Verurteilt auf den ersten Blick? Über die Hintergründe und die Macht des ersten Eindrucks

Eine alte Redensart besagt „Der erste Eindruck zählt“ und das trifft oftmals zu! Wenn wir unbekannten Menschen begegnen, machen wir uns schnell ein Bild von ihnen und bleiben oft bei dieser Einschätzung. Aber warum ist das so und auf welcher Grundlage basiert dieser Eindruck? Dieser Artikel fasst die psychologische Forschungslage rund um den ersten Eindruck zusammen.

Egal ob beim Einkaufen im Supermarkt, im Café oder in der Bahn, in unserem Alltag begegnen wir ständig neuen, unbekannten Menschen. Haben Sie sich auch schon dabei erwischt, dass Sie bereits nach dem ersten Hinsehen einen Eindruck von einer fremden Person haben? Und ihr Eigenschaften wie Wohlstand, Arroganz oder einen Migrationshintergrund zuschreiben, ohne sich vorher mit ihr zu unterhalten oder großartig darüber nachzudenken? Warum tun wir das und wie entsteht der sogenannte „Erste Eindruck“? Im Folgenden werden wir uns genauer mit diesen Fragen beschäftigen und fassen die aktuelle psychologische Forschungslage der Eindrucksbildung zusammen.

Entstehung, Stabilität und Konsequenzen des ersten Eindrucks

Die visuelle Wahrnehmung bzw. das Sehen ist der am stärksten ausgeprägte Sinn des Menschen und macht einen Großteil unserer bewussten Sinneseindrücke aus (Rock & Victor, 1964) – genau zu beziffern ist der Anteil kaum, da er von vielen Faktoren abhängt, wie z. B. der aktuellen Situation, in der wir uns befinden. Wenn wir fremden Menschen begegnen, nehmen wir sie zuerst mit unseren Augen wahr und machen uns auf dieser Grundlage ein erstes Bild der Person. In kürzester Zeit beobachten wir z. B. das Gesicht, den Ausdruck und die Züge, die es annimmt, die (Kopf-) Bekleidung oder die Haltung der Person (Bar, Neta & Linz, 2006). Auf Grundlage dieser oberflächlichen Merkmale bauen sich bei uns verschiedenste Annahmen über die beobachtete Person auf. All dies passiert innerhalb einer atemberaubend kurzen Zeit von nur 100 Millisekunden (Willis & Todorov, 2006). Wir beurteilen aber nicht nur die offensichtlichen Merkmale einer Person, wie das vermeintliche Alter, Geschlecht und die Herkunft (Bruce & Young, 2013) oder Attraktivität der Person (Carbon, Faerber, Augustin, Mitterer & Hutzler, 2018). Wir schreiben ihr auch konkrete Persönlichkeitsmerkmale zu. So entscheiden wir bereits anhand eines Fotos, ob die abgebildete Person kompetent, vertrauenswürdig oder dominant ist (Oosterhof & Todorov, 2008; Willis & Todorov, 2006).

