Das Gehirn kann nicht abschalten! Was tun?

Urlaub und einfach mal abschalten! Interessanterweise gelingt dies vielen Menschen nicht so gut, wie erhofft. Neurowissenschaftliche Forschung zeigt, warum unser Gehirn Schwierigkeiten damit hat, auf Kommando abzuschalten und liefert erste Hinweise, was wir dagegen tun können.

„Nächste Woche fliege ich nach Australien, um endlich mal komplett abzuschalten!“ Man hört sie nicht selten, solche Sätze. Man wünscht „Viel Glück und einen schönen Urlaub!“. Warum eigentlich Australien, fragt sich etwas im Hinterkopf. Das andere Ende der Welt, nur um mal ein paar Tage die Arbeit hinter sich zu lassen? Ganz schön kostspielig. Und funktioniert es denn überhaupt?

Die Erfolgsaussichten sind geringer, als man denkt. Jede/r fünfte Deutsche hat Schätzungen zufolge schon Burnout-ähnliche Phasen erlebt, in denen das Gefühl, nicht abschalten zu können, einhergeht mit emotionaler Erschöpfung, Unruhe und Anspannung. Der Urlaub oder der wohlverdiente Feierabend können nicht mehr sorgenfrei erlebt werden, oftmals kommen Schlafstörungen hinzu. Die Anzahl der betrieblichen Fehltage wegen Burnouts oder Depression hat sich in den letzten zehn Jahren zu 12,5 % verdoppelt und es scheint, insbesondere gut ausgebildete Menschen mit Führungsverantwortung zu treffen. Warum der Stress ums Abschalten? Warum kann unsere Seele nicht baumeln und sich erholen, wenn wir es brauchen? Warum kreisen unsere Gedanken um Probleme bei der Arbeit statt um den Feierabend? 

Neurowissenschaftliche Forschung scheint erste Hinweise zu geben: Studien zum sogenannten Resting State (Ruhezustand) zeigen, dass unser Gehirn auch in Ruhephasen hochaktiv ist. Die Aktivierungsmuster ähneln dabei denen, die auch während sogenannter Task States zu finden sind, also in Zuständen, in denen wir mit der Lösung von Aufgaben beschäftigt sind, wie etwa bei der Arbeit. Viele Teile unseres Gehirns unterscheiden also nicht zwischen Ruhe und Aktivität. Kein Wunder, dass das Abschalten manchmal schwer fällt. Wie kommt man aus dem neuronalen Teufelskreis heraus? 

Das Gehirn im Ruhezustand

Es war eine Revolution der neurowissenschaftlichen Forschung. Für lange Zeit hatte sich die Neurowissenschaft auf den Menschen als handelndes und problemlösendes Wesen konzentriert. Es wurde gemessen, analysiert und diskutiert, wie der Mensch redet, läuft, sieht, die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand fokussiert oder mathematische Aufgaben bewältigt. Die Emotionsforschung konzentrierte sich auf akute Situationen: Was passiert, wenn ich einem aggressiven Mitmenschen oder weinenden Kind gegenüberstehe? Was tun, wenn Empathie gefordert ist? Immer ging es um schnelle Reizverarbeitung entsprechend dem klassischen Reiz-Reaktions- Schema: Ein Löwe steht vor mir und ich muss entweder kämpfen oder weglaufen. 

Dann kam der Umschwung. Forscher/innen realisierten, dass da mehr ist als die bloße Reaktion auf einen neuen Umweltreiz. Denn da ist die Ruhe. Jener Zustand, in dem man abschalten und sich ganz und gar dem eigenen Gedankenfluss hingeben soll. Kraft sammelt für alles, was da kommen mag. Die Forscher/innen begannen, sich für diesen völlig vernachlässigten Zustand des menschlichen Gehirns zu interessieren (Biswal, 2012). Was denkt man, wenn man eigentlich an nichts denkt? Was tut das Gehirn, wenn es nichts zu tun gibt?

