Angst verstehen, Mut fördern: Was Familien über soziale Ängste wissen sollten

Soziale Angst gehört zu den häufigsten psychischen Belastungen im Kindes- und Jugendalter – und stellt auch Eltern vor große Herausforderungen. Wie können sie ihre Kinder stärken, ohne sie zu überfordern? Welche Rolle spielt elterliches Verhalten bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Ängsten? Dieser Beitrag stellt das Therapieprogramm SPACE vor – ein wissenschaftlich fundiertes Elterntraining, das zeigt, wie Mütter und Väter ihre Kinder empathisch begleiten und dabei helfen können, soziale Ängste Schritt für Schritt zu überwinden.

Wenn der Lehrer Lina aufruft, fühlt es sich für sie an, als würde ein grelles Licht auf sie scheinen. Die 12-Jährige spürt alle Blicke der Klasse auf sich gerichtet, senkt den Blick und errötet. „Ich schaffe das nicht“, denkt sie, während ihr Herz rast. Am Abend liegt sie mit Bauchschmerzen im Bett. Am nächsten Tag bittet ihre Mutter in der Schule darum, dass Lina von dem nächsten Referat befreit wird. „Sie ist eben sehr sensibel“, sagt sie. Aus Fürsorge versucht sie, Lina unangenehme Situationen zu ersparen. Gerade dieses Verhalten kann Linas soziale Angst jedoch langfristig verstärken.

Mit ihren Ängsten ist Lina nicht allein. Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (Schmitz & Asbrand, 2020). Eine spezifische Form der Angststörung ist die soziale Angststörung, welche ihren Beginn häufig in der Kindheit hat (Schmitz & Asbrand, 2020). Eine soziale Angststörung zeigt sich durch eine ausgeprägte und anhaltende Angst vor sozialen Situationen – vor allem, wenn Kinder im Mittelpunkt stehen oder bewertet werden könnten (ICD-11; World Health Organisation, 2019). Das kann zu einer erheblichen Belastung in Schule, Freizeit und Familie führen. Typische Begleiterscheinungen bei Kindern sind Kopf- und Bauchschmerzen, starkes Herzklopfen, aber auch Rückzug, Weinen und aggressives Verhalten (Schmitz & Asbrand, 2020). Ihre Gedanken kreisen oft darum, wie peinlich oder schlimm eine Situation sein könnte (Schmitz & Asbrand, 2020) – wie bei Lina, die denkt: „Ich zittere, mir fällt nichts ein! Das ist peinlich!“ Solche Gedanken verstärken die Angst – ein Teufelskreis entsteht.

Viele Kinder sind vor Referaten, Prüfungen oder neuen Situationen nervös – das ist völlig normal und gehört zur Entwicklung. Von einer sozialen Angststörung spricht man jedoch, wenn diese Ängste über einen längeren Zeitraum bestehen, sehr intensiv sind und das Leben des Kindes deutlich einschränken (World Health Organisation, 2019). Schätzungen zufolge ist etwa jedes zwanzigste Kind und jede:r zwölfte Jugendliche von einer sozialen Angststörung betroffen (Salari et al., 2024). Eine frühzeitige Behandlung ist wichtig, da die Störung sonst chronisch werden und das Selbstwertgefühl, die schulischen Leistungen und die sozialen Beziehungen beeinträchtigen kann (Lebowitz & Omer, 2013; Schmitz & Asbrand, 2020).

Bild 1: Kognitive Verzerrungen sind ein Symptom sozialer Angststörung.Bild 1: Kognitive Verzerrungen sind ein Symptom sozialer Angststörung.

Wie kann die soziale Angststörung behandelt werden?

