Sämtliche Schülerinnen und Schüler sehen und berücksichtigen: Perspektivübernahme von Lehrpersonen

Lernvoraussetzungen von Schülerinnen und Schülern können sehr verschieden sein. Was erleichtert Lehrenden, verschiedene Lernvoraussetzungen zu erkennen und Unterricht daran orientiert zu gestalten? Visuell-räumliche Perspektivübernahme und soziale Perspektivenwechsel sind grundlegend dafür, dass Lehrende mit Orientierung an Lernenden unterrichten. Darauf weisen bereits Forschungsansätze und Erkenntnisse hin, die im vorliegenden Beitrag zusammengefasst sind.

Von Lehrenden wird erwartet, dass sie fachwissenschaftliches, fachdidaktisches und pädagogisches Wissen anwenden und Unterricht schülerorientiert gestalten. Nach den Standards für Lehrerbildung sollen Schülerinnen und Schüler „unter Berücksichtigung unterschiedlicher Lernvoraussetzungen“ unterrichtet werden (KMK, 2014, S. 7). Zudem wird von Lehrpersonen das Erziehen mit „Berücksichtigung der Lehrer-Schüler-Interaktion“ gefordert (KMK, 2014, S. 10). In beiden Forderungen geht es zunächst darum, die Aufmerksamkeit auf Personen zu richten. Es scheint selbstverständlich, dass eine Lehrperson im Unterrichtsverlauf ihre Aufmerksamkeit teilt und gleichermaßen auf jede Schülerin und jeden Schüler richtet. In der Realität hingegen wechselt die Aufmerksamkeit eher zwischen den Lernenden oder die Lehrperson nimmt Lernende als Gruppe wahr (z. B. Scanlon & Barnes-Holmes, 2013). Gleichzeitig soll eine Lehrperson professionelles Wissen anwenden, das auf die jeweilige Unterrichtssituation abgestimmt ist. Im Umgang mit diesen zeitgleichen Anforderungen spielen möglicherweise sozialkognitive Phänomene eine Rolle. Anzunehmen ist, dass soziale Kognitionen von Lehrenden mit der situationsspezifischen Anwendung ihres professionellen Wissens einhergehen. Wenn eine Lehrperson im Unterricht alle Lernenden sieht und sich ihre Sichtweisen vorstellt, kann sie professionelles Wissen anwenden und den Unterricht schülerorientiert gestalten.

Schülerinnen und Schüler sehen

Sehen, was Schülerinnen und Schüler sehen, erfordert visuell-räumliche Perspektivübernahme. Wer hat nicht schon erlebt, dass eine Lehrperson viel zu lang vor der Tafel „im Bild steht“? Berücksichtigt die Lehrperson die Sicht von Lernenden auf die Tafel oder auf das Smartboard, vollzieht sie visuell-räumliche Perspektivübernahme und geht zügig „aus dem Bild“. 

Schülerinnen und Schüler weisen die Lehrperson vermutlich selten darauf hin, dass sie Lernmaterial nur teilweise sehen. Daher sollte die Lehrperson selbst sicherstellen, dass alle Schülerinnen und Schüler das notwendige Lernmaterial sehen. Erst dann kann sie die kognitive Auseinandersetzung mit dem Lernmaterial von den Lernenden erwarten. Das klingt selbstverständlich, doch im Verlauf individueller Förderung, Stationenlernen (z. B. im Physikunterricht) oder Gruppenarbeit verändern Lernende und auch die Lehrperson ihre Positionen im Unterrichtsraum. Dabei kann die Lehrperson leicht übersehen, dass beispielsweise eine kleinere Person Lernmaterial unzureichend sieht, weil eine größere vor ihr sitzt. Eine andere Person sieht vielleicht zu wenig, weil sie zunehmend kurzsichtig wird. Vor allem passive Schülerinnen und Schüler unterlassen vermutlich den Hinweis, dass sie zu wenig vom Lernmaterial sehen. Zwar liegen dazu kaum Forschungsergebnisse vor, jedoch bieten internationale Forschungserkenntnisse der letzten Jahrzehnte ein umfassendes Bild von der visuell-räumlichen Perspektivübernahme bei Kindern und Heranwachsenden sowie bei Erwachsenen (z. B. Erle & Topolinski, 2015).Lernende in Positionen für Gruppenarbeit (Lizenz: Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0); Quelle: https://www.flickr.com/photos/swissaid/ 5161887160/)Lernende in Positionen für Gruppenarbeit (Lizenz: Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0); Quelle: https://www.flickr.com/photos/swissaid/ 5161887160/)

Für die Erfassung visuell-räumlicher Perspektivübernahme wurden beispielsweise Aufgaben eingesetzt, in denen eine Person Gebäudemodelle auf einem Tisch aus dem eigenen Blickwinkel betrachten sollte. Wenn die Person sich die Objekte aus einem anderen Blickwinkel vorstellte, konnte sie die Aufgaben korrekt lösen (z. B. Shelton, Clements-Stephens, Lam, Pak & Murray, 2012).