Neurowissenschaftler/innen am Medical College of Wisconsin, USA, nahmen eine Pionierrolle in der sogenannten Resting State (Ruhezustand) Forschung ein. Sie fingen an, in Experimenten Versuchspersonen nicht mit Aufgaben zu überschütten, wie sonst üblich, sondern ihnen zu Beginn eine scheinbar einfache Anleitung mit auf den Weg zu geben: „Denken Sie an nichts Bestimmtes”. Dabei wurden dann Gehirnströme mittels funktioneller Magnetresonanztomographie ( fMRT) gemessen (Uddin, Kelly, Biswal, Castellanos & Milham, 2009).

Zunächst war die Euphorie groß. Man fand ein sogenanntes Resting State Network, welches im Gehirn aktiviert ist, wenn wir uns in Ruhe befinden (Biswal, Van Kylen & Hyde, 1997). Dieser Ruhezustand ist nicht mit dem Schlafen zu verwechseln. Er betrifft Zustände, in denen wir keiner aktiven Tätigkeit nachgehen, aber auch nicht schlafen. Es wurde viel spekuliert über diese neu entdeckten neuronalen Ruhe-Netzwerke. Ist dieses Resting State Network, welches nur in der Ruhe aktiviert wird, vielleicht der Schlüssel zu unserer Identität? Ist es die neuronale Grundlage für das sogenannte Core Self (der Kern des Selbst), welches im Ruhezustand endlich in Erscheinung tritt (Northoff, 2011)? Ein Selbst, welches, normalerweise überlagert von den vielen Aufgaben des Alltags, in der Ruhe zu uns zurück findet?

Alltagsrelevanz der Ruhe-Netzwerke

Um das richtungsweisende Experiment von Uddin und Kolleg/innen nachzuvollziehen, in dem das Resting State Network identifiziert wurde, versuchen Sie es einmal selbst. Stellen Sie sich vor, Sie nähmen an einer wissenschaftlichen Studie Teil. Sie lägen in einen Magnetresonanztomographen und erhielten die folgende Aufgabe: „Denken Sie an nichts Bestimmtes! Halten Sie die Augen aber geöffnet”. Zudem sagte man Ihnen, einschlafen sei nicht erlaubt. Was würde Ihnen durch den Kopf gehen?

In vielen weiteren Untersuchungen stellte man fest, dass einem da so einiges durch den Kopf geht. Und bei weitem nicht jedem dasselbe. Es stellte sich heraus, dass Ruhe etwas sehr Individuelles ist. Man versuchte, sie zu klassifizieren. In einem Würfelmodell schlug der schottische Neurowissenschaftler Jonathan Smallwood vor, Gedanken während des Ruhezustandes in sechs Dimensionen einzuordnen, in den Spektren „negativ bis positiv”, „rückwärtsgerichtet bis zukunftsorientiert” und „selbstbezogen bis fremdbezogen” (siehe Abbildung 2). Indem die Forscher/innen Gedanken während der Ruhephasen in Verbindung damit brachten, was Proband/innen retrospektiv über ihre Ruhe berichteten, konnten sie diese verschiedenen Dimensionen im Gehirn lokalisieren. Wenn Proband/innen während der Ruhephase an etwas Positives gedacht hatten, waren etwa andere Schaltkreise aktiviert, als wenn sie an etwas Negatives gedacht hatten. So konnten Schritt für Schritt verschiedene Komponenten der sogenannten Ruhe identifiziert werden.Das Würfelmodell von Smallwood, welches die neuronalen Netzwerke, die in der Ruhe aktiv sind, innerhalb von sechs verschiedenen Dimensionen einteilt (Bild von Esther Kühn).

In weiteren Experimenten stellte man fest, dass vorwärts gerichtetes Denken in den Ruhephasen oft planerisches Denken beinhaltet und insbesondere von Individuen ausgeführt wird, die hohe mentale Kapazitäten besitzen (Baird, Smallwood & Schooler, 2011). Schlechte Stimmung wiederum kann dazu führen, nach Ruhephasen nicht wieder in die Aufgabe zurückzufinden (Smallwood, Fitzgerald, Miles & Phillips, 2009). 

