Mitgehangen – mitgefangen? Wie sich Suchtprobleme auf Angehörige auswirken
Haben Sie schon einmal bei der Begrüßung Ihres Partners die Sorge gehabt, dass dieser wieder nach Alkohol riecht? Oder haben Sie sich schon einmal dabei ertappt, wie Sie das Zimmer Ihres Kindes heimlich nach Tütchen mit Cannabis durchsuchen? Wenn Sie sich in diesen Beschreibungen wiederfinden, dann gehören vielleicht auch Sie zu den mehreren Millionen Menschen in Deutschland, die als Angehörige vom problematischen Substanzkonsum eines Familienmitglieds mitbetroffen sind. Möglicherweise haben Sie ähnliche Geschichten auch schon einmal im Freundes- oder Bekanntenkreis gehört und sich die Frage gestellt, welche Auswirkungen eine Suchtproblematik eigentlich auf die Familien der Betroffenen hat und wie diese damit umgehen können. Der folgende Artikel stellt den aktuellen Forschungsstand zur Lebenssituation und zu Unterstützungsbedarfen bei diesen Angehörigen dar.
Der übermäßige Konsum von Alkohol und illegalen Drogen kennt viele Gesichter und Geschichten und etliche davon entsprechen nicht den Bildern, die bei dem Begriff „alkoholabhängig“ als erstes in den Sinn kommen. Vielmehr versuchen Menschen mit einem problematischen Substanzkonsum häufig, diesen vor ihrer Umgebung zu verbergen und möglichst unauffällige Eltern, Partner, Freunde oder ArbeitskollegInnen zu sein. Die Ergebnisse des aktuellsten Epidemiologischen Suchtsurveys von 2015 (Gomes de Matos, Atzendorf, Kraus & Piontek, 2016) zeigen anhand einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe zwischen 18 und 64 Jahren, dass ein problematischer Substanzkonsum in Deutschland nach wie vor weit verbreitet ist. In der Studie finden sich bei ca. 28,3 % der männlichen und 9,6 % der weiblichen Befragten Hinweise auf einen problematischen Alkoholkonsum. Problematischer Alkoholkonsum wurde dabei anhand des Alcohol Use Disorder Identification Tests (AUDIT), einem weltweit eingesetzten Screening-Instrument für alkoholbezogene Störungen erfasst. Liegt eine Person über einem bestimmten Punktwert (in den meisten Studien ist das ein Punktwert von 8), besteht ein erhöhtes Risiko eine Alkoholabhängigkeit oder alkoholbedingte Folgeerkrankungen zu entwickeln. Rechnet man diese Prozentzahlen auf die deutsche Gesamtbevölkerung hoch, so betrifft dieser so definierte problematische Alkoholkonsum rund 7,28 Millionen Männer und 2,43 Millionen Frauen zwischen 18 und 64 Jahren. In der gleichen Umfrage wurde mithilfe der Severity of Dependence Scale (einem Screening-Instrument für die Schwere einer Abhängigkeitsproblematik) herausgefunden, dass ca. 1,4 % der Männer und 1 % der Frauen Cannabis in einem klinisch relevanten Ausmaß konsumieren (das sind hochgerechnet auf die Bevölkerung Deutschlands etwa 550.000 Personen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren). Bezieht man diese Zahlen nun auf Angehörige, die von dem problematischen Konsum mehr oder weniger mitbetroffen sind, ist dementsprechend von einer noch höheren Zahl an betroffenen Angehörigen auszugehen. Anders als für Betroffene selbst liegen in Deutschland zu Angehörigen von Suchterkrankten keine bevölkerungsrepräsentativen Studien vor. Es wird aber davon ausgegangen, dass es etwa 10 Millionen Angehörige von Menschen mit problematischem Substanzkonsum in Deutschland gibt (Berndt, Bischof, Besser, Rumpf & Bischof, 2017). Dies bedeutet, dass etwa eine/r von acht EinwohnerInnen in Deutschland davon betroffen ist. Angesichts dieser hohen Zahl ist es bedenklich, dass das Thema „Angehörige von Menschen mit problematischem Substanzkonsum“ bislang noch so wenig öffentlich und professionell adressiert wird. Insbesondere da dies nicht für alle Angehörigengruppen von chronisch erkrankten Personen der Fall ist. Pflegende Angehörige von Demenzerkrankten beispielsweise sind in den letzten 10 Jahren sowohl in der Forschung als auch in der Versorgung und öffentlichen Wahrnehmung zunehmend in den Fokus gerückt (z. B. Schwerpunktprogramme des Bundesministeriums für Gesundheit zu Demenz).
