Stereotype und Vorurteile im frühen Kindesalter
„Jungs sind stark, Mädchen sind schlau.“, erklärte unser dreieinhalbjähriger Sohn. Trotz wiederholter Versuche, diese Überzeugung mit logischen Argumenten herauszufordern, ließ er sich durch keinerlei elterliche Beweisführungen erschüttern. So stimmte er zwar zu, dass Papa ein großer Junge ist und dass Papa schlau ist, die daraus folgende Schlussfolgerung, dass Jungen auch schlau sein könnten, wies er jedoch vehement von sich: "NEIN! Jungs sind stark, nur Mädchen sind schlau. Alle (in meiner KiTa) wissen das!"
Diese kleine Episode markierte einen wichtigen Meilenstein in der Entwicklung meines Kindes und illustriert Annahmen aus Theorien und Forschung zur Entstehung von sozialen Einstellungen im Kindesalter: Erste Überzeugungen und Bewertungen gegenüber sozialen Gruppen beobachten wir bei Kindern typischer Weise zwischen 3 und 4 Jahren, es gibt eine steigende Tendenz bis 7/8 Jahre, danach nehmen solche offenen Äußerungen meist wieder ab (Raabe & Behlman, 2011). Dabei wenden Kinder wahrgenommene Gruppenunterschiede anfangs sehr rigide und ausschließlich an, später werden die Überzeugungen komplexer und lassen Gemeinsamkeiten und Überlappungen zwischen Gruppen zu. Wie bei meinem Sohn passen die kindlichen Überzeugungen darüber, was soziale Gruppen ausmacht, (noch) nicht immer zu den kulturell dominanten Konventionen, werden diesen mit zunehmendem Alter aber immer ähnlicher. Mit viereinhalb war mein Sohn bereit, zuzugestehen, dass Jungs stark und schlau sein könnten, bestand aber darauf, dass Jungs stärker seien als Mädchen. Schließlich spielen elterliche Einflüsse auf die Herausbildung von Stereotypen und Vorurteilen eine geringere Rolle, als oft angenommen wird (Degner & Dalege, 2013), dafür ist der Einfluss der Umgebung außerhalb des Elternhauses, vor allem des Freundeskreises des Kindes, bereits in frühen Jahren sehr relevant.
Mir wäre es mehr als recht, wenn meine Kinder keine Vorurteile und Stereotype herausbilden würden, zum Beispiel darüber was Jungen und Mädchen, Frauen und Männer können, mögen, oder tun sollten. Allerdings würde das bedeuten, dass sie eine grundlegende soziale Fähigkeit nicht erworben hätten – nämlich die, soziale Strukturen und Konventionen ihrer Gesellschaft zu erkennen, zu begreifen und für ihr Handeln und Entscheiden zu nutzen.
Stereotype resultieren aus normalen Lernprozessen
Um sich in ihrer sozialen Umwelt orientieren und handeln zu können, müssen Kinder lernen, Eindrücke von individuellen Personen zu bilden: Wem kann ich vertrauen? Wer hilft mir? Wer könnte mir schaden? Wem sollte ich mich unterordnen?
Ebenso müssen sie ein Verständnis über soziale Gefüge von verschiedenen Gruppen und übergeordneten Kategorien erlangen. Das heißt sowohl zu unterscheiden, wer in welche Familie, KiTa-Gruppe, Schulklasse, oder Sportvereine gehört, aber auch welchem Geschlecht, welcher Altersgruppe, welchem Status oder welcher Nationalität Menschen angehören. Da unser Sozialverhalten im Allgemeinen maßgeblich von sozialen Gruppen- und Kategorienzugehörigkeiten strukturiert wird, ist es wichtig diese zu verstehen.
Dabei müssen Kinder zwei grundlegende Herausforderungen meistern: Sie müssen zuerst herausfinden welche relevanten sozialen Kategorien es gibt und woran man sie erkennt. Danach müssen sie herausfinden, was eigentlich die Unterschiede zwischen diesen Kategorien ausmacht: Welche Position sie in der Gesellschaft einnehmen, was von einzelnen Mitgliedern zu erwarten ist, wie sie zu bewerten sind und wie man sich ihnen gegenüber verhalten sollte. Diese beiden Entwicklungsaufgaben sind alles andere als trivial, da dafür eine große Menge komplexer sozialer Information verarbeitet werden müssen. Wir sind jedoch seit Geburt darauf ausgerichtet, genau diese Herausforderungen zu meistern.
