Willkommen in der Matrix! Chancen und Risiken der virtuellen Welt

Im Jahr 1999 rüstete sich Keanu Reeves als „Neo“ in dem Kino-Kassenschlager „Matrix“ für den Kampf gegen die virtuelle Welt. Eine dunkle, bedrohliche, fremdbestimmte Welt. Heute können wir selbst in die Virtualität eintauchen. Ist die „Matrix“ so furchteinflößend wie im Film? Was hält sie womöglich an Chancen bereit? – Neo hat sich schließlich in kürzester Zeit Kung-Fu „aufgespielt“. Psychologie und Neurowissenschaften suchen weltweit mit Hochdruck nach Antworten auf diese Fragen.

Bild: Bradley Hook via Pexels (https://www.pexels.com/photo/sky-woman-clouds-girl-123335/), CC: https://www.pexels.com/photo-license/.Alles wirkt täuschend echt: Der Amsterdamer Hafen, das Restaurant und der Tisch, an dem Jan sitzt. Ihm gegenüber hat eine junge Frau Platz genommen. „Hi, ich bin Jan“, sagt er ein wenig nervös. „Mein Name ist Marleen“, antwortet sie. Ihr Lächeln wirkt sympathisch. Jan freut sich: Genau so hat er sich sein Blinddate vorgestellt. Plötzlich verschwindet Marleen. Er hört eine verärgerte Stimme: „Du hast das falsche Programm gestartet, heute sollte Jan doch Judith treffen!“ Die Stimme stammt von der Leitung einer Studie, an der Jan gerade teilnimmt – und der verbalisierte Fauxpas holt Jan schlagartig wieder in die Realität. Er erinnert sich: Marleen existiert nur virtuell und er ist nicht im Restaurant, sondern in einem psychologischen Labor der niederländischen Universität Delft. Von nebenan steuern Wissenschaftler*innen per Mausklick die Fragen und Reaktionen von „Marleen“ und beobachten, wie Jan sich verhält.

So ein virtuelles Blinddate sorgt für sehr reale Nervosität und ist eines von mehreren virtuellen Szenarien in dem soziale Fertigkeiten trainiert werden sollen (Hartanto et al., 2014). Der Fortschritt in der Simulation virtueller Welten bietet nicht nur für die Partnersuche, sondern auch der Forschung neue Möglichkeiten. Vor allem eine Frage beschäftigt Wissenschaftler*innen auf der ganzen Welt: Verändern Erlebnisse in der virtuellen Realität unser Erleben und Verhalten in der echten Welt?

Wie sieht die „Matrix“ heute aus?

Unsere heutige Matrix heißt virtuelle Realität, oder kurz VR: Eine vom Computer generierte, dreidimensionale Umgebung, in der sich Personen bewegen und handeln können. Spezielle Geräte verfrachten uns in die virtuelle Welt: Datenbrillen, Kopfhörer und Joysticks – Joysticks, die nicht nur zur Steuerung dienen, sondern beispielsweise Berührungen vorgaukeln können; in der Fachsprache heißt das „haptisches Feedback“. Die Technik blendet die reale Welt aus und setzt virtuelle Sinneseindrücke an ihre Stelle; je besser das gelingt, desto stärker die sogenannte „Immersion“ – das „Eintauchen“ in die virtuelle Realität. Das virtuelle Bild passt sich dabei laufend an die eigenen Bewegungen an: Im simulierten Blinddate wandert Jans virtuelles Sichtfeld beispielsweise mit, wenn er nach unten sieht. Je stärker die Immersion, umso wahrscheinlicher entsteht „Präsenz“ – das subjektive Empfinden, tatsächlich in einer anderen Welt zu sein (Slater & Wilbur, 1997). Im Film „Matrix“ war die Präsenz perfekt, die Existenz der realen Welt „vergessen“. Ähnliches schaffen heute zumindest einige der virtuellen Welten: Die Präsenz ist so überwältigend, dass die Computersimulation als Realität wahrgenommen wird. Den Fans der „Matrix“-Trilogie dürfte diese Vorstellung einen Schauer über den Rücken jagen; andere sehen darin die Chancen dieser Technik: Vielleicht kann man in einer so real erscheinenden Simulation auch Fähigkeiten trainieren, die – zurück im echten Leben – hilfreich sind?

