn ein vielsagendes Grinsen einen Satz wie „Du bist mir ja ein lieber Freund“ begleitet, ist es offensichtlich, dass die Äußerung ironisch gemeint ist.
Zusätzlich zu nonverbalen Handlungen ist der Kontext, in dem eine Äußerung gemacht wird, hilfreich, um Wörter eindeutig zu machen. Zudem ist der Kontext beim Verstehen von Redeabsichten von großer Bedeutung. Paul Grice (1975) stellte eine einflussreiche Theorie auf, die erklärt, wie GesprächspartnerInnen den Kontext eines Gesprächs nutzen, um Bedeutung zu kommunizieren, und wie der/die HörerIn den Kontext eines Gesprächs nutzt, um zu erkennen, was der/die SprecherIn tatsächlich mitteilen möchte. Angenommen Sie fragen jemanden „Wo ist Peter?“, und Sie erhalten als Antwort „Vor Marias Haus steht ein roter Laster“. Wie finden Sie heraus, was diese Antwort bedeutet? Ist es tatsächlich eine Antwort auf die Frage? Die Idee ist, dass wir stillschweigend davon ausgehen, dass sich jede/r von uns an Konversationsregeln hält. Das heißt, von uns wird erwartet, dass wir in einer Konversation nur Dinge sagen, die relevant sind, die wahr sind, die verständlich sind und die einen gewissen Umfang nicht überschreiten. Die Antwort soll sich erwartungsgemäß auf die Frage beziehen, sie soll sich an der Wahrheit orientieren und informativ sein. Diese Grundannahme ermöglicht es uns, die Bedeutung des Gesagten zu interpretieren (d. h. wahrscheinlich besitzt Peter einen roten Laster und die Tatsache, dass der Laster vor Marias Haus steht, legt nahe, dass Peter dort ist).
Nach Grice (1975) sucht der/die HörerIn nach einer höheren Bedeutung, wenn die wörtliche Bedeutung einer sprachlichen Äußerung gegen Konversationsregeln zu verstoßen scheint. Zum Beispiel verstoßen indirekte bzw. ironische Äußerungen (wie z. B. „Du bist mein Sonnenschein“ oder „Du bist mir ja ein lieber Freund“) gegen Konversationsregeln, weil sie im wörtlichen Sinne nicht wahr sind. Da der/die HörerIn jedoch davon ausgeht, dass die Äußerung irgendwie relevant sein muss, interpretiert er/sie die Bedeutung dieser Äußerungen so um, dass sie im Anbetracht des Gesprächskontextes Sinn ergibt.
Diese Beispiele verdeutlichen, wie kompliziert es für den/die HörerIn ist zu verstehen, was jemand sagen möchte, und wie kompliziert es entsprechend für den/die SprecherIn ist, eine klare und deutliche Botschaft zu übermitteln. Um zu verstehen und um verstanden zu werden, müssen die GesprächspartnerInnen den Kontext und die jeweilige Perspektive in Betracht ziehen. In der Forschung wurde nachgewiesen, dass die Perspektivenübernahme und das Abstecken von Gemeinsamkeiten in dieser Hinsicht von höchster Bedeutung sind.