Trainiert werden visuell-räumliche Fähigkeiten beispielsweise beim Computerspielen (z. B. Uttal et al., 2013). Geeignet sind dafür Spiele, in denen eine Person Objekte in einem dreidimensionalen Raum bewegen soll, oder Spiele, in denen Orte in unbekannten virtuellen Landschaften gefunden werden müssen (Uttal et al., 2013). Diese Erkenntnisse bieten eine vielversprechende Grundlage für die Anregung visuell-räumlicher Perspektivübernahme in der Lehrerbildung und Lehrerfortbildung. 

Umfassend erforscht ist auch die hohe fachliche und fachdidaktische Bedeutung visuell-räumlicher Fähigkeiten von Lernenden für das Verständnis von Mathematik und Naturwissenschaften (z. B. Uttal et al., 2013). Ein Beispiel aus dem mathematischen Bereich ist die Vorstellung von Objekten in drei- oder mehrdimensionalen Räumen. In der Chemie gehört die Vorstellung von Molekülen oder Atommodellen zu den fachwissenschaftlichen Grundlagen (z. B. Uttal et al., 2013). Lernende im Computerraum (Lizenz: Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0); Quelle: https://www.flickr.com/photos/psutlt/7008550809/)Lernende im Computerraum (Lizenz: Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0); Quelle: https://www.flickr.com/photos/psutlt/7008550809/)

Unterrichten wird durch visuell-räumliche Perspektivübernahme erleichtert, wenn eine Lehrperson Lernmaterialien gleich so darbietet, dass alle Lernenden die Materialien sehen. Insbesondere nach Gruppenarbeitsphasen kann sie Lernende auffordern, ihren Stuhl und sich selbst zur Lehrperson zu drehen. Das unterstützt die Sicht auf die Lehrperson und auf das Lernmaterial, das die Lehrperson anhand ihres professionellen Wissens erklärt. Darüber hinaus soll eine Lehrperson Unterricht an individuellen Lernvoraussetzungen von Schülerinnen und Schülern orientieren. Anzunehmen ist, dass Vermutungen über eine Zielperson und Wechseln zwischen Zielpersonen für die schülerorientierte Unterrichtsgestaltung bedeutsam sind. 

Schülerinnen und Schüler verstehen

Die Vermutung und das Verstehen, dass Personen über von meinem eigenen Wissen unterschiedliches Wissen verfügen, unterschiedliche Gedanken verfolgen und deshalb verschieden handeln, gilt als Theory of Mind (z. B. Baron-Cohen, Leslie & Frith, 1985). Das bedeutet, Vermutungen über Gedanken einer Zielperson werden aufgestellt, um die Handlungen der Zielperson vorherzusagen. Abweichungen von der Vorhersage werden verstanden, wenn eine Person weiß, dass ihre Vermutung über die Zielperson von der Realität abweichen kann. Das Konzept der Theory of Mind wurde vielfach untersucht, insbesondere die Entwicklung bei Kindern mit und ohne Autismus-Spektrum-Störungen (z. B. Baron-Cohen et al., 1985). 

Ungeklärt ist jedoch bisher, ob und inwiefern Vermutungen von Lehrenden über kognitive Vorgänge von Lernenden helfen, Unterricht schülerorientiert zu gestalten. Dabei geht es vor allem um Informationen über Schülervorstellungen und zugrunde liegende Denkprozesse. Vermutungen und das Eindenken in Lernende könnten Lehrpersonen darin unterstützen, Unzulänglichkeiten in den Schülervorstellungen zu erkennen und den Aufbau und die Anwendung von neuen Konzepten bei Lernenden zu fördern. Wiederholtes Eindenken in Lernende könnte sogar helfen, Aufgaben zur kognitiven Aktivierung von Lernenden an einem dafür besonders geeigneten Zeitpunkt einzusetzen. Das Eindenken in eine Schülerin oder in einen Schüler ist der Versuch, die soziale Perspektive von ihr oder ihm zu übernehmen. Soziale Perspektivübernahme umfasst die Vorstellung vom Selbst einer anderen Person, zum Beispiel ihren Fähigkeiten, Interessen, Überzeugungen, Wertvorstellungen, Ziele oder Gewohnheiten. 