Die wirksamste Methode zur Behandlung der sozialen Angststörung im Kindes- und Jugendalter ist die kognitive Verhaltenstherapie (Scaini et al., 2016). Besonders hilfreich ist es, wenn Kinder schrittweise lernen, sich ihren Ängsten zu stellen (sogenannte Exposition) und ihre negativen Befürchtungen dadurch zu korrigieren. Dafür werden einzelne Situationen, die bei dem Kind Angst auslösen, nach der Höhe der Angst in eine Reihenfolge gebracht (z. B. auf einer Skala von 0 bis 10; sog. Angsthierarchie). Gemeinsam mit dem Kind wird eine herausfordernde, jedoch bewältigbare Situation ausgewählt und vorab besprochen. Das Kind stellt sich dann der Situation (z. B. ein Eis bestellen). Anschließend können Befürchtungen, die das Kind in der Situation hatte, gemeinsam überprüft werden (z. B. „Du hattest befürchtet, dass du anfängst, zu stottern und die Verkäuferin dann vielleicht lachen könnte – was ist tatsächlich passiert? Wie war das für dich?“). Wichtig ist, dass das Kind dafür gelobt wird, dass es sich seiner Angst gestellt hat, damit es die Situation als positiv erlebt – selbst dann, wenn die Angst nicht nachgelassen hat oder die Situation nicht vollständig geglückt ist (z. B. „Das war sehr mutig von dir, dass du das trotz deiner Angst gemacht hast“).

Auch lassen sich in Rollenspielen oder Alltagssituationen soziale Fähigkeiten trainieren – etwa Blickkontakt zu halten, laut zu sprechen oder ein Telefonat zu führen (Scaini et al., 2016). Ein weiterer wichtiger Bestandteil ist die sogenannte Psychoedukation – also eine altersgerechte Aufklärung über das Gefühl der Angst, seine Funktion und wann es zur Belastung wird. Allerdings zeigt sich: Die Behandlung der sozialen Angststörung ist oft schwieriger als bei anderen Angststörungen. Nur etwa die Hälfte der Kinder und Jugendlichen erfüllt nach der Therapie nicht mehr die Diagnosekriterien (Evans et al., 2021; Hudson et al., 2015). Eine Möglichkeit, den Behandlungserfolg zu verbessern, kann der gezielte Einbezug der Eltern sein.

Eltern als Teil der Lösung – oder des Problems?

Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Wenn dieses unter Ängsten leidet, ist es nur verständlich, dass sie versuchen, zu helfen - etwa indem sie angstauslösende Situationen vermeiden oder ihrem Kind Aufgaben abnehmen. Dieses sogenannte akkommodierende Verhalten kann zwar kurzfristig entlasten, verhindert aber langfristig, dass Kinder lernen, mit ihrer Angst umzugehen. Die Botschaft, die oft ungewollt mitschwingt: „Du schaffst das nicht allein“.

Manche Eltern zeigen selbst soziale Ängstlichkeit (Ollendick & Benoit, 2012) oder sorgen sich, dass ihr Kind negativ durch andere Kinder bewertet werden könnte (Dülger et al., 2024). Dadurch dienen die Eltern den Kindern als Modell für soziale Situationen (Schmitz & Asbrand, 2020). Auch überfürsorgliches und überkontrollierendes Erziehungsverhalten kann die Angst des Kindes aufrechterhalten (Laakmann et al., 2017). Solches Verhalten kann aus dem Impuls heraus entstehen, das eigene Kind vor potenzieller Überforderung und Erfahrungen des Scheiterns schützen zu wollen. Dies kann jedoch dazu führen, dass Eltern durch zu starke Unterstützung ihren Kindern die Möglichkeit nehmen, eigene Kompetenzen auszubilden und stattdessen die Ängste ihrer Kinder fördern (Affrunti & Woodruff-Borden, 2015).

Ob das Verhalten der Eltern die Angst auslöst oder eher eine Reaktion darauf ist, lässt sich nicht eindeutig sagen. Fest steht aber: Es lohnt sich, Eltern darin zu unterstützen, wie sie ihr Kind stärken können.

SPACE: Wenn Therapie bei den Eltern ansetzt

Ein neuartiger Ansatz aus den USA verfolgt genau dieses Ziel: das Programm Supportive Parenting for Anxious Childhood Emotions (deutsch: „Unterstützendens Elternverhalten bei ängstlichen Gefühlen ihrer Kinder“) – kurz SPACE (Lebowitz & Omer, 2013). Anders als klassische Therapien richtet sich SPACE ausschließlich an die Eltern – das Kind nimmt gar nicht teil. Ziel ist es, elterliches Verhalten zu verändern, das kindliche Ängste ungewollt verstärken kann. Das beginnt mit scheinbar kleinen Dingen: Eltern lernen etwa, das Kind nicht mehr in der Schule zu entschuldigen oder für es im Restaurant zu bestellen. Stattdessen werden sie darin geschult, die Angst des Kindes empathisch anzuerkennen – ohne ihr nachzugeben. Statt zu sagen „Das ist doch nicht schlimm“ oder „Dann mache ich das jetzt halt für dich“, formulieren sie zukünftig: „Ich sehe, dass dir das Angst macht – aber ich bin sicher, du kannst das schaffen.“