Mit der VR-Brille zum Vorstellungsgespräch

Vorstellungsgespräche sind heikel. Gehört man zu den glücklichen 10 %, die es in die nächste Runde geschafft haben (Stepstone, 2016), ist Nervosität vorprogrammiert. Und nicht selten ein Scheitern vor lauter Aufregung. Wäre es nicht praktisch, so ein Gespräch gefahrlos und bequem auf dem heimischen Sofa zu trainieren? Dank des britischen Start-Ups „Virtual Speech“ ist dies bereits Realität – virtuelle Realität. Die App „Public Speaking VR“ coacht im virtuellen Raum für die nächste Bewerbung: Zur Auswahl stehen Vorstellungsgespräche bei hochrangigen Arbeitgebern wie Apple, Tesla Motors oder Google. Wie sich eine virtuelle Bewerbung bei Google wohl anfühlt? Auf zum Selbstversuch! Ich setze die Datenbrille auf, die mich in die virtuelle Realität entführt. Mit einem gezielten Blick auf das Menü wähle ich ganz einfach das Google-Szenario aus. Wenige Augenblicke später finde ich mich in einem modern wirkenden hellen Raum wieder; es gibt keine Fenster, das fällt mir sofort auf. Mir gegenüber vier Personen – virtuelle Männer und Frauen in Anzug und Kostüm. Sie wollen wissen, warum ich mich bewerbe und wie ich mich beschreiben würde. Standardfragen. Die mache ich mit links. Schnell wird es kniffliger: „Wie viele Städte gibt es schätzungsweise in Europa?“, fragen meine virtuellen Gegenüber. Was mein liebstes Google-Produkt sei und wie ich es verbessern würde? Gar nicht so leicht, auf die Schnelle mit einer kreativen Antwort aufzuwarten. Ich komme ganz schön ins Grübeln – und ins Schwitzen. Ein Glück, dass ich nur virtuell bei Google zu Gast bin. Sollte jemals ein reales Vorstellungsgespräch bei Google ins Haus stehen, steht für mich fest: Vorher übe ich mit den virtuellen Google-Männern und –Frauen. Aber hilft so eine Simulation wirklich, um im Ernstfall einen kühle(re)n Kopf zu bewahren?

Eine Studie aus den Niederlanden spricht dafür (Hartanto et al., 2014): Wie im echten Leben sorgten kritische Fragen, unfreundliche Reaktionen oder Tadel auch im virtuellen Vorstellungsgespräch bei den Testpersonen für Aufregung; ihr Herz schlug schneller, ihre Antworten wurden kürzer und sie berichteten mehr Anspannung. Besonders deutlich war dies bei Testpersonen, die generell mit Unbehagen bei Vorstellungsgesprächen zu kämpfen hatten. Die virtuelle Realität konnte es hier mit der realen Welt aufnehmen – zumindest, was die Reaktionen der Testpersonen anging. Die Forscher*innen schlossen daraus, dass sich VR für das realitätsnahe Training schwieriger Situationen eignen sollte.

Mit der VR-Brille gegen die Angst?

Vielen von uns wird flau im Magen bei Vorstellungsgesprächen – für Menschen mit sozialer Phobie sind Vorstellungsgespräche geradezu ein Albtraum. Etwa 7 % der Bevölkerung leiden im Laufe des Lebens einmal an dieser psychischen Erkrankung. Die Betroffenen haben große Angst vor negativer Bewertung und vermeiden deshalb soziale oder leistungsbezogene Situationen (Wittchen & Hoyer, 2011). Dabei wäre gerade die Konfrontation mit solchen Situationen heilsam – nur dann können Betroffene die Erfahrung machen, dass nichts Schlimmes passiert und die Angst nachlässt. Wie kann man die Betroffenen aus dem Teufelskreis von Angst und Vermeidung befreien? Kann hier die virtuelle Realität helfen? Erste Hinweise darauf lieferte schon eine Studie aus dem Jahr 2000: Flugangst – eine andere spezifische Phobie – ließ sich mit einer Flugsimulation genauso gut behandeln wie mit der Therapie im realen Flugzeug (Rothbaum, Hodges, Smith, Lee & Price, 2000). Die Forschung seither hat diese Ergebnisse bestätigt: Egal ob soziale Phobie, Höhenangst, Flugangst oder Spinnenphobie – VR-unterstützte Therapien erweisen sich als ebenso wirksam wie klassische Verfahren (Meyerbröker & Emmelkamp, 2010; Opris et al., 2012). Eine zusammenfassende Analyse über viele Studien hinweg (sog. Meta-Analyse) bekräftigt, dass Betroffene nach einem therapeutischen Aufenthalt in der virtuellen Realität nicht nur weniger Angst haben, sondern auch weniger Einschränkungen in ihrem Alltag erleben (Morina, Ijntema, Meyerbröker & Emmelkamp, 2015). Die Therapie mittels virtueller Realitäten hat große Vorteile: Sie findet unter kontrollierten Bedingungen statt und ist dabei vergleichsweise günstig. Ist das Programm einmal geschrieben, können beliebig viele Patient*inn*en behandelt werden. Langstreckenflüge, Spinnenzucht und Ausflüge auf Fernsehtürme kann man sich sparen.