Die Erfassung sozialer Perspektivübernahme erfolgte beispielsweise mit der Darbietung einer Person, die über ihre Situation spricht. Die Aufgabe bestand darin, sich in die Perspektive dieser Zielperson einzudenken und vermutete Gedanken der Zielperson aufzuschreiben (z. B. Davis et al., 2004). Demensprechend mussten die dargebotenen Situationen auf den Wissensstand von Studienteilnehmenden abgestimmt sein. Die Generierung und Evaluation solcher Informationen ist aufwendig. Daher wurde in anderen Studien die Bereitschaft zur sozialen Perspektivübernahme von Personen erfasst. Für die Erfassung wurden Aussagen eingesetzt, wie „Bevor ich Leute kritisiere, versuche ich mir vorzustellen, wie es mir ginge, wenn ich an ihrer Stelle wäre.“ (übersetzt aus Davis, 1980, S. 7; z. B. Van der Graaff et al., 2014). Spätere Studien zeigten statistisch bedeutsame Zusammenhänge zwischen visuell-räumlicher Perspektivübernahme und der Bereitschaft zur sozialen Perspektivübernahme (z. B. Erle & Topolinski, 2015). Demnach ist für Unterrichtssituationen anzunehmen, dass visuell-räumliche Perspektivübernahme mit der Bereitschaft einhergeht, sich in Lernende einzudenken. 

Eine Lehrperson kann beispielsweise nach Interessen von Lernenden fragen und damit ihre Bereitschaft zur sozialen Perspektivübernahme zeigen. Eine Lehrperson mit hoher Bereitschaft zur sozialen Perspektivübernahme sammelt möglicherweise gezielt Informationen, um Handlungen einer Schülerin oder eines Schülers zu verstehen. Dabei handelt es sich um einen Versuch, kognitive Vorgänge von Lernenden sichtbar zu machen, die eigentlich nicht sichtbar sind. Unterschiede zwischen den Gedanken der Lehrperson und einer Schülerin oder einem Schüler sollen transparent gemacht werden. Zudem ist es notwendig, dass die Lehrperson Routinen für Arbeitsabläufe implementiert, die für Schülerinnen und Schüler transparent sind. Lernende sollten erfahren, was sie warum wie tun und sie sollten Arbeitsabläufe einüben können. 

Instruktionen von einer oder zwei Lehrenden im Unterricht sollten konsistent und verständlich sein. Berücksichtigen Lehrende alle Lernenden, können sie das Tempo auf individuelle Lern- und Leistungsniveaus aller Schülerinnen und Schüler abstimmen. Kenntnisse über typische Fehler von Lernenden helfen Lehrenden zu erkennen, welche Fehler aktuell und warum gemacht werden. 

Lernende im klassischen Unterricht (Lizenz: Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0); Quelle: https://www.flickr.com/photos/ehabkost/ 3018758441/)Lernende im klassischen Unterricht (Lizenz: Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0); Quelle: https://www.flickr.com/photos/ehabkost/ 3018758441/)Fachdidaktisch relevante Forschungserkenntnisse gibt es vor allem über Kinder und Heranwachsende. Beispielsweise ist soziale Perspektivübernahme von Kindern für deren Textverständnis relevant, wenn im Text Menschen in verschiedenen Situationen oder sozialen Beziehungen beschrieben werden (z. B. Buhl, Möller, Oebser, Stein & Noack, 2009). So ist soziale Perspektivübernahme fachdidaktisch immer dann bedeutsam, wenn Lernende sich in beschriebene soziale Situationen und Beziehungen hineinversetzen sollen. Ein Beispiel dafür ist das Verständnis geschichtlicher Zusammenhänge (z. B. Hartmann & Hasselhorn, 2008). Die fachdidaktische Bedeutung für (angehende) Lehrende ist noch empirisch zu klären. Zentral ist, dass Lehrende professionelles fachdidaktisches Wissen besitzen und dieses mit Blick auf alle Schülerinnen und Schüler anwenden.