Das Programm umfasst etwa zehn bis zwölf Sitzungen. Neben der Schulung im Umgang mit akkommodierendem Verhalten lernen Eltern auch, wie sie ihr Kind in stressigen Situationen gezielt unterstützen können – etwa mit positiven Gedanken wie „Ich kann das schaffen“ oder Atemübungen.

Bild 2: Elterntrainings sind eine besondere Form der Intervention bei sozialer Angststörung.Bild 2: Elterntrainings sind eine besondere Form der Intervention bei sozialer Angststörung.

Wenn Veränderungen nicht leichtfallen

SPACE enthält außerdem spezielle Module, etwa für Eltern, die mit heftigen emotionalen Reaktionen ihrer Kinder konfrontiert sind - wie Wutanfällen, Rückzug oder der Drohung, sich selbst zu verletzen. Weitere Einheiten helfen Eltern, besser zusammenzuarbeiten, wenn sie sich bei der Erziehung uneinig sind.

Wie wirksam ist SPACE

Seit seiner Entwicklung wird SPACE in vielen Ländern eingesetzt. Erste Studien zeigen, dass das Programm ähnlich wirksam ist wie klassische Verhaltenstherapie (Lebowitz et al., 2020). Besonders geeignet scheint es für Familien, in denen das Kind selbst (noch) keine Therapie in Anspruch nehmen möchte oder kann. Aktuell wird das Programm für den Einsatz bei weiteren psychischen Erkrankungen erforscht.

In Deutschland wird SPACE zunehmend an spezialisierten Therapiezentren sowie in einigen Ambulanzen und psychotherapeutischen Praxen angeboten. Zertifizierte SPACE-Therapeut:innen finden interessierte Eltern z. B. über die Homepage des SPACE-Programms (https://www.spacetreatment.net). Wer vermutet, dass sein Kind unter sozialer Angst leidet, kann sich zunächst an die Kinderarztpraxis, eine Beratungsstelle oder eine niedergelassene psychotherapeutische Praxis wenden.

Bild 3: Die Wirksamkeit von SPACE wurde in ersten Studien bestätigt.Bild 3: Die Wirksamkeit von SPACE wurde in ersten Studien bestätigt.

Was Eltern mitnehmen können

Viele Prinzipien des SPACE-Programms lassen sich auch im Alltag anwenden, um Kinder zu unterstützen, mit ihren Ängsten umzugehen:

  • Emotionen validieren: Statt zu sagen „Das ist doch nicht schlimm“, lieber: „Ich sehe, dass du dich unwohl fühlst – aber ich glaube an dich.“
  • Mut fördern statt vermeiden: Aufgaben nicht abnehmen, sondern gemeinsam in kleinen Schritten heranführen („Ich weiß, das ist schwer – aber wir probieren das gemeinsam“).
  • Klar und liebevoll bleiben: Auch in stressigen Momenten ruhig zu bleiben und Grenzen freundlich, aber bestimmt zu setzen, gibt Sicherheit.
  • Gemeinsam mit Stress umgehen:
    • Bewusstes Atmen (z. B. 4 Sekunden einatmen, 6 Sekunden ausatmen) hilft, akute Anspannung zu regulieren – am besten vorher üben!
    • Gedanken umformulieren: Statt „Ich kann das nicht!“ sich auf eine Karte schreiben: „Ich probier’s und ich muss nicht perfekt sein!“
    • Rituale schaffen: Ein ruhiger Abend, ein kurzer Spaziergang nach der Schule oder ein gemeinsames „Runterkommen“ hilft auch Eltern, gelassen zu bleiben.
    • Vorbild sein: Wer als Elternteil zeigt, wie man Stress konstruktiv bewältigt, stärkt auch das Kind darin.