Raus dem Depressionstief? Wie VR unsere Emotionen verändert

Die Behandlung in der virtuellen Welt könnte für umgrenzte Ängste schon bald den Sprung von der Forschung in die therapeutische Praxis schaffen. Wie ist der Stand bei anderen psychischen Erkrankungen? WährendBild (bearbeitet)von Chris Brewin via PLOS ONE (http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0111933),CC: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/. einige Menschen mit Ängsten vor vermeintlichen Gefahren kämpfen, kämpfen andere täglich mit sich selbst. Sie üben harsche Selbstkritik und gehen streng mit sich ins Gericht – mitunter bis hin zur Depression. Kann VR auch diesen Menschen helfen? Eine Studie am University College London ging dieser Frage nach: Gesunde, besonders selbstkritische Frauen wurden auf raffinierte Weise in einen Körper in der virtuellen Welt versetzt (Falconer et al., 2014). Vor ihnen saß ein weinendes virtuelles Kind (siehe Bild), das die Probandinnen trösten sollten. Hatten sie diese Aufgabe erfüllt, schlüpften sie in den Körper des Kindes. Nach dem Wechsel in die Perspektive des Kindes empfingen sie ihren eigenen Trost: Sie wurden von der anderen Person so getröstet, wie sie selbst zuvor das Kind getröstet hatten. Die Ergebnisse sind ermutigend: Die Frauen fühlten sich nach dem virtuellen Erlebnis sicherer und berichteten mehr Mitgefühl für sich selbst. Und auch Depressiven scheint das Verfahren zu helfen (Falconer et al., 2016): In einer Folgestudie schlüpften depressive Personen zunächst in die Rolle der bzw. des Tröstenden, dann in die Rolle des getrösteten Kindes; insgesamt dreimal, jeweils im Abstand von einer Woche. Diese drei virtuellen Erlebnisse verringerten bei der Mehrheit die depressiven Symptome – und das sogar mit Bild (bearbeitet) von Chris Brewin via PLOS ONE (http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0111933), CC: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.Langzeitwirkung: Noch vier Wochen später berichteten die Betroffenen, weniger selbstkritisch und dafür mitfühlender sich selbst gegenüber zu sein. Die Ergebnisse sind vielversprechend, die Stichprobe war mit 15 Testpersonen jedoch klein. Weitere Studien mit größeren Stichproben müssen erforschen, ob solche virtuellen Interventionen tatsächlich zur Heilung von Depression geeignet sind.

Einmal Super(wo)man sein: Macht VR uns sozialer?