Die (schwierige) Lebenssituation Angehöriger von Menschen mit problematischem Substanzkonsum wurde in einigen Forschungsarbeiten bereits näher betrachtet. So zeigt sich, dass diese Angehörigen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung über eine stärkere psychische und physische Belastung sowie über eine geminderte Lebensqualität berichten (Hofheinz & Soellner, 2018; Orford, Velleman, Natera, Templeton & Copello, 2013; Soellner & Hofheinz, 2017). Weiterhin ergaben sich bei Angehörigen im Vergleich zu einer nicht belasteten Kontrollgruppe höhere medizinische Kosten und sie wiesen eher Beschwerden wie Rückenschmerzen, Asthma, Depressionen oder auch eine eigene Substanzabhängigkeit auf (Ray, Mertens & Weisner, 2007). Allerdings gleichen sich diese Behandlungskosten wieder an, sobald der/ die Suchtkranke in Behandlung geht. Dabei scheinen die psychischen und physischen Belastungssymptome zwischen verschiedenen Angehörigengruppen (u. a. Partnerinnen und Partner, Eltern, Kinder) eher vergleichbar zu sein (Hofheinz & Soellner, 2018). Ob es sich bei dem Konsummittel der Betroffenen um das legale Mittel Alkohol oder um illegale Drogen handelt, ergibt dieser Studie zufolge in der Stärke der Belastung der Angehörigen keinen Unterschied.
Insgesamt zeigen diese Studienergebnisse, dass es sich bei den Angehörigen von Menschen mit problematischem Substanzkonsum um eine in vielerlei Hinsicht belastete Gruppe handelt. Die Frage, inwieweit diese Belastung tatsächlich auch stärker ausgeprägt ist als bei anderen Angehörigen von Menschen mit (chronischen) Erkrankungen, kann derzeit noch nicht sicher beantwortet werden. Allerdings gibt es mehrere Problemfelder, welche den Zugang zu Hilfsangeboten für Angehörige von Suchterkrankten erschweren und damit möglicherweise auch erklären können, warum psychische und physische Belastungssymptome in dieser Gruppe besonders ausgeprägt sind. So besteht die Problematik, dass es in Deutschland bislang noch relativ wenige Hilfsangebote gibt, die speziell auf die Bedarfe von Angehörigen zugeschnitten sind. Eine große Rolle in der Unterstützung Angehöriger spielen die Selbsthilfegruppen verschiedener Träger (z. B. Guttempler, Freundeskreise, Blaues Kreuz, Kreuzbund), welche mit ihren eigenständigen Angeboten für Angehörige oftmals eine erste Anlaufstelle sind (Soellner, 2016). Weitere Angebote der professionellen Suchthilfe sind Beratungsgespräche für Angehörige in Suchtberatungsstellen, Mitbehandlungsangebote für Angehörige in Kliniken sowie verhaltenstherapeutisch fundierte Beratungsangebote wie das Community Reinforcement and Family Training (CRAFT; Smith & Meyers, 2004). Verlässliche Zahlen über die Nutzung dieser spezifischen Angebote von Angehörigen liegen nicht vor, da diese derzeit nicht übergreifend dokumentiert werden.
