Werden wir durch multikulturelle Erfahrungen kreativer? Und falls ja, wie?
Dieser Beitrag wurde zunächst in englischer Sprache in der englischsprachigen Ausgabe (7/2007, Ausgabe 4) des In-Mind Magazins veröffentlicht. Link zum Originalartikel:
http://www.in-mind.org/article/do-multicultural-experiences-make-people-more-creative-if-so-how
Der Reisburger von McDonalds in Asien; Mondkuchen mit dem Geschmack von Starbucks-Kaffee in Singapur; Disneyland-Yin-Yang-Mickey-Maus-Kekse in Hong Kong; Lays-Chips mit Pekingentengeschmack… Die Liste kann so beliebig fortgesetzt werden. Bei all diesen Produkten handelt es sich um neue Produktkonzepte, welche scheinbar nicht zusammenpassende kulturelle oder Produktideen aus östlichen und westlichen Kulturen miteinander verbinden.
Scheinbar relativ unterschiedliche Ideen aus verschiedenen Kulturen miteinander zu kombinieren ist ein Beispiel für kreative Konzepterweiterung. Hierbei handelt es sich um einen Begriff aus der kognitiven Psychologie, welcher den Prozess der Begriffserweiterung beschreibt. Dabei werden also konzeptionelle Grenzen eines bereits existierenden Konzepts erweitert, wobei dieses mit einem weiteren, scheinbar irrelevanten Konzept verbunden wird (Ward, Smith & Vaid, 1997). Kreative Konzepterweiterung ist damit ein gewöhnlicher Prozess, welcher außergewöhnliche, kreative Ergebnisse hervorbringt (Wan & Chiu, 2002; Ward, 2001).
Multikulturelle Erfahrungen steigern die Kreativität, und zwar auf mehrere Arten. Zunächst lässt sich festhalten, dass multikulturelle Erfahrungen Menschen dabei helfen, sich von ihren mentalen Einstellungen zu lösen. So lernen wir aus unseren Erfahrungen, aber diese schaffen auch mentale Einstellungen, welche Kreativität einschränken können. Beim kreativen Problemlösen in einem bestimmten Arbeitsgebiet schränken die kulturellen Erfahrungen in diesem Gebiet oftmals die Art der Problemlösung ein. Beispielsweise wurden Studierende in einer Untersuchung gebeten, neue Geldmünzen zu entwerfen. Diese Münzen wiesen überraschend viel Ähnlichkeit zu bereits bestehenden Münzen auf (Rubin & Kontis, 1983). Personen, welche die Instruktion bekommen, aus ihren wildesten Fantasien heraus Lebewesen auf dem Mars zu entwerfen, neigen dazu, sich für ihre Entwürfe an irdischen Lebewesen zu orientieren (Ward, Patterson, Sifonis, Dodds & Saunders, 2002).
Menschen brechen mit ihren mentalen Einstellungen, wenn sie die konzeptuellen Grenzen eines bereits fest erlernten Konzepts erweitern. Denken Menschen beispielsweise an den Begriff Möbel, so kommen ihnen Beispiele wie Tische und Stühle in den Sinn, da diese kulturell vertraute Beispiele dieser Kategorie sind. Dieses mentale Konzept kann jedoch herausgefordert werden. So können Menschen über das Konzept Möbel kreativer nachdenken, nachdem sie Probleme, wie beispielsweise „Welches Möbelstück ist zugleich eine Art Frucht?“, gelöst haben. Solche Probleme, welche unter KognitionswissenschaftlerInnen als Kombinationsprobleme neuer Konzepte bekannt sind, verlangen von ProblemlöserInnen, dass diese ein Objekt identifizieren, welches zwei scheinbar nicht zusammengehörige Konzepte vereint. Diese Probleme werden nun dadurch gelöst, dass neue Beispiele für die Konzepte (Möbel und Früchte) generiert werden. So werden die Grenzen der Konzepte erweitert (Hampton, 1997).