Perspektivenübernahme und Gemeinsamkeiten
Perspektivenübernahme ist eine der wichtigsten Erfordernisse für erfolgreiche Kommunikation (Holtgraves, 2002; Krauss & Fussell, 1991). Um die Botschaft zu übermitteln, muss der/die SprecherIn in Betracht ziehen, ob der/die GesprächspartnerIn überhaupt verstehen kann, was gesagt wurde. Im Gegenzug muss der/die HörerIn den Blickwinkel des/r Sprechers/in berücksichtigen, um die hinter einer Äußerung stehende Absicht zu verstehen (was könnte der/die SprecherIn aufgrund seiner oder ihrer Perspektive gemeint haben?). Stellen Sie sich vor, Ihr Freund oder Ihre Freundin fragt Sie „Kommt sie nicht aus New York?“. Bevor Sie auf eine derartige Frage antworten können, muss Ihnen klar sein, auf wen Ihr Freund oder Ihre Freundin sich bezieht. Wenn Sie sich mitten in einem Gespräch über die Autorin eines Buches befinden, gehen Sie wohl davon aus, dass der/die Fragende sich auf die Buchautorin bezieht. Es kann jedoch durchaus vorkommen, dass Ihr Freund bzw. Ihre Freundin etwas vom Thema abweicht und von der Sängerin eines Liedes spricht, das er oder sie gerade im Radio hört. Die oben formulierte Frage wäre für Sie schwer zu beantworten, wenn Ihnen nicht klar ist, dass es sich um einen plötzlichen Themenwechsel handelt. Um Missverständnisse zu vermeiden, müsste Ihr Freund oder Ihre Freundin Ihre Perspektive berücksichtigen und auf den Themenwechsel mit folgenden Worten verweisen: „Diese Sängerin, kommt die nicht aus New York?“. Andernfalls würden Sie mit größter Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass er oder sie immer noch über die Buchautorin spricht (nach Moskowitz, 2005).
Um gegenseitiges Verstehen zu gewährleisten, müssen GesprächspartnerInnen also die Perspektive eines/r jeden/r berücksichtigen. Wie geht dieser Prozess jedoch vor sich? Die Forschung hat diesbezüglich aufgezeigt, dass GesprächspartnerInnen dazu in der Lage sind, indem sie ständig versuchen herauszufinden, inwieweit sie sich auf einer gemeinsamen Grundlage bewegen (Clark, 1996). Diese gemeinsame Grundlage bezieht sich auf das gemeinsame Wissen der GesprächspartnerInnen, auf die Informationen, über die die GesprächspartnerInnen gemeinsam verfügen und die sie jederzeit erkennen können. Es wurde gezeigt, dass GesprächspartnerInnen sich auf Heuristiken bzw. Faustregeln verlassen, die sie dazu befähigen, zu beurteilen, was noch Teil der gemeinsamen Grundlage ist (Clark & Brennan, 1991).
Eine dieser Faustregeln, auf die sich die GesprächspartnerInnen verlassen, ist die Annahme physischer Kopräsenz. Das heißt, wenn zwei Leute zusammen sind und über denselben Aspekt ihrer Umgebung sprechen, gehen sie davon aus, dass das, was beide wahrnehmen, Teil ihrer gemeinsamen Gesprächsgrundlage ist. Wenn jemand an Ihnen vorbeigeht, können Sie davon ausgehen, dass das Verhalten sowie das Erscheinungsbild dieser Person beiden GesprächspartnerInnen bekannt sind. Folglich ist es nicht nötig, diese Aspekte dem/r GesprächspartnerIn gesondert mitzuteilen.
Eine zweite Faustregel ist die sogenannte Annahme linguistischer Kopräsenz. Das heißt, dass die GesprächspartnerInnen generell davon ausgehen, dass die Informationen, die im Rahmen eines Gesprächs bereits erwähnt wurden, zur gemeinsamen Grundlage gehören. Dies impliziert, dass man das bereits Gesagte nicht mehr gesondert erklären muss.