Im Rahmen des partizipativen Forschungsprojekts „AnNet-Angehörigennetzwerk“, setzten sich Angehörige von Suchterkrankten gemeinsam mit ForscherInnen der Universität Hildesheim unter anderem mit Unterstützungsbedarfen und –angeboten für Angehörige auseinander. Dabei stellte sich heraus, dass es im Alltag für Angehörige häufig schwierig ist, zeitnah und unkompliziert an Informationen und Hilfe zur Bewältigung ihrer Lebenssituation zu kommen. Weiterhin wurden Angebote als nicht ausreichend bekannt und die Vernetzung der Akteure untereinander als noch verbesserungswürdig angesehen (AnNet-Projekt, 2017). So berichten Angehörige von Menschen mit einem problematischen Substanzkonsum von einer geringeren Zufriedenheit mit der erhaltenen professionellen und privaten Unterstützung als pflegende Angehörige von Demenzerkrankten (Soellner & Hofheinz, in Vorbereitung). Dies kann einerseits auf einen tatsächlichen Mangel an Unterstützungsmöglichkeiten für Angehörige von Suchterkrankten hinweisen, anderseits aber auf darauf hindeuten, dass die gesellschaftliche Sicht auf Suchterkrankungen ein weiteres Hindernis für den Zugang zu Hilfsangeboten darstellt. Viele Angehörige empfinden es als sehr schwierig und schambesetzt mit anderen darüber zu sprechen, dass ihre Mutter, ihr Mann oder ihr Kind ein Problem mit Alkohol oder Drogen hat. Auch im Vergleich zu anderen psychischen Erkrankungen scheint Sucht in der gesellschaftlichen Wahrnehmung einen Sonderstatus einzunehmen. So zeigen Studien, dass missbräuchlicher Substanzkonsum und Substanzabhängigkeit verglichen mit anderen psychischen Erkrankungen mit einer besonders großen Stigmatisierung einhergehen (Corrigan et al., 2005; Crisp, Gelder, Rix, Meltzer & Rowlands, 2000). Die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen beschränkt sich dabei nicht nur auf die betroffenen Personen selbst, sondern kann auch auf deren Familien übertragen werden (Larson & Corrigan, 2008). So kann beispielsweise der Kontakt mit Familienmitgliedern von psychisch Erkrankten vermieden oder den Familien eine Mitschuld an der Erkrankung zugeschrieben werden. Solche Stigmata kommen dabei nicht unbedingt nur von außen, sondern die Betroffenen können sich auch selbst negative Eigenschaften oder negatives Verhalten zuschreiben (sogenannte Selbst- Stigmatisierung, z. B. „Wäre ich nicht so streng gewesen oder hätte ich mehr Zeit für mein Kind gehabt, hätte es nicht mit den Drogen angefangen.“). Antizipierte oder tatsächlich erlebte Stigmatisierung durch andere oder sich selbst kann dann in Verbindung mit Gefühlen von Schuld und Scham zu einer Verringerung der Suche nach Hilfe und sozialer Unterstützung führen (Clement et al., 2015; Orford, Copello, Velleman & Templeton, 2010). Dies bedeutet beispielsweise, dass ein Elternpaar sich keine Hilfe in einer Suchtberatungsstelle sucht, weil es befürchtet eine Mitschuld an der Drogensucht des Kindes zugeschrieben zu bekommen. Gleichzeitig zeigen Studien, dass soziale Unterstützung für Angehörige von Suchterkrankten eine der zentralen Unterstützungsmöglichkeiten in ihrer Situation ist (Orford et al., 2010). So geht beispielsweise die Zufriedenheit mit der erhaltenen emotionalen Unterstützung bei Angehörigen von Menschen mit einer Suchtproblematik mit einer geringeren psychischen Belastung sowie einer besseren Lebensqualität einher (Soellner & Hofheinz, 2017).