Alle Schülerinnen und Schüler berücksichtigen

Eine Lehrperson kann kognitive Vorgänge einer Schülerin oder eines Schülers nur dann vermuten, wenn ihre Aufmerksamkeit auf die Schülerin oder den Schüler gerichtet ist. Während die Lehrperson professionelles Wissen anwendet, richtet sie die Aufmerksamkeit jedoch auf ihr Wissen oder auf den nächsten Punkt in ihrer Unterrichtsplanung. Im Idealfall wechselt die Aufmerksamkeit, je nach Situation und sozialer Priorität, zwischen den eigenen professionell geplanten Handlungen und jeder Schülerin und jedem Schüler. So sollte die Lehrperson während der Anwendung von professionellem Wissen ihre Aufmerksamkeit wechseln, um auf aktive und passive Lernende flexibel reagieren zu können.

Unterrichtssituationen sind komplex. Sie erfordern oft schnelle Perspektivenwechsel zwischen der Lehrperson und den Lernenden. Soziale Perspektivenwechsel ermöglichen diese kognitive Flexibilität und werden exekutiven Funktionen zugeordnet (z. B. Fizke, Barthel, Peters & Rakoczy, 2014). Exekutive Funktionen helfen, situativ relevante Informationen verschiedener Art zu verarbeiten (z. B. Strobach, Salminen, Karbach & Schubert, 2014). Werden soziale Perspektivenwechsel regelmäßig eingesetzt, berücksichtigt eine Lehrperson vermutlich eher jede Schülerin und jeden Schüler, als wenn sie einen Fokus auf das eigene professionelle Wissen oder auf besonders aktive Schülerinnen und Schüler legt. Exekutive Funktionen werden in der Realität sehr schnell verarbeitet (z. B. Strobach et al., 2014) und wahrscheinlich umso routinierter, je geübter eine Lehrperson soziale Perspektiven wechselt. 

Jede Lehrperson kennt die Anwendung von professionellem Wissen auf unterrichtliche Abläufe aus ihrer zunehmenden Unterrichtserfahrung. Soziale Perspektivenwechsel helfen ihr möglicherweise, zwischen der persönlichen Unterrichtserfahrung und den Situationen von Lernenden zu wechseln (Scanlon & Barnes-Holmes, 2013). Soziale Perspektivenwechsel erleichtern vermutlich die Berücksichtigung sämtlicher Schülerinnen und Schüler mit verschiedenen Lernvoraussetzungen. Erkennt eine Lehrperson über Perspektivenwechsel, dass Schülerinnen und Schüler wenig aufmerksam sind, kann sie geeignete kognitiv aktivierende Aufgaben einsetzen. Darüber hinaus sind positive Lehrer-Schüler-Interaktionen mit allen Lernenden zu erwarten, wenn sich alle Lernenden etwa gleichermaßen von einer Lehrperson berücksichtigt und unterstützt erleben. Diese Berücksichtigung könnte positive Schüler-Lehrer-Interaktionen stärken und ein lernförderliches Unterrichtsklima stabilisieren.

Perspektivenwechsel für einen Schüler (Lizenz: Attribution-NonCommercial 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0); Quelle: https://www.flickr.com/photos/uncleboatshoes/2843664622/)Perspektivenwechsel für einen Schüler (Lizenz: Attribution-NonCommercial 2.0 Generic (CC BY-NC 2.0); Quelle: https://www.flickr.com/photos/uncleboatshoes/2843664622/)

Ein Trainingsansatz bezieht sich auf Einstellungen von Lehrenden gegenüber Lernenden mit zusätzlichem Förderbedarf. Vor und nach einem Training für Akzeptanz und Entspannung wurden Einstellungen, Selbstwirksamkeitserwartungen und Stresserleben von Lehrenden mit einem Fragebogen erfasst. Zu beiden Zeitpunkten erfolgten Testungen, inwiefern die Lehrenden Wechsel zwischen Lernenden mit verschiedenen Eigenschaften vollzogen (Scanlon & Barnes-Holmes, 2013). Im Vergleich zur ersten Messung zeigten die Lehrenden nach dem Training statistisch bedeutsam positivere Einstellungen, höhere Selbstwirksamkeitserwartungen und Perspektivenwechsel gegenüber Lernenden mit besonderem Förderbedarf. Zudem berichteten die Lehrpersonen vor dem Training statistisch signifikant höheres Stresserleben als nach dem Training (Scanlon & Barnes-Holmes, 2013). Die angemessene Anwendung von professionellem Wissen und sozialem Perspektivenwechsel ist vermutlich auch trainierbar. Die Wirkung eines solchen Trainings auf (angehende) Lehrende ist wissenschaftlich noch zu prüfen. Anhand mehrerer Interventionsstudien können für Lehrpersonen besonders geeignete Workshops entwickelt werden.