Eine dritte und äußerst interessante Entdeckung besteht darin, dass man aus der Zugehörigkeit des/r GesprächspartnerIn zu einer bestimmten Gemeinschaft unverzüglich Rückschlüsse hinsichtlich der gemeinsamen Grundlage zieht. Die Zuordnung eines/r GesprächspartnerIn zu einer bestimmten Kategorie oder Gruppe (z. B. Staatsangehörigkeit, Alter, Geschlecht oder Beruf) evoziert ein Stereotyp, auf dessen Grundlage man relativ gesicherte Rückschlüsse ziehen kann, was der/die GesprächspartnerIn weiß oder glaubt. Wenn zwei fremde Menschen sich treffen, versuchen sie sofort, einander einzuschätzen und allgemeine Rückschlüsse in Bezug auf das Wissen des/r anderen zu ziehen. Auf der Grundlage des Erscheinungsbildes (Polizistin, Mann mit teurem Anzug, kleines Kind) oder der Situation, in der sich der/die GesprächspartnerIn befindet (am Postschalter, in einem Fußballstadion), ziehen die GesprächspartnerInnen unmittelbare Rückschlüsse. Basierend auf diesen Annahmen passen die GesprächspartnerInnen ihre Äußerungen an. Wir wissen ganz einfach, dass wir PostbotInnen nichts über Briefmarken erklären müssen; zwei MuttersprachlerInnen des Englischen können davon ausgehen, dass sie beide mit dem Wortschatz des Englischen vertraut sind und wir können durchaus annehmen, dass PolizistInnen sich mit der Straßenverkehrsordnung auskennen. Der Student in meinem oben angesprochenen Beispiel ging davon aus, dass ich sein Dozent sei, weil ich vor dem Hörsaal stand. Deshalb schlussfolgerte er, ich könne seine Fragen über das kursbegleitende Buch beantworten.
Je nachdem, welche unmittelbaren Rückschlüsse wir in Bezug auf das gemeinsame Wissen mit unseren GesprächspartnerInnen ziehen, passen wir also unsere Äußerungen dementsprechend an. Dass dies mitunter mehr oder weniger unbewusst und auf der Grundlage subtiler Hinweise vonstatten geht, wird in einem klassischen Feldexperiment von Douglas Kingsbury (1968) gezeigt. Kingsbury fragte auf der Straße in Boston zufällig ausgewählte PassantInnen nach dem Weg zu einem mehrere Straßenzüge entfernten Kaufhaus. Jedoch stellte er die Frage entweder im Bostoner Dialekt oder in dem Dialekt, der im ländlichen Missouri gesprochen wird und der in der Innenstadt Bostons kaum zu hören ist, oder er stellte seiner Frage den Satz „Ich bin nicht von hier“ voran. Fragte er im Missouri-Dialekt nach dem Weg, fiel die Wegbeschreibung wesentlich länger und detaillierter aus, als wenn er dies im einheimischen Bostoner Dialekt tat. Die Wegbeschreibung, die er erhielt, wenn er im Missouri-Dialekt sprach, glich in der Tat auch der Wegbeschreibung, die er erhielt, wenn er explizit darauf verwies, dass er nicht aus Boston käme. Allem Anschein nach gingen die Leute allein aufgrund seines in Boston nicht bekannten Dialekts davon aus, dass er kaum über Ortskenntnisse verfüge und dementsprechend Zusatzinformationen benötige. Diese und andere Forschung zeigt in aller Deutlichkeit, dass der/die GesprächspartnerIn aufgrund subtiler Merkmale einer bestimmten Kategorie zugeordnet wird. Auf diese Weise ist man dazu in der Lage zu schließen, über welche Kenntnisse der/die GesprächspartnerIn wohl verfügt, um eine Botschaft zu formulieren, die dementsprechend gut verständlich ist.
In Bezug auf GesprächspartnerInnen, die wir sehr gut kennen, verlassen wir uns auf Informationen hinsichtlich deren Wissen und Erfahrungen, die wir mit ihnen teilen. Wenn Sie beispielsweise mit Ihrem Ehemann oder Ihrer Ehefrau schon seit Jahren zusammenleben, gehen Sie davon aus, dass die gemeinsam verbrachten Reisen, Lieblingsspeisen, Meinungsverschiedenheiten und Insiderwitze gegenseitig bekannt sind und somit problemlos thematisiert werden können.