Dieser vielschichtige, erste Eindruck einer Person entsteht nicht nur schnell, sondern ist oft auch verblüffend genau: In einer Studie aus den 1990er Jahren wurden den Teilnehmern Fotos ihnen unbekannter Personen vorgelegt. Sie sollten die Personen auf den Fotos hinsichtlich verschiedener Persönlichkeitsmerkmale einschätzen und beurteilen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Teilnehmer die abgebildeten Personen sehr ähnlich einschätzten, wie reale Freunde dieser Personen (Berry, 1990). Weitere Forschung bestätigte diese Resultate: Die Urteile der Teilnehmer deckten sich auch mit den Ergebnissen objektiver Messungen der Eigenschaften der zu beurteilenden Person durch psychologische Tests. So reichten bereits kurze Videos einer fremden Person aus, dass die Teilnehmer sie ziemlich genau hinsichtlich ihrer objektiv gemessenen Gewissenhaftigkeit, Intelligenz oder Aufgeschlossenheit beurteilten (Carney, Colvin & Hall, 2007). Hat sich einmal ein Eindruck gebildet, ist dieser sehr stabil und kann nur langsam wieder verändert werden (Downey & Christensen, 2006; Kenny, Horner, Kashy & Chu, 1992). Aufgrund dieser Stabilität und Genauigkeit des ersten Eindrucks ist es also nicht verwunderlich, dass sich dieser auf unser Verhalten gegenüber der beobachteten Person auswirkt. Wir interagieren mit einer Person in einer bestimmten Weise, abhängig von den Bild 2. Quelle: ADOBE STOCK, free trial, licensed for distribution https://stock.adobe.com/de/images/successful-job-interview/132775108Bild 2. Quelle: ADOBE STOCK, free trial, licensed for distribution https://stock.adobe.com/de/images/successful-job-interview/132775108Eigenschaften, die wir ihr unterstellen. Wissenschaftler/innen zeigten, dass bereits das Betrachten eines Fotos einer/s uns zunächst unbekannten politischen Kandidaten/in ausreicht, um ihm/ihr Kompetenz oder Inkompetenz zu unterstellen und diese Person dann auch in einer Wahl zu wählen bzw. nicht zu wählen (Todorov, Mandisodza, Goren & Hall, 2005).

Ein anderes, alltägliches Beispiel verdeutlicht die Macht des ersten Eindrucks und unser daran angepasstes Verhalten ebenfalls: Wenn ein/e Mitarbeiter/in der Personalabteilung bereits durch unsere Bewerbungsunterlagen und den ersten Kontakt einen Eindruck von uns gewonnen hat, versucht er/sie diesen Eindruck während des Bewerbungsgespräches zu bestätigen bzw. aufrechtzuerhalten. So werden Bewerber/-innen, die bereits im Vorfeld einen positiven Eindruck hinterlassen haben, im Gespräch weniger unterbrochen, ihnen werden weniger Fragen gestellt und der/die Mitarbeiter/in der Personalabteilung versucht eher, dem/der Bewerber/in das Unternehmen schmackhaft zu machen. Hierdurch haben diese Bewerber/innen bereits von vornherein einen Vorteil (Dougherty, Turban & Callender, 1994). Dies ist auch ein Grund dafür, warum in den USA und einigen anderen Ländern Bewerbungsunterlagen ohne Foto oder Angabe von Geburtsdatum und Geschlecht eingereicht werden sollen (U.S. Equal Employment Opportunity Commission, 2019).

Die bekannte Redensart „Der erste Eindruck zählt“ scheint demnach als wissenschaftlich bewiesen. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass der erste Eindruck nicht zwangsläufig stimmt (Carney, Colvin & Hall, 2007) und wir bei Zeiten unsere Meinung über eine Person auch verändern (wollen), wenn wir sie besser kennenlernen. In unserem Alltag steht die dafür nötige Zeit jedoch kaum zur Verfügung: Ein prominentes Beispiel ist die Partnerplattform Tinder, in der man potentielle Partner/innen innerhalb von Millisekunden buchstäblich wegwischt (swiped). Wir haben also kaum Gelegenheit, die einzelnen Personen wirklich kennenzulernen, obwohl sie vielleicht zu uns passen würden.

Der schnelle erste Eindruck kann auch weitere negative Konsequenzen nach sich ziehen. Nachfolgend werden also die Schattenseiten des ersten Eindrucks diskutiert und welchen psychologischen und praktischen Grund es überhaupt dafür gibt, dass wir Menschen so schnell abstempeln.