Wissen über Schülerinnen und Schüler aktualisieren

Visuell-räumliche und soziale Perspektivübernahme (z. B. Erle & Topolinski, 2015) sowie soziale Perspektivenwechsel (Scanlon & Barnes-Holmes, 2013) werden als kognitive Fähigkeiten aufgefasst. Diese Auffassung verdeutlicht die theoretische Abgrenzung von dem Begriff Empathie, der das Einfühlen umfasst, das heißt, die mit einer Situation verbundenen Emotionen einer anderen Person emotional nachvollziehen zu können (z. B. Steins & Wicklund, 1993). 

Grundsätzlich geht es um das gedankliche Wegbewegen von der eigenen Person. Eigene kognitive und emotionale Vorgänge werden kontrolliert, wenn das gedankliche Wegbewegen reguliert stattfindet (z. B. Schneider, 2015). In dem Fall handelt es sich um Metakognition. Metakognitive Strategien können Lehrenden helfen, professionellen Unterricht und den Umgang mit allen Lernenden zu reflektieren. Ein Beispiel ist die Überlegung, ob alle Lernenden in der letzten Unterrichtsstunde wenigstens einmal einen Wortbeitrag geleistet haben. Als Konsequenz aus dieser Überlegung setzt eine Lehrperson zum Beispiel eine angemessene Unterrichtsmethode ein, die passiven Schülerinnen und Schüler zunächst das Einsprechen in Partnerarbeit ermöglicht. So kann die Lehrperson diese Lernenden beobachten oder während der Partnerarbeit fragen und zu einem Wortbeitrag vor der gesamten Klasse ermuntern.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Psychologische Forschung aus mehreren Jahrzehnten bietet Erkenntnisse über sozialkognitive Fähigkeiten, die hohe Relevanz für schülerorientierte Unterrichtsgestaltung nahelegen. Die Konzepte visuell-räumliche Perspektivübernahme und soziale Perspektivenwechsel sehe ich als eine Bedingung für die Berücksichtigung der Lernvoraussetzungen von sämtlichen Lernenden im Unterricht. In der Lehrerbildung sollte das gedankliche Wegbewegen von der eigenen Person und Annähern an Sichtweisen von Lernenden überfachlich und fachdidaktisch trainiert werden. Gleiches gilt für Fortbildungen, die sich an Lehrende richten. Trainingsangebote sollten darauf abzielen, dass Lehrende Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen und ungewohnten 

Lernvoraussetzungen routiniert im Unterricht berücksichtigen, verstehen und unterstützen. Dafür geeignet sind beispielsweise Texte mit Beschreibungen derselben Unterrichtssituation aus der Sicht von Lehrenden und aus der Sicht verschiedener Schülerinnen und Schüler. Auch der Einsatz von Unterrichtsvideos ist empfehlenswert, wenn die im Video dargebotenen Lernenden oder Lehrenden die Unterrichtssituation aus ihrer Sicht erläutern. Die dargebotenen Erläuterungen geben notwendige Informationen für soziale Perspektivübernahme und Perspektivenwechsel, die nach dem Video diskutiert werden können. 

Lernende in Aktion (Lizenz: Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0); Quelle: https://www.flickr.com/photos/swissaid/ 10593262004)Lernende in Aktion (Lizenz: Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Generic (CC BY-NC-ND 2.0); Quelle: https://www.flickr.com/photos/swissaid/ 10593262004)

Soziale Perspektivübernahme und Perspektivenwechsel sind eine Basis für positive Lehrer-Schüler-Interaktionen. Lehrende und auch Eltern sollten Schülerinnen und Schülern Aufmerksamkeit schenken. Sie können Schülerinnen und Schüler fragen, was sie sehen und was sie darüber denken. Wenn Lehrende zudem regelmäßig an Fortbildungen teilnehmen, begeben sie sich in die Rolle von Lernenden und erleben Lehr-Lernsituationen aus einer anderen Perspektive. 

 

 

 

Literaturverzeichnis

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