Auch die Dimension „selbstbezogen bis fremdbezogen“ schien Alltagsrelevanz zu besitzen. Menschen mit Depressionen sind dafür bekannt, sich eher auf sich selbst und ihre Probleme zu fokussieren, statt Pläne für die Zukunft zu schmieden oder auf die Sorgen und Nöte anderer Menschen einzugehen. Dies scheint sich auch im Ruhezustand niederzuschlagen. Menschen mit Depressionen aktivieren Teile des Resting State Network, die mit Selbstbezug in Zusammenhang gebracht werden, stärker als eine Kontrollgruppe ohne depressive Eigenschaften (Northoff, 2016). Es begann sich daher die Erkenntnis durchzusetzen, dass der scheinbar so eigenständige Ruhezustand sehr viel mehr mit unserem Alltag zu tun hat, als man dachte. Das Gehirn kalibriert sich in der Ruhe nicht komplett neu, es scheint oft in alten Schleifen zu verbleiben (Konishi, McLaren, Engen & Smallwood, 2015). Daran könnte es liegen, dass manche Menschen Schwierigkeiten haben, in der Ruhe abzuschalten und sich in beruflichen Stressphasen die nötige geistige Erholung zu verschaffen.

Die Fähigkeit, sich auf Neues einzulassen

Wie also soll das Abschalten funktionieren, wenn das Gehirn die Tendenz hat, in der Ruhe in ähnlichen Gedankenschleifen zu verbleiben wie während der Arbeit? Wie soll man den Alltag dann hinter sich lassen? Wie das Feierabendbier genießen, ohne an das anstehende Treffen mit dem Chef am nächsten Tag zu denken? 

Die Neurowissenschaft scheint nahezulegen: Der Versuch, abends auf der Couch von jetzt auf gleich abzuschalten und den Gedanken Ruhe zu gönnen, ist oft zum Scheitern verurteilt. Die oben zitierten Studien zeigen, dass es enge Verbindungen zwischen den neuronalen Schaltkreisen gibt, die sich während der Ruhe und während der Aktivitätsphasen anschalten. Hat man den ganzen Tag die Mathematik-Schaltkreise aktiviert, wird sich daran mit großer Wahrscheinlichkeit auch abends auf der Couch nichts ändern. „Denken Sie an nichts Bestimmtes” – so einfach ist es eben nicht.

Was also tun? Die Forschung legt nahe, dass es sich lohnt, auch schon während der sogenannten Tätigkeitsphasen andere Schaltkreise in Bewegung zu bringen als bei der Arbeit. Bei dem Erlernen einer neuen Sportart zum Beispiel werden andere neuronale Netzwerke gefordert als beim Lösen einer Mathematikaufgabe. Und dies wirkt sich auf die Formation der Resting State Netzwerke aus. Wenn Versuchspersonen gebeten werden, drei Tage in der Woche für jeweils 30 Minuten das Schlagzeugspielen zu erlernen, zeigen sie nach acht Wochen Veränderungen im Resting State Network, insbesondere in motorischen Regionen und im Cerebellum (Amad et al., 2016). Dies liegt daran, dass sich die Netzwerke im motorischen System während der Handlung und während der Ruhe ähneln (Long, Goltz, Margulies, Nierhaus & Villringer, 2014). Trainiert man eine Sportart, trainiert man also auch für die Ruhe danach. Zudem gibt es Hinweise auf die positive Wirksamkeit des Erlernens von Entspannungstechniken, in denen das Aktivieren gezielter Schaltkreise während der Ruhe trainiert wird – beispielsweise beim autogenen Training oder der Achtsamkeitsmeditation.