Eindrucksbildung – Fluch und Segen zugleich

Quelle: ADOBE STOCK, free trial, licensed for distribution https://stock.adobe.com/de/images/people-of-different-ages-and-nationalities-having-fun-together/179214513Quelle: ADOBE STOCK, free trial, licensed for distribution https://stock.adobe.com/de/images/people-of-different-ages-and-nationalities-having-fun-together/179214513 In unserer heutigen Zeit, in der Multikulturalität und Diversität wichtige gesellschaftliche Themen sind, versuchen sich viele Menschen vorurteilsfrei, tolerant und weniger oberflächlich zu verhalten. Dieses Bestreben kann aus der Motivation entstehen, jeden Menschen individuell beurteilen zu wollen. Auf der anderen Seite könnte auch die Sorge, selbst durch eine ungerechte (Vor-)Verurteilung und Behandlung anderer als intolerant oder fremdenfeindlich abgestempelt zu werden, diese Motivation hervorrufen (Heilman, 2012). So oder so scheinen die Konsequenzen unseres ersten (visuellen) Eindrucks im Lichte einer Motivation zur Toleranz nahezu grotesk. Wie bereits angemerkt, geschehen diese Wahrnehmungs- und Zuschreibungsprozesse jedoch im Millisekundenbereich. Sie passieren also automatisch und sind unserer bewussten Wahrnehmung oft nicht zugänglich (Fazio, 2007). Selbst wenn wir es darauf anlegen würden, ist es fraglich, ob wir unseren ersten Eindruck von einer fremden Person unterdrücken könnten. Dies wirft die Frage auf: Warum ist das so und welchen Zweck erfüllt der erste Eindruck?

Das folgende Szenario verdeutlicht den Zweck und die Entstehung des ersten Eindrucks: Wenn wir an einem Samstagnachmittag durch die Innenstadt unseres Wohnortes laufen, werden wir mit Informationen und Reizen überflutet. Wir hören z. B. die Autos auf den Straßen fahren, sehen, wie zwei Menschen sich unterhalten und fühlen die Wärme der Sonnenstrahlen auf unserer Haut. Es scheint so, als hätten wir alles im Blick. Aber können Sie sich nachher an jeden einzelnen Menschen, den Sie gesehen haben, oder an jedes einzelne an Ihnen vorbeigefahrene Auto an diesem Tag erinnern? Wir sind nicht in der Lage, alle Dinge, mit denen wir konfrontiert werden, bewusst wahrzunehmen und zu verarbeiten. Unser Gehirn arbeitet mit der Flut an Informationen: Es reduziert, filtert, kategorisiert, schematisiert und konstruiert sie letztlich. Dies geschieht, um schnell auf unsere komplexe und dynamische Umwelt reagieren zu können. Dieser aktive Prozess der Wirklichkeitsgenerierung (Carbon, 2015) läuft auch beim ersten Eindruck ab. Er erfüllt evolutionspsychologisch daher erst einmal den Zweck der Informationsreduktion und Kategorisierung (Bar et al., 2006). Dinge und Menschen vorerst in „mentale Schubladen“ zu stecken, ist demnach ein normaler Prozess, um die alltägliche Informationsflut zu bewältigen.
ADOBE STOCK, free trial, licensed for distribution https://stock.adobe.com/de/images/evolution-of-man/42167541ADOBE STOCK, free trial, licensed for distribution https://stock.adobe.com/de/images/evolution-of-man/42167541
Der Grund dafür, warum wir fremden Menschen z. B. nach nur kurzer Betrachtung ihres Gesichts bereits Eigenschaften wie Vertrauenswürdigkeit oder Aggressivität unterstellen, liegt ebenfalls in unserer menschlichen Natur. Für das Überleben war es (und ist es ggf. heute noch) wichtig, dass wir mögliche Gefahren schnell entdecken und dementsprechend handeln (Oosterhof & Todorov, 2008). Vor allem bei Personen mit für uns ungewöhnlichen äußerlichen Merkmalen, wie einer anderen Hautfarbe, Gesichtsform oder (Kopf-)Bekleidung, tendieren wir eher dazu, Vorsicht walten zu lassen. Daher assoziieren wir mit ihnen u. a. eine geringe Vertrauenswürdigkeit (Brandenstein, Gebauer & Carbon, 2019). Zwar konnte dieser Mechanismus unseren Vorfahren das Überleben sichern, in der heutigen multikulturellen, zivilisierten Gesellschaft ist das jedoch nicht mehr unbedingt notwendig bzw. sinnvoll. Was können wir also tun, um den Einfluss des ersten Eindrucks auf uns zu verringern?