Entwicklungsaufgabe Nr. 1: Welche relevanten Kategorien gibt es?
Bereits Säuglinge beginnen, erstes soziales Wissen anzulegen – unterstützt durch unsere angeborene Fähigkeit, Kategorien zu bilden. Bereits sehr früh wird die vorerst primitive Kategorie bekannt angelegt und von unbekannt unterschieden. Im ersten Lebensjahr beginnen Säuglinge und Kleinkinder von dieser Kategorisierung ausgehend zu verallgemeinern und reagieren entsprechend unterschiedlich auf Personen. So schauen Säuglinge bereits im Alter von 3-4 Monaten bevorzugt weibliche Gesichter an statt männliche Gesichter, aber nur, wenn ihre Hauptbezugsperson weiblich ist (Quinn, Yahr, Kuhn, Slater & Pascalis, 2002). Ebenso schauen Kinder bevorzugt Gesichter der eigenen ethnischen Gruppe an (Kelly et al., 2005) es sei denn, sie machen frühe Erfahrungen mit diversen Bezugspersonen, dann entsteht keine solche Präferenz (Bar-Haim, Ziv, Lamy & Hodes, 2006). Auch bevorzugen Kinder Personen, die die gleiche Sprache wie ihr bekanntes Bezugsumfeld sprechen – lange bevor sie selbst in der Lage sind, erste eigene Wörter zu formen (Kinzler, Dupoux & Spelke, 2007). Solche Bevorzugungen lassen sich bei Neugeborenen jedoch noch nicht beobachten, sie entstehen erst in den ersten Lebensmonaten. Angeboren scheint also nur die generelle Fähigkeit zu kategorisieren, nicht wonach kategorisiert wird. Es gibt also keine angeborene Tendenz, Menschen nach Geschlecht, Hautfarbe, oder Sprache zu unterscheiden, sondern wir tun dies nur, wenn wir erfahren, dass diesen Kategorien soziale Bedeutung zukommt.
Mit zunehmendem Alter werden diese Unterscheidungen anderer Menschen mit einem Verständnis von eigener Zugehörigkeit verknüpft: Was bekannt und vertraut ist, wird zur Eigengruppe; das Konzept von Ich wird unzertrennbar mit dem Konzept von Wir verknüpft und von den Anderen unterschieden. Dieses Verständnis von Eigen- und Fremdgruppe bildet wiederum die erweiterte Basis von Eigengruppenpräferenz: Wie Erwachsene auch, bevorzugen und bevorteilen Kinder die Mitglieder eigener Gruppen gegenüber anderen – selbst dann, wenn die Gruppenzugehörigkeit willkürlich und offensichtlich bedeutungslos ist (z. B. per Würfeln bestimmt wird; Yang & Dunham, 2019) und somit kein Signal für Vertrautheit sein kann.
Dieses sehr frühe Verständnis von sozialen Gruppen wird jedoch nicht in Stein gemeißelt. Im Gegenteil, im Laufe der Kindheit zeigen Kinder enorm hohe Flexibilität und Neugier beim Versuch, ihre soziale Umwelt zu verstehen und sich in ihr zu platzieren. Angestoßen durch Beobachtungen der Umwelt werden ständig neue Kategorien gebildet, mit Inhalt gefüllt, getestet und verworfen (Bigler & Liben, 2006).