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Angehörige von Menschen mit Suchtproblematik ein erhöhtes Risiko für psychische und physische Belastungssymptome sowie entsprechende Folgeerkrankungen aufweisen. Der Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten wird durch verschiedene Barrieren erschwert, wobei insbesondere die nach wie vor bestehende Stigmatisierung von Suchterkrankten und deren Familien eine große Hürde darstellt. Hier können verschiedene Akteure dazu beitragen, dass es Angehörigen erleichtert wird, über ihre Lebenssituation und die damit verbundenen Probleme zu sprechen und angemessene Unterstützung – sowohl im professionellen Hilfesystem wie auch im Privaten – zu erhalten. Dafür ist einerseits eine stärkere Sensibilisierung für die Belastung von Angehörigen auf Seiten der (Haus)ärztinnen und –ärzte sowie professionell Helfenden notwendig, damit Angehörige überhaupt zeitnah entsprechende Unterstützungsangebote wahrnehmen können. Darüber hinaus sollten Suchtprobleme nicht länger als Tabuthema – ein Thema, welches den familiären Rahmen besser nicht verlässt- behandelt, sondern auch öffentlich diskutiert werden. Hier kommt den Medien eine bedeutende Rolle zu, aber auch im privaten Umfeld kann eine erhöhte Sensibilisierung und Offenheit dem Thema gegenüber dazu beitragen, Stigmatisierung entgegenzuwirken. Angehörige sollten darin bestärkt werden über ihre Problematik offen zu sprechen. So sollte sich kein Elternteil schämen müssen, mit anderen Eltern über die gefundenen Tütchen mit Cannabis zu sprechen und die Sorgen darüber zu teilen. Manch eine/ r wird erstaunt sein, wie viele der Anvertrauten ähnliche Geschichten zu erzählen haben. Darüber hinaus sollte auf Seiten der Versorgung die Finanzierung der Behandlung von Angehörigen unabhängig von der Mitbehandlung des Suchbetroffenen gesichert werden.
Als Anlaufstellen für betroffene Angehörige bieten sich neben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), die lokalen Suchtberatungen (z. B. bei Caritas, Diakonie, AWO) und Elternkreise (Bundesverband der Elternkreise) sowie Selbsthilfegruppen für Angehörige (z. B. Freundeskreise, Blaues Kreuz, Guttempler, Kreuzbund, Al-Anon) an.
Literaturverzeichnis
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Corrigan, P. W., Lurie, B. D., Goldman, H. H., Slopen, N., Medasani, K., & Phelan, S. (2005). How adolescents perceive the stigma of mental illness and alcohol abuse. Psychiatric Services (Washington, D.C.), 56, 544–550. https://doi.org/10.1176/appi.ps.56.5.544
Crisp, A. H., Gelder, M. G., Rix, S., Meltzer, H. I., & Rowlands, O. J. (2000). Stigmatisation of people with mental illnesses. British Journal of Psychiatry, 177, 4–7. https://doi.org/10.1192/bjp.177.1.4
Gomes de Matos, E., Atzendorf, J., Kraus, L., & Piontek, D. (2016). Substanzkonsum in der Allgemeinbevölkerung in Deutschland. SUCHT, 62, 271–281. https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000445
Hofheinz, C., & Soellner, R. (2018). Belastungserleben Angehöriger von Suchterkrankten – Welche Rolle spielen Beziehungsstatus und Konsummittel? SUCHT, 64, 75–83. https://doi.org/10.102/0939-5911/a000531
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Orford, J., Velleman, R., Natera, G., Templeton, L., & Copello, A. (2013). Addiction in the family is a major but neglected contributor to the global burden of adult ill-health. Social Science & Medicine, 78, 70–77. https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2012.11.036
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Soellner, R. (2016). Kooperation ja gerne - aber wie? Perspektiven auf die Suchtselbsthilfe. In Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (Hrsg.), Selbsthilfejahrebuch 2016 (S. 71-76). Gießen: Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V.
Soellner, R., & Hofheinz, C. (2017). Resilienzfaktoren bei Angehörigen von Menschen mit problematischem Substanzkonsum. Suchttherapie, 18, 177–183. https://doi.org/10.1055/s-0043-118648
Soellner, R., & Hofheinz, C. (in Vorbereitung). Family members affected by a relative’s substance misuse or dementia – the role of social support.