Wie wir gesehen haben, ist es nicht möglich, sich keinen ersten Eindruck einer Person zu machen. Falls wir uns jedoch dafür entscheiden, eine Person näher kennenzulernen oder einem Bewerber bzw. einer Bewerberin eine faire Chance zu geben, ist es wichtig, sich überhaupt bewusst zu machen, dass wir vermutlich bereits einen Eindruck von der Person gewonnen haben. Um anschließend auch objektive Kriterien zu berücksichtigen, sollte man das nötige Repertoire entwickeln: Nämlich die Motivation, sich aktiv mit seinen Mitmenschen zu unterhalten und auseinanderzusetzen. Dieses Vorgehen, verknüpft mit dem Wissen, dass der erste Schritt der Eindrucksbildung ohne unsere bewusste Kontrolle abläuft, kann uns dabei helfen, ein vollständigeres und vielseitigeres Bild der Person zu gewinnen. Sammeln wir nun systematisch neue Erfahrungen mit der Person und machen uns diese bewusst, ist es durchaus möglich, den ersten Eindruck zu revidieren (Wyer, 2010). Die Person im Café, die vorhin noch so arrogant aussah, stellt sich nun nach einem Gespräch als nett und aufgeschlossen heraus. Es kann sich also lohnen, fremden Personen eine Chance geben, einen zweiten bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Zusammenfassung

„Der erste Eindruck zählt und der zweite bleibt für immer.“ Es hat sich gezeigt, dass wir nicht davor gewappnet sind, uns schnell einen ersten Eindruck über andere Menschen zu machen. Wir schreiben Menschen allein durch äußerliche Merkmale bestimmte Persönlichkeitsmerkmale zu und verhalten uns ihnen gegenüber dementsprechend. Der gewonnene Eindruck ist sehr stabil, oftmals gar nicht so falsch und hat zudem einen evolutionären und psychologischen Grund. Wenn wir uns unserer Eindrucksbildung einer Person und wie dieser entsteht jedoch bewusst sind, können wir im Anschluss hinter die Fassade schauen und unsere Mitmenschen wirklich kennenlernen.

 

Literaturverzeichnis

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Brandenstein, N., Gebauer, F., & Carbon, C.-C. (2019). How do we perceive “aliens”? About the implicit processes underlying the perception of people with alien paraphernalia. Frontiers in Psychology, 10(1551). doi:10.3389/fpsyg.2019.01551 

Bruce, V., & Young, A. (2013). Face perception. East Sussex: Psychology Press.

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Carbon, C.-C., Faerber, S. J., Augustin, M. D., Mitterer, B., & Hutzler, F. (2018). First gender, then attractiveness: Indications of gender-specific attractiveness processing via ERP onsets. Neuroscience Letters, 686, 186-192. doi:10.1016/j.neulet.2018.09.009

Carney, D. R., Colvin, C. R., & Hall, J. A. (2007). A thin slice perspective on the accuracy of first impressions. Journal of Research in Personality, 41(5), 1054-1072. doi:10.1016/j.jrp.2007.01.004

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Kenny, D. A., Horner, C., Kashy, D. A., & Chu, L.-c. (1992). Consensus at zero acquaintance: replication, behavioral cues, and stability. Journal of Personality and Social Psychology, 62(1), 88-97. doi:10.1037//0022-3514.62.1.88 

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Todorov, A., Mandisodza, A. N., Goren, A., & Hall, C. C. (2005). Inferences of competence from faces predict election outcomes. Science, 308(5728), 1623-1626. doi:10.1126/science.1110589

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