Multikulturelle Erlebnisse können Kreativität auch dadurch steigern, dass sie Menschen sowohl das intellektuelle Material als auch die Möglichkeiten bieten, kreative Konzepterweiterung zu betreiben. Nehmen wir den Mondkuchen mit dem Geschmack von Starbucks-Kaffee als Beispiel. Die Person, welche diese Idee hatte, kennt sowohl das amerikanische Konzept von Starbucks-Kaffee, als auch den aus der chinesischen Kultur bekannten Mondkuchen. Auch wenn diese beiden Konzepte nicht auf den ersten Blick perfekt miteinander harmonieren, so hat eine arrangierte Partnerschaft zwischen diesen beiden doch dazu geführt, dass eine Vielzahl neuer, innovativer handgemachter Mondkuchen – Karamell-Macchiato, Cranberry-Hibiskus, Orange-Zitrone – die Gaumen der chinesischen Bevölkerung in Singapur zum Herbstmittefest erfreut.
An diesen kreativen Effekten multikultureller Erfahrungen ist am verblüffendsten, dass diese zu weiteren, komplett anderen Bereichen weitergetragen werden können. Dies geschieht, da das Kombinieren sich nicht überschneidender Konzepte auch die Tendenz fördert, beim Problemlösen einen höheren Gedächtnisaufwand zu betreiben, um so unkonventionellere Lösungen zu finden. Dadurch fällt es Menschen leichter, auch kreative Ideen in nachfolgenden Aufgaben zu generieren, die vollkommen unabhängig von der zuvor gelösten konzeptionellen Kombinationsaufgabe sind. In einem Experiment (Wan & Chiu, Experiment 1) bearbeiteten zufällig ausgewählte Versuchspersonen eine Reihe von neuen konzeptuellen Kombinationsaufgaben (z. B. „Welches Auto ist gleichzeitig eine Art Fisch?“). Die übrigen Versuchspersonen lösten eine Reihe gewöhnlicher konzeptueller Kombinationsaufgaben (z. B. „Welche Pflanze ist gleichzeitig eine Art Treibstoff?“). Danach absolvierten die Personen die figurbasierten Tests des Torrance Tests für kreatives Denken (Torrance, 1974), einen weitverbreiteten Kreativitätstest. Wie erwartet zeigte sich, dass jene Versuchspersonen, welche zunächst die neuen konzeptuellen Kombinationsaufgaben gelöst hatten, bessere Leistungen im Kreativitätstest erzielten als jene, die sich zuvor mit den gewöhnlichen konzeptuellen Kombinationsaufgaben beschäftigt hatten. In einem weiteren Experiment (Wan & Chiu, 2002, Experiment 2) wurde ein anderer Kreativitätstest verwendet, das Ergebnismuster änderte sich jedoch nicht. In diesem Experiment wurden die Versuchspersonen nach der Bearbeitung der gewöhnlichen oder der neuen konzeptuellen Kombinationsaufgaben darum gebeten, mit LEGO-Steinen Objekte ihrer Wahl nachzubauen. Wieder einmal zeigte sich, dass die Versuchspersonen, die zunächst die neuen konzeptuellen Kombinationsaufgaben bearbeitet hatten, kreativere Modelle aus den LEGO-Steinen bauten als jene, bei denen das nicht der Fall war.
Die Begegnung mit mehreren Kulturen zeigt ähnliche Effekte auf die kreative Leistung wie das Lösen von neuen konzeptuellen Kombinationsaufgaben. In einem Experiment (Leun & Chiu, 2010) zeigten die ForscherInnen amerikanischen Studierenden europäischen Ursprungs, die nur wenig Vorwissen über die chinesische Kultur hatten, eine Bilderserie und baten die Teilnehmenden im Anschluss, einen Kreativitätstest zu bearbeiten. In der Chinesische-Kultur-Bedingung sahen die Versuchspersonen Bilder zu Kunst, Architektur, Musik und Lebensstil in der chinesischen Kultur. In der Gegenüberstellungsbedingung schauten sich die Versuchspersonen sowohl Bilder der amerikanischen als auch der chinesischen Kultur an. Dabei wurden auf jeder Folie Bilder amerikanischer und chinesischer Kultur nebeneinander präsentiert. In der dritten Bedingung, der Fusionsbedingung, wurden den Versuchspersonen Bilder gezeigt, auf welchen die amerikanische und die chinesische Kultur kombiniert waren (z. B. Mode von Shanghai Tang, Mondkuchen mit Starbucks-Kaffeegeschmack, McDonalds Reisburger). Zudem gab es zwei Kontrollbedingungen. In der Amerikanische-Kultur-Kontrollbedingung wurden den Versuchspersonen ausschließlich Bilder der amerikanischen Kultur gezeigt. In der keine-Bilderserie-Kontrollbedingung wurden den Personen keine Bilder gezeigt. Nachdem sie sich die Bilder angeschaut hatten, erhielten die Versuchspersonen eine Zusammenfassung der Geschichte von Aschenputtel und demografische Informationen über die Türkei. Daraufhin wurden sie gebeten, eine kreative Geschichte von Aschenputtel für türkische Kinder zu schreiben. Hierbei sollte beachtet werden, dass die Messung der Kreativität in dieser Studie kein Wissen über die chinesische Kultur erforderte.