Ein Kollege fegt versehentlich den vollen Stiftehalter vom Schreibtisch. Was tun Sie? Eilen Sie ihm zu Hilfe? Was, wenn das gleiche Missgeschick einer fremden Person passiert? Ob und wie wir auf solche Missgeschicke reagieren, nutzt die Psychologie als Maß für Prosozialität, d. h. dafür, wie hilfsbereit Personen sind. Auch in diese Forschung hat die virtuelle Realität Einzug gehalten: An der Universität Stanford fanden sich Testpersonen in einer virtuellen Stadt wieder – entweder, um sie zum Spaß zu erkunden, oder aber, um sie nach einem zuckerkranken Kind zu durchkämmen, das dringend Insulin benötigte (Rosenberg, Baughman & Bailenson, 2013). Sowohl in der Spaß- als auch in der Rettungs-Gruppe gab es verschiedene Rollen: Einige saßen in einem Hubschrauber, andere konnten wie „Super(wo)man“ durch die Stadt fliegen. Kehrte die Testperson aus der virtuellen Realität ins Psychologie-Labor zurück, stieß kurz darauf die Versuchsleitung einen Behälter mit Stiften vom Labortisch. Für die Testpersonen wirkte das Missgeschick wie ein Versehen – tatsächlich war es nur ein gut gespieltes Versehen. Die Forscher*innen interessierte, wie die Testpersonen auf dieses Missgeschick reagierten – und vor allem, ob ihre Hilfsbereitschaft davon abhing, mit welchem Ziel und in welcher Rolle sie zuvor in der virtuellen Stadt unterwegs gewesen waren. Wer hilft eher und ausdauernder? Überraschenderweise hatte das Ziel keinen Einfluss: Die Rettungs-Gruppe war nicht hilfsbereiter als die Spaß-Gruppe. Die Rolle allerdings hatte sehr wohl einen Einfluss: Am hilfsbereitesten waren die fliegenden Superheld*inn*en! Dabei war es egal, ob sie in der virtuellen Welt zum Spaß durch die Stadt geflogen waren oder fliegend nach dem kranken Kind gesucht hatten: Sie kamen der ungeschickten Versuchsleitung im Schnitt am schnellsten zu Hilfe und hoben die meisten Stifte auf. Das virtuelle Erlebnis, übermenschliche Kräfte zu besitzen, konnte in dieser Studie Hilfsbereitschaft fördern – ein spannendes erstes Ergebnis, das viele Fragen offen lässt bzw. eröffnet, z. B. wie lange so ein virtuelles Super(wo)man-Erlebnis wohl nachwirkt?  

Umweltbewusster durch virtuelles Baumfällen?

Zeitungen, Verpackungen, Geschenkpapier zu Weihnachten – laut Umweltbundesamt (2015) verbraucht Deutschland so viel Papier wie Südamerika und Afrika zusammen. Dafür werden viele Bäume abgeholzt und unterBild von Virtual Human Interaction Lab (Stanford University) hohem Energieverbrauch zu Papier verarbeitet. Das schadet der Umwelt. Schon kleine Veränderungen im Alltag könnten einen wichtigen Beitrag zum Umweltschutz leisten – z. B. wenn ab und an der Coffee-To-Go nicht im Pappbecher, sondern in einem wiederverwendbaren Gefäß genossen würde. An der University of Georgia arbeitet die koreanische Wissenschaftlerin Sun Joo Grace Ahn daran, uns die Konsequenzen unseres Handelns vor Augen zu führen – mithilfe von virtueller Realität. In einer Studie (Ahn, Bailenson & Park, 2014) lasen Testpersonen einen kurzen Text mit der drastischen Botschaft: Täglich werden rund 42.000 Bäume gefällt, um die US-amerikanische Bevölkerung mit Toilettenpapier zu versorgen. Für einen Teil der Testpersonen ging es danach in die virtuelle Welt, genauer gesagt in einen virtuellen Wald: Dort fällten sie mit einer Kettensäge einen Baum (siehe Bild 4). Der Baum stürzte zu Boden und alle Geräusche verstummten, die den Wald zuvor so lebendig hatten erscheinen lassen. Der andere Teil der Testpersonen hatte kein virtuelles Erlebnis, bekam aber eine Beschreibung des virtuellen Szenarios zu lesen. Wenn die Testperson drauf und dran war, das Labor zu verlassen, verschüttete die Forscherin vermeintlich unbeabsichtigt ein Glas Wasser und bat die Testperson, ihr beim Aufwischen zu helfen – mit Papiertüchern. Das Ergebnis: Testpersonen, die im virtuellen Wald eigenhändig einen Baum gefällt hatten, verbrauchten etwa 20 % weniger Papiertücher als die Testpersonen, die nur über das Baumfällen gelesen hatten. Kann virtuelles Baumfällen also dazu führen, Papiermüll bewusst zu vermeiden?