Diese Strategien können Kindern helfen, ihre Angst zu regulieren – egal, ob eine diagnostizierte Störung vorliegt oder nicht.

Zusammenfassung

Eine soziale Angststörung kann für Kinder und ihre Familien sehr belastend sein. Das Verhalten der Eltern spielt eine wichtige Rolle. Das Elterntraining SPACE (Lebowitz & Omer, 2013) zeigt, wie Mütter und Väter ihrem Kind helfen können, seine Ängste zu überwinden: mit Einfühlungsvermögen, Klarheit und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Auch Lina könnte vom SPACE-Ansatz profitieren – indem ihre Eltern lernen, sie transparent und empathisch in der Auseinandersetzung mit ihren Ängsten zu unterstützen.

Literaturverzeichnis

Affrunti, N. W., & Woodruff-Borden, J. (2015). Parental perfectionism and overcontrol: Examining mechanisms in the development of child anxiety. Journal of Abnormal Child Psychology, 43(3), 517–529. https://doi.org/10.1007/s10802-014-9914-5

Dülger, M., Van Bockstaele, B., Majdandžić, M., & De Vente, W. (2024). Intergenerational transmission of social anxiety: The role of parents’ fear of negative child evaluation and their self-referent and child-referent interpretation biases. Cognitive Therapy and Research, 48(5), 957–973. https://doi.org/10.1007/s10608-024-10490-0

Evans, R., Clark, D. M., & Leigh, E. (2021). Are young people with primary social anxiety disorder less likely to recover following generic CBT compared to young people with other primary anxiety disorders? A systematic review and meta-analysis. Behavioural and Cognitive Psychotherapy, 49(3), 352–369. https://doi.org/10.1017/S135246582000079X

Hudson, J. L., Rapee, R. M., Lyneham, H. J., McLellan, L. F., Wuthrich, V. M., & Schniering, C. A. (2015). Comparing outcomes for children with different anxiety disorders following cognitive behavioural therapy. Behaviour Research and Therapy, 72, 30–37. https://doi.org/10.1016/j.brat.2015.06.007

Laakmann, M., Petermann, U., & Petermann, F. (2017). Elternarbeit im Kontext der Angstbehandlung von Kindern: Ein systematisches Review. Kindheit und Entwicklung, 26(2), 77–92. https://doi.org/10.1026/0942-5403/a000219

Lebowitz, E. R., Marin, C., Martino, A., Shimshoni, Y., & Silverman, W. K. (2020). Parent-based treatment as efficacious as cognitive-behavioral therapy for childhood anxiety: A randomized noninferiority study of supportive parenting for anxious childhood emotions. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 59(3), 362–372. https://doi.org/10.1016/j.jaac.2019.02.014

Lebowitz, E. R., & Omer, H. (2013). Treating Childhood and Adolescent Anxiety. Wiley.

Ollendick, T. H., & Benoit, K. E. (2012). A parent–child interactional model of social anxiety disorder in youth. Clinical Child and Family Psychology Review, 15(1), 81–91. https://doi.org/10.1007/s10567-011-0108-1

Salari, N., Heidarian, P., Hassanabadi, M., Babajani, F., Abdoli, N., Aminian, M., & Mohammadi, M. (2024). Global prevalence of social anxiety disorder in children, sdolescents and youth: A systematic review and meta-analysis. Journal of Prevention, 45(5), 795–813. https://doi.org/10.1007/s10935-024-00789-9

Scaini, S., Belotti, R., Ogliari, A., & Battaglia, M. (2016). A comprehensive meta-analysis of cognitive-behavioral interventions for social anxiety disorder in children and adolescents. Journal of Anxiety Disorders, 42, 105–112. https://doi.org/10.1016/j.janxdis.2016.05.008

Schmitz, J., & Asbrand, J. (2020). Soziale Angststörung im Kindes- und Jugendalter (T. In-Albon, H. Christiansen, & C. Schwenck, Hrsg.; 1. Aufl.). Kohlhammer. https://doi.org/10.17433/978-3-17-035131-8

World Health Organisation. (2019). 6B04 Social anxiety disorder. In International statistical classification of diseases and related health problems (11th Aufl.). https://icd.who.int/browse/2024-01/mms/en#2062286624

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