Ein anderer Zweig der Burnout-Forschung beschäftigt sich mit der Arbeitsumgebung: Was kann der Arbeitgeber an der Unternehmenskultur ändern, um Burnout-Symptome bei seinen Mitarbeiter/innen zu verringern? Dazu können strukturelle Veränderungen zählen, wie etwa vorgeschriebene Arbeitsunterbrechungen, oder auch die Sensibilisierung von Betriebsärzt/innen und das Herstellen einer positiven Arbeitsatmosphäre.

Das Gehirn ist auf das Ausführen der unterschiedlichsten Tätigkeiten spezialisiert. Wenn eine dieser Tätigkeiten trainiert wird, beispielsweise das Schlagzeugspielen, ändert sich auch das assoziierte Resting State Network, welches in der Ruhe aktiviert wird. Unser Alltag und die Tätigkeiten, die wir ausüben, beeinflusst also auch unseren Ruhezustand (Bild von Esther Kühn).Auch wenn das Phänomen Burnout und die damit verbundenen Schwierigkeiten abzuschalten multifaktoriell sind und individuell untersucht und behandelt werden müssen: Es ist eine relevante Erkenntnis, dass die Aktion die Ruhe definiert. Sie hebt die Wichtigkeit eines ausgeglichenen Alltags hervor und entlarvt den Gedanken, im Urlaub plötzlich ein anderer Mensch sein zu können, als unrealistisch. Viele Studien zeigen allerdings, dass das Trainieren neuer neuronaler Netzwerke Zeit und Geduld braucht (Amad et al., 2016). Dies scheint nahezulegen, dass es vielversprechend ist, regelmäßig im Alltag neuen Aktivitäten nachzugehen und diese schrittweise zu trainieren. 

Allerdings: Dies ist bislang nichts als eine Hypothese. Studien, die gezielt zeigen, dass ein vielseitiger Alltag und die damit einhergehenden Veränderungen des Resting State Network tatsächlich präventiv für Burnout-Symptome sind, stehen noch aus. Andererseits: Warum auf Studienergebnisse warten, wenn man die Vielseitigkeit des Lebens auch heute schon genießen kann? 

Literaturverzeichnis

Amad, A., Seidman, J., Draper, S. B., Bruchhage, M. M., Lowry, R. G., Wheeler, J., Robertson, A., Williams, S. C. & Smith, M. S. (2016). Motor learning induces plasticity in the resting brain - Drumming up a connection. Cerebral Cortex, bhw048.

Baird, B., Smallwood, J. & Schooler, J. W. (2011). Back to the future: Autobiographical planning and the functionality of mind-wandering. Conscious & Cognition, 20, 1604-1611.

Biswal, B. B., Van Kylen, J. & Hyde, J. S. (1997). Simultaneous assessment of flow and BOLD signals in resting- state functional connectivity maps. NMR Biomed, 10, 165-170.

Biswal, B. B. (2012). Resting state fMRI: A personal history. Neuroimage, 62, 938-944.

Konishi, M., McLaren, D. G., Engen, H. & Smallwood, J. (2015). Shaped by the past: The default mode network supports cognition that is independent of immediate perceptual input. PLOS ONE, 10, e0132209.

Long, X., Goltz, D., Margulies, D. S., Nierhaus, T. & Villringer, A. (2014). Functional connectivity-based parcellation of the human sensorimotor cortex. European Journal of Neuroscience, 39, 1332-1342.

Northoff, G. (2011). Neuropsychoanalysis in practice. Brain, self, and objects. Oxford, UK: University Press.

Northoff, G. (2016). Spatiotemporal psychopathology I: No rest for the brain‘s resting state activity in depression? Spatiotemporal psychopathology of depressive symptoms. Journal of Affective Disorders, 190, 854-866.

Panksepp, J. & Northoff, G. (2009). The trans-species core SELF: the emergence of active cultural and neuro-ecological agents through self-related processing within subcortical-cortical midline networks. Consciousness & Cognition, 18, 193-215.

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