Die Ergebnisse dieses Experiments zeigten, dass die Versuchspersonen der Gegenüberstellungs- und der Fusionsbedingung kreativere Aschenputtel-Geschichten verfassten als die Versuchspersonen der beiden Kontrollbedingungen. Interessanterweise waren die Geschichten, die von den Versuchspersonen in der Chinesische-Kultur-Bedingung verfasst wurden, nicht kreativer als die Geschichten, die in den Kontrollbedingungen entstanden sind.
Die kreativen Vorteile, die sich aus multikulturellen Erfahrungen ergeben, hatten auch über die Zeit hinweg Bestand. Fünf bis sieben Tage nach der Untersuchung wurden die Versuchspersonen erneut kontaktiert, um eine weitere Kreativitätsaufgabe zu bearbeiten. Diesmal wurden sie gebeten, kreative Analogien zum Zeitkonzept zu generieren. Auch dieses Kreativitätsmaß erforderte kein Wissen über die chinesische Kultur. Erneut zeigte sich, dass die Versuchspersonen aus der Gegenüberstellungs- und der Fusionsbedingung kreativere Analogien entwickelten als die Versuchspersonen der Kontrollbedingungen.
Zusammenfassend zeigen diese Ergebnisse, dass der Kontakt mit mehreren Kulturen die Leichtigkeit der Entwicklung kreativer Ideen fördern kann. Im Experiment wurden diese kreativen Zugewinne in Kreativitätsaufgaben beobachtet, die kein Vorwissen über die Kulturen, denen die Versuchspersonen ausgesetzt waren, verlangten. Darüber hinaus blieben die positiven Effekte bestehen, wenn Kreativität noch einmal mehrere Tage nach der kulturellen Begegnung gemessen wurde. Es ist anzunehmen, dass dieser Kontakt zu Entwicklung von kognitiven Fähigkeiten (z. B. eine spontane Tendenz dazu, das Gedächtnis ausführlich nach unkonventionellen Lösungen zu durchsuchen) geführt hat, die der kreativen Leistung zugrunde liegen. Zudem führte der Kontakt mit mehreren Kulturen nur dann zu kreativen Zugewinnen, wenn beide, die amerikanische und die chinesische Kultur, gleichzeitig dargeboten wurden. Dieser Befund stützt die Annahme, dass die kognitive Gegenüberstellung von zwei scheinbar nicht zusammenpassenden Ideen aus zwei Kulturen dazu motiviert, kreative Konzepterweiterung zu betreiben. Hierbei handelt es sich um einen kognitiven Prozess, von dem man weiß, dass er kreative Leistung fördert.
Ähnliche Ergebnisse konnten in Studien erzielt werden, in denen das Ausmaß an multikultureller Begegnung eher gemessen als manipuliert wurde. Amerikanische Studierende europäischen Ursprungs verfügen über ein unterschiedliches Ausmaß an multikulturellen Erfahrungen. So haben manche bereits außerhalb ihres Heimatlandes gelebt, sprechen eine Fremdsprache, haben Eltern, die nicht in den USA geboren wurden, haben enge FreundInnen aus anderen Kulturen und mögen die Musik oder die Küche anderer Kulturen. Diese Studierenden tendierten dazu, weniger Probleme beim Generieren unkonventioneller Ideen zu haben verglichen mit Studierenden, welche weniger multikulturelle Erfahrungen hatten (Leung & Chiu, 2008).