Dieser Frage gingen Ahn und ihre Kolleg*inn*en in einer weiteren Studie nach (Ahn et al., 2014). Wieder schickten sie eine Gruppe von Testpersonen zum Baumfällen in den virtuellen Wald, gaben einer zweiten Gruppe eine Beschreibung zu lesen und zeigten einer dritten Gruppe ein Video des virtuellen Baumschlags. Eine Woche später fragten sie alle Testpersonen nach deren Einstellungen zum Umweltschutz und ihrem Umweltverhalten in den letzten Tagen. Das virtuelle Baumfällen war auch hier wirksam: Testpersonen, die im virtuellen Wald eigenhändig einen Baum gefällt hatten, berichteten im Schnitt umweltfreundlicheres Verhalten – beispielsweise hatten sie mehr Recycling-Papier gekauft. Das virtuelle Handanlegen vermittelte offenbar ein Gefühl von Kontrolle, dass mit dem eigenen Handeln der Schutz der Wälder beeinflusst werden kann (Ahn et al., 2014). Virtuelle Welten ermöglichen interaktive, persönliche Erfahrungen, die eindrücklicher sein können als Text- und Videomaterial. Würde ein eigenhändiger Baumschlag in einem realen Wald zu noch mehr umweltbewusstem Verhalten führen? – Schwer zu sagen: Einerseits ist die persönliche Erfahrung womöglich intensiver, andererseits verstummt der reale Wald vermutlich nicht wie der virtuelle Wald in den beschriebenen Studien.

1999 kämpfte Keanu Reeves als Neo gegen die „Matrix“, um die Realität nicht aus den Augen zu verlieren; heute öffnet uns die virtuelle Realität die Augen für drängende globale Herausforderungen. Darauf setzen nicht nur Umweltorganisationen wie der WWF, sondern beispielsweise auch die Vereinten Nationen. Der WWF will von der Schutzbedürftigkeit wilder Tiger überzeugen (http://assets.wwf.org.uk/adoption/virtual-tiger/?pc=AQF407096&utm_campaign=vrtiger&utm_medium=ftf&utm_source=web1), die Vereinten Nationen versetzen das Publikum mit dreidimensionalen Videos in das Chaos nach dem Erdbeben in Nepal oder nehmen uns mit auf den Fluss Ganges bei seinem Weg durch das industriell verseuchte Kanpur in Indien. Mit Erfolg: Das achtminütige Video „Clouds over Sidra“ (https://unitednationsvirtualreality.wordpress.com/virtual-reality/cloudsoversidra/) zeigt den Alltag eines jungen Mädchens im Flüchtlingscamp Za’atri in Jordanien und soll die Spendenbereitschaft für UNICEF verdoppelt haben (Harris, 2015).

Neo hat schließlich gesiegt – und der virtuelle Raum hat Grenzen

Virtuelle Welten ermöglichen heute realitätsnahe, interaktive Erfahrungen – auch solche, zu denen wir in der echten Welt keinen Zugang haben: Wir können ohne größeren Aufwand den Start eines Flugzeugs erleben, uns kritischen Fragen im Bewerbungsgespräch stellen oder gar in die Rolle fliegender Superheld*inn*en schlüpfen. Das Abtauchen in virtuelle Welten kann Einstellungen und Verhalten beeinflussen und positive Wirkungen haben – beispielsweise Ängste abbauen helfen.

Noch nicht zur Sprache kam der Wechsel zwischen den Welten. Im Film „Matrix“ ist die Hauptfigur Neo beim Auftauchen aus der virtuellen Welt völlig desorientiert und übergibt sich vor lauter Panik. Und tatsächlich gibt es solche Symptome nicht nur im Film: Schon ein kurzer Besuch in der virtuellen Welt kann zu Übelkeit, Schwindel und Unwohlsein führen. Forscher*innen bezeichnen das als Simulatorkrankheit. Das Gehirn kann womöglich den körperlichen Stillstand mit der wahrgenommenen Bewegung im virtuellen Raum nicht in Einklang bringen und verursacht die unangenehmen Symptome.

Virtuelle Welten können positive Wirkungen haben – Ängste und womöglich Depressionen verringern, Hilfe- und Umweltverhalten fördern. Was sich für einen guten Zweck einsetzen lässt, lässt sich meist aber auch für das genaue Gegenteil verwenden. Und: Was ist überhaupt „gut“? Wer entscheidet, wie sich unser Verhalten verändern soll? Ist es überhaupt möglich, beliebige Einstellungen und Verhaltensweisen gezielt und langfristig durch Erfahrungen in der virtuellen Welt zu ändern? Kann jede Situation in allen Details in der virtuellen Realität abgebildet und mit einer Datenbrille trainiert werden? Vermutlich nicht. Oder noch nicht?