Es sollte deutlich geworden sein, dass die gemeinsame Grundlage zwischen GesprächspartnerInnen gewaltige Auswirkungen auf ihre Äußerungen und den Verlauf ihres Gesprächs hat. Menschen passen ihre Äußerungen je nach der gemeinsamen Grundlage an. Diese gemeinsame Grundlage ist jedoch nicht statisch; sie verändert sich von Gesprächssituation zu Gesprächssituation. Wenn sich ein Gespräch entwickelt, spricht man über neue Themen und selbst die Umgebung oder der Gesprächskontext können sich ändern. Ob etwas bereits zur gemeinsamen Gesprächsgrundlage gehört oder nicht, hat einen Einfluss darauf, wie wir darüber sprechen.
Ein einfaches Beispiel: Mit zunehmender gemeinsamer Grundlage geht man von weniger genauen Bezügen (wie z. B. „ein Anwalt“ oder „ein paar Häuser“) über zu spezifischeren Bezügen (wie z. B. „der Anwalt“ bzw. „diese Häuser“; Linde & Labov, 1975). Erwähnt man etwas zum ersten Mal, wenn es noch nicht Teil der gemeinsamen Grundlage ist, tut man dies, indem man häufig unbestimmte Artikel verwendet (ein, eine). Wenn zu einem späteren Zeitpunkt ein Thema als bekannt vorausgesetzt werden kann (vgl. Clark & Brennan, 1991), werden spezifische Bezüge verwendet. Dies zeigt sich auch darin, wie man Geschichten aufzieht: „Diese Geschichte handelt von einem Mädchen. Das Mädchen lebte in einem großen Schloss.“
Ebenso neigt ein/e SprecherIn für gewöhnlich dazu, eine vorsichtige bzw. provisorische Konzeptualisierung des Gesagten anzubieten und dabei relativierende Ausdrücke wie „in etwa“, „so wie“ zu verwenden (z. B. „der Typ, der in etwa so sprach wie Mr. Bean, weißt Du?“), wenn er/sie zu erklären versucht, worüber er/sie spricht. Sobald die GesprächspartnerInnen sich auf eine Form der Konzeptualisierung geeinigt haben, verzichten sie auf relativierende Ausdrücke und verwenden stattdessen spezifischere Beschreibungen (wie z. B. „dieser Mr. Bean-Typ“; Brennan & Clark, 1996; Clark & Bangerter, 2004).
In Zusammenhang damit steht eine weitere Erkenntnis, dass nämlich das Gespräch in dem Maße an Effizienz gewinnt, in dem die gemeinsame Grundlage ausgebaut wird. Dann kommen die GesprächspartnerInnen mit weniger Worten aus, mit weniger Gesprächsanteilen und mit weniger Zeit, um sich zu einem bestimmten Thema gut zu verständigen (Wilkes-Gibbs & Clark, 1992). Es besteht eben keine Notwendigkeit, dem Ehemann oder der Ehefrau die ganze Geschichte über die gemeinsame Frankreichreise detailreich zu erzählen. Wenn man Bezug auf diese gemeinsam erlebte Reise nimmt, genügt es zu sagen „so wie in Frankreich“ und der Ehemann oder die Ehefrau wird es verstehen. Mit anderen Worten: Mit zunehmender gemeinsamer Gesprächsgrundlage versteht man leichter, was der/die andere sagen möchte (Schober & Brennan, 2003).