Im Einklang mit der Idee, dass multikulturelle Erfahrungen dazu führen, dass man verstärkt nach unkonventionellen Lösungsmöglichkeiten sucht, zeigte eine andere Studie (Leung & Chiu, 2010, Studie 2), dass sich Versuchspersonen mit mehr multikultureller Erfahrung im Vergleich zu Versuchspersonen mit weniger multikultureller Erfahrung eher unkonventionelle Geschenkideen ausdachten, wenn man sie nach einer Geschenkidee für eine befreundete Person fragte.
Engstirnigkeit ist ein Hindernis für Kreativität. Im Vergleich zu aufgeschlossenen Personen sind engstirnige Personen weniger motiviert, in ihrem Gedächtnis nach kulturell fremden Ideen zu suchen (Ip, Chen & Chiu, 2006), und sie sind auch weniger kreativ (Rietzschel, De Dreu & Nijstad, 2007). Kann Offenheit für Erfahrungen erlernt werden? Führen multikulturelle Erlebnisse dazu, dass Menschen offener für Ideen aus anderen Kulturen werden? In einer Studie mit amerikanischen Studierenden europäischen Ursprungs (Leung & Chiu, 2010, Studie 3) wurde herausgefunden, dass die Studierenden, welche umfangreiche multikulturelle Erfahrungen hatten, eher Ideen aus dem ostasiatischen Raum und des mittleren Ostens heranzogen, wenn man sie darum bat, aus einer gewöhnlichen Idee (z. B. „Menschen mit mehr FreundInnen sind glücklicher“) eine kreative zu entwickeln.
Jedoch ist Aufgeschlossenheit ein Gemütszustand. Werden Menschen von zu viel Unsicherheit in ihrem Umfeld überwältigt, so heißen sie klare Antworten willkommen und verzichten auf unbekannte Ideen. Wenn dies geschieht, sinkt die Motivation dazu, Ideen aus anderen Kulturen zu berücksichtigen – dies gilt selbst für solche Personen mit umfangreichen multikulturellen Erfahrungen (Leung & Chiu, 2010, Studien 4 und 5).
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die zunehmende globale Vernetzung in den heutigen Gesellschaften neue Möglichkeiten für multikulturelle Erfahrungen geschaffen hat. Es scheint nicht überraschend, dass PsychologInnen immer mehr erkennen, dass es notwendig ist, den Zusammenhang dieser multikulturellen Erfahrungen mit intellektueller Entwicklung zu untersuchen (Chiu & Hong, 2005). Eine der größten Forschungsfragen im Bereich der Forschung zu multikulturellen Kompetenzen befasst sich mit den potentiellen positiven Effekten multikultureller Erfahrungen auf Kreativität und kognitive Flexibilität. Bisher hat die Forschung drei mögliche Wege identifiziert, wie multikulturelle Erfahrungen Kreativität steigern können. Erstens wird angenommen, dass diese Erfahrungen dazu führen, dass sich Menschen von ihren mentalen Einstellungen lösen können, da sich ihnen intellektuelles Material und Möglichkeiten zu kreativer Konzepterweiterung darbieten. Zweitens können sie die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten, welche kreative Leistung fördern, verbessern. Und zuletzt können sie die Zugänglichkeit von Personen für Ideen aus anderen Kulturen erhöhen.
Literaturverzeichnis
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Ip, G. W-m., Chen, J., & Chiu, C-y. (2006). The relationship of promotion focus, need for cognitive closure, and categorical accessibility in American and Hong Kong Chinese university students. Journal of Creative Behavior, 40, 201-215.
Leung, A. K-y., & Chiu, C-y. (2008). Interactive effects of multicultural experiences and openness to experience on creative potential. Creativity Research Journal, 4, 376-382.
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Ward, T. B., Smith, S. M., & Vaid, J. (1997). Conceptual structures and processes in creative thought. In T. B. Ward, S. M. Smith, & J. Vaid (Eds.), Creative thought: An investigation of conceptual structures and processes (pp.1-27). Washington, DC: American Psychological Association.