Jan bekommt die Diskrepanz zwischen VR und echter Welt jedenfalls zu spüren. Bei seinem ersten realen Date spult er sein Programm ab, wie er es in der virtuellen Realität gelernt hat: Sich kurz vorstellen, das Gegenüber nach Hobbys fragen und schließlich überlegen, wann man sich wieder treffen könnte. Die Karin aus Fleisch und Blut überzeugt das nicht ¬– sie findet Jan langweilig und seine Sprüche klingen auswendig gelernt. Nach einer Viertelstunde ist sie weg und Jan fragt sich, ob er sich auf sein nächstes Date nicht besser in der realen Welt vorbereitet.

Literaturverzeichnis

Ahn, S. J. G., Bailenson, J. N., & Park, D. (2014). Short- and long-term effects of embodied experiences in immersive virtual environments on environmental locus of control and behavior. Computers in Human Behavior, 39, 235-245.

Falconer, C. J., Rovira, A., King, J. A., Gilbert, P., Antley, A., Fearon, P., Ralph, N., Slater, M., & Brewin, C. R. (2016). Embodying self-compassion within virtual reality and its effects on patients with depression. British Journal of Psychiatry Open, 2, 74-80.

Falconer, C. J., Slater, M., Rovira, A., King, J. A., Gilbert, P., Antley, A., & Brewin, C. R. (2014). Embodying compassion: A virtual reality paradigm for overcoming excessive self-criticism. PLOS One, 9 (11), e111933.

Harris, B. J. (2015). How the United Nations is Using Virtual Reality to Tackle Real-World Problems. Verfügbar unter http://www.unicefstories.org/2015/10/13/how-the-united-nations-is-using-... [18.12.2016].

Hartanto, D., Kampmann, I. L., Morina, N., Emmelkamp, P. G. M., Neerincx, M. A., & Brinkman, W.-P. (2014). Controlling social stress in virtual reality environments. PLOS One, 9 (3), e92804.

Meyerbröker, K., & Emmelkamp, P. M. G. (2010). Virtual reality exposure therapy in anxiety disorders: A systematic review of process-and-outcome studies. Depression and Anxiety, 27, 933-944.

Morina, N., Ijntema, H., Meyerbröker, K., & Emmelkamp, P. (2015). Can virtual reality exposure therapy gains be generalized to real-life? A meta-analysis of studies applying behavioral assessments. Behavior Research and Therapy, 74, 18-24.

Opris, D., Pintea, S., García-Palacios, A., Botella, C., Szamoskösi, S., & David, D. (2012). Virtual reality exposure therapy in anxiety disorders: a quantitative meta-analysis. Depression and Anxiety, 29 (2), 85-93.

Rosenberg, R.S., Baughman, S.L., Bailenson, J.N. (2013). Virtual Superheroes: Using Superpowers in Virtual Reality to Encourage Prosocial Behavior. PLOS One, 8 (1), e55003.

Rothbaum, B. O., Hodges, L., Smith, S., Lee, J. H., & Price, L. (2000). A controlled study of virtual reality exposure therapy for the fear of flying. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 68 (6), 1020-1026.

Slater, M., & Wilbur, S. (1997). A framework for immersive virtual environments (FIVE): Speculations on the role of presence in virtual environments. Presence: Teleoperators and Virtual Environments, 6 (6), 603-616.

Stepstone (2016). Eine gute Vorbereitung: Das A&O beim Vorstellungsgespräch. Verfügbar unter http://www.stepstone.de/Karriere-Bewerbungstipps/bewerbungstipps/das-vor... [18.12.2016].

Umweltbundesamt (2015). Deutschland ist Spitzenreiter – beim Papierverbrauch. Verfügbar unter http://www.umweltbundesamt.de/service/green-radio/deutschland-ist-spitze... [18.12.2016].

Wittchen, H.-U., & Hoyer, J. (Hrsg.) (2011). Klinische Psychologie und Psychotherapie. Berlin: Springer.

Autor*innen

Artikelschlagwörter