Missverständnisse und Herstellen einer gemeinsamen Basis
So wie das Vorhandensein einer gemeinsamen Gesprächsgrundlage von enormer Bedeutung ist, um sich gegenseitig gut zu verstehen, sind viele Formen des Missverständnisses das Ergebnis einer fälschlicherweise angenommenen gemeinsamen Gesprächsgrundlage. Verlässt man sich auf Faustregeln bei der Beurteilung der gemeinsamen Gesprächsgrundlage, führt dies eventuell zu Fehlern. Zum ersten ist der Verlass auf die physische und linguistische Kopräsenz noch keine Garantie für ein korrektes Urteil. Der/Die GesprächspartnerIn hat unter Umständen den/die Passanten/in gar nicht bemerkt oder er/sie hat das, was man ihm/r bereits mitgeteilt hat, vergessen oder gar nicht beachtet. In ähnlicher Weise können wir nicht immer davon ausgehen, dass die Zugehörigkeit zur selben Gruppe automatisch Wissen über ein Thema impliziert. Allgemeine Erwartungen, die auf der Zuordnung zu einer Kategorie oder einer Gruppe basieren (nämlich Stereotype), werden nicht immer dem Einzelfall gerecht. Wir haben Vorstellungen hinsichtlich typischer Eigenschaften älterer Leute. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jeder einzelne ältere Mensch diese Eigenschaften aufweist. Dies kann zur Folge haben, dass man eine ältere Frau mit lauter Stimme anspricht, selbst wenn sie nicht schwerhörig ist. In ähnlicher Weise mag es durchaus vorkommen, dass jemand mit einem ausländischen Akzent spricht und trotzdem seit zehn Jahren in Ihrer Heimatstadt lebt – und somit auch keine ausführlichen Hinweise braucht, wie er oder sie zum Supermarkt kommt.
Andere Arten von Missverständnissen entstehen, wenn aus schierem Egozentrismus heraus die Perspektive des/der GesprächspartnerIn schlicht und ergreifend missachtet wird. In der Alltagskonversation spricht man häufig von Dingen, die einem gerade mal so in den Kopf schießen (zum Beispiel von einem/r SängerIn, den/die man im Radio hört). Man ist sich jedoch nicht der Tatsache bewusst, dass man den/die GesprächspartnerIn noch nicht über den Themenwechsel informiert hat. Sich in die Perspektive des/r anderen hineinzuversetzen, erfordert aber auch das dementsprechende Wissen, die dementsprechende Fähigkeit und den dementsprechenden Antrieb, was man mitunter nicht hat (Horton & Keysar, 1996; Schober & Brennan, 2003). Der Student in dem Beispiel mit dem kursbegleitenden Buch konnte ganz einfach nicht wissen, dass ich einen anderen Kurs unterrichte, weil er seinen Dozenten noch nicht gesehen hatte.
Zum Glück können GesprächspartnerInnen, je nach Kommunikationskanal, Missverständnisse sofort aufklären, sobald sie zutage getreten sind. In der direkten Kommunikation geben wir uns gegenseitig Rückmeldung darüber, ob die Nachricht verstanden wurde oder nicht. Und nötigenfalls können wir sofort die richtige Zusatzinformation nachliefern. Feedback in der Form sprachlicher (z. B. „aha“, „jaja“, „ok“) und nicht-sprachlicher (z. B. nicken, lächeln oder die Stirn runzeln) Signale sind unumgänglich, wenn wir eine reibungsfreie Verständigung anstreben. (Clark & Brennan, 1991; Clark & Krych, 2004; Clark & Wikles-Gibbs, 1986). Dieser Vorgang, bei dem der/die HörerIn den/die SprecherIn über den Grad der Verständlichkeit unterrichtet, spielt sich größtenteils automatisch und unbewusst ab. Dennoch sind diese subtilen nicht-sprachlichen Reaktionen äußerst wichtig und selbst in Situationen, in denen eine Person spricht und die andere Person lediglich zuhört, beobachtet der/die SprecherIn konstant den/die GesprächspartnerIn und ändert seine/ihre Äußerungen je nachdem, wie die Reaktionen des/r HörerIn ausfallen (Bavelas, Coates & Johnson, 2000; Beukeboom, 2009; Kraut, Lewis & Swezey, 1982).
Wie stark der/die HörerIn den/die SprecherIn beeinflussen kann, zeigt sich in einem Experiment, bei dem die TeilnehmerInnen angewiesen wurden, einem/r anderen TeilnehmerIn eine Geschichte zu erzählen, bei der um Haaresbreite etwas Schreckliches passiert wäre (Bavelas et al., 2000). Die Hälfte der TeilnehmerInnen konnte sich ganz normal verhalten. Bei der anderen Hälfte wurden die HörerInnen dadurch abgelenkt (was die SprecherInnen nicht wussten), dass sie die Aufgabe bekamen, die Anzahl des Buchstaben t in der Geschichte des/r SprecherIn zu zählen. Aufgrund dieser Ablenkung war es den HörerInnen praktisch unmöglich, die zu erwartenden Hörerreaktionen zu zeigen. Somit konnten die ForscherInnen testen, ob dadurch das Verhalten der SprecherInnen beeinflusst wird. Interessanterweise hatte das Ausschalten der Hörerreaktionen einen starken Einfluss auf die Art und Weise, in der die SprecherInnen die Geschichte erzählten. Die erzählerische Qualität der Geschichte der SprecherInnen ließ nach, insbesondere wenn es sich um ein hochdramatisches Ende handelte. Der Schlussteil wurde abrupt und holprig erzählt, die SprecherInnen schweiften vom Thema ab oder erzählte den Schluss mehr als einmal. Überdies neigten die SprecherInnen dazu, das zentrale Problem mehrfach zu erzählen, irrelevante Fakten zu erwähnen und den Handlungsstrang zusätzlich zu erläutern oder gar zu rechtfertigen. Diese Forschungsergebnisse legen nahe, dass Unterhaltungen eine gemeinsame Aktivität darstellen, bei der die GesprächspartnerInnen in jedem Augenblick miteinander interagieren, um gegenseitiges Verstehen zu gewährleisten.
Wenn wir die verschiedenen Mechanismen untersuchen, derer sich die Leute in Gesprächen bedienen, dann wird uns klar, dass es eine absolut bemerkenswerte Leistung darstellt, dass wir uns normalerweise problemlos verstehen. Im Allgemeinen denken wir nicht darüber nach, wie wir das eigentlich tun. Wir erfahren jedoch durchaus, ob ein Gespräch reibungsfrei und angenehm verläuft oder eben nicht. Interessanterweise steht die Fähigkeit der GesprächspartnerInnen, gegenseitiges Verstehen zu erreichen, in eindeutigem Zusammenhang mit der Art und Weise, in der die Interaktion zwischen den GesprächsteilnehmerInnen wahrgenommen wird. Man ist stets bemüht, Verständnis mit möglichst geringem Aufwand herbeizuführen (Prinzip des geringsten gemeinsamen Aufwands; Clark & Brennan, 1991) und wir erfahren im Allgemeinen gern eine Art der Zustimmung bzw. eine Bestätigung hinsichtlich unserer Äußerungen ( „preference agreement“ nach Pomerantz, 1984).
Folglich sind angenehme Unterhaltungen Gespräche, bei denen beide Seiten sehr schnell verstehen, was der oder die andere sagen möchte und bei denen potenzielle Missverständnisse elegant aus dem Weg geräumt werden. Es ist ein angenehmes Gefühl, über eine gemeinsame Grundlage mit dem/r GesprächspartnerIn zu verfügen. Im Gegensatz dazu wird es als ärgerlich empfunden, wenn man Schwierigkeiten hat, diese gemeinsame Grundlage zu schaffen, wenn man ständig anderer Meinung ist bzw. wenn man wortreiche Erklärungen beisteuern muss, damit der/die GesprächspartnerIn versteht, was man ihm/r sagen möchte. Eine Minute lang in Bezug auf ein Buch aneinander vorbeizureden, ist wohl ganz einfach deswegen ärgerlich, weil es eine Verschwendung von Energie ist. Die besten Gespräche sind wahrscheinlich die, bei denen man sich ohne Worte versteht. Nehmen Sie dies aber bitte nicht wörtlich.
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