Bei dem Versuch soziale Umgebung zu verstehen, nutzen Kinder sehr vielfältige Informationen. Es wurde vielfach angenommen, dass Kinder vor allem nach leicht erkennbaren – sichtbaren – Unterschieden und Gemeinsamkeiten kategorisieren (Aboud, 1988). Sichtbare Unterscheidbarkeit ist an sich jedoch wenig informativ, denn nicht alle Merkmale, in denen sich Menschen sichtbar unterscheiden sind sozial bedeutungsvoll. Ob jemand beispielsweise große oder kleine Ohren hat ist meist sehr gut sichtbar, trotzdem kategorisieren wir Menschen nicht als die Großohrigen versus die Kleinohrigen. Kinder müssen also herausfinden, welche sichtbaren Kategorien sozial relevant sein könnten. Viele sozial relevante Kategorien wie Geschlecht, Alter, oder Ethnizität sind an sich gar nicht so besonders gut unterscheidbar. Kinder benötigen daher deutlich mehr Informationen, die wir Erwachsenen auch bereitwillig liefern. Zum einen fügen wir visuelle Merkmale hinzu, zum Beispiel unterschiedliche Kleidungsregeln oder Frisuren für Jungen oder Mädchen, Männer oder Frauen, Kinder oder Erwachsene. Auch auf anderen Wegen lenken die Aufmerksamkeit auf relevante soziale Kategorien (Bigler & Liben, 2006), auch wenn uns Erwachsenen oft gar nicht bewusst ist, dass und in welchem Ausmaß unser Verhalten Auskunft über relevante soziale Gefüge gibt. Zum einen benennen wir manche Kategorien. Wir versehen relevante Gruppenzugehörigkeiten also mit Wortlabeln – und diese Label informieren Kinder darüber, dass es hier potentiell verschiedene Arten von Menschen gibt: Jungen sind anders als Mädchen, Deutsche anders als Franzosen und Hamburger anders als Berliner. Manche sozialen Kategorisierungen sind im Alltag so dominant, dass wir es kaum vermeiden können, sie sprachlich zu kennzeichnen:
Wenn Sie gemeinsam mit einem Kind ein Bilderbuch ansehen, sagen sie vermutlich ganz automatisch "Guck mal, der Junge fährt mit dem Laufrad und das Mädchen isst ein Eis...", obwohl es für das Verständnis der Geschichte vollkommen unerheblich ist, ob das laufradfahrende und das eisessende Kind ein Junge oder ein Mädchen ist. Geschlecht und Alter sind Kategorien, die in fast allen Gesellschaften hohe Relevanz haben und entsprechend deutlich benannt werden. Bei anderen Kategorien zeigen sich Unterschiede zwischen Gesellschaften: So lernen beispielsweise Kinder scheinbar dann auf religiöse und/oder ethnische Gruppenzugehörigkeiten von Menschen zu achten, wenn diese in ihrem sozialen Umfeld ausdrücklich benannt werden. Darum unterschieden Kinder in Israel zwischen Juden und Arabern (Diesendruck & HaLevi, 2006) und Kinder in Irland zwischen Katholiken und Protestanten (Gallagher & Cairns, 2011) – obwohl diese Gruppen visuell kaum oder gar nicht unterscheidbar sind.
Neben der sprachlichen Benennung sind Verhaltensbeobachtungen eine zweite wichtige Informationsquelle: Zum einen zeigen Mitglieder verschiedener Kategorien mitunter unterschiedliches Verhalten, vor allem aber werden sie unterschiedlich behandelt. Für ein Mädchen wählen wir andere Spielsachen als für einen Jungen, Erwachsene werden gesiezt und Kinder geduzt, manche Menschen lächeln wir an und geben ihnen die Hand, andere grüßen wir nicht oder nur zurückhaltend und halten Abstand. Die Beobachtung solcher Verhaltensunterschiede unterstützen bei Kindern wiederum die Schlussfolgerung, dass es sich um relevante soziale Kategorien handelt – auch wenn die Ursachen der Verhaltensunterschiede meist gar nicht verstanden werden und auch selten klar erklärt werden: Warum werden Erwachsene eigentlich gesiezt und Kinder nicht?
Je stärker und konsistenter die Benennung und unterschiedliche Behandlung von sozialen Kategorien, umso eher wird die Aufmerksamkeit von Kindern darauf gelenkt, dass es unterschiedliche Arten von Menschen gibt, die sich grundlegend unterscheiden könnten (Bigler & Liben, 2006). Die nächste Aufgabe des Kindes ist es nun, diese Unterschiede zu verstehen, den Kategorien also Bedeutung hinzuzufügen. Erst in diesem Entwicklungsschritt legen Kinder Stereotype an: Überzeugungen darüber, welche Eigenschaften, Verhalten, oder Rollen typisch für Mitglieder sozialer Kategorien sind. Damit einher geht die Entwicklung von Vorurteilen: gruppenbasierte emotionale Reaktionen und Bewertungen.
Entwicklungsaufgabe Nr. 2: Welche Bedeutungen haben soziale Kategorien?
Die Entstehung von Stereotypen und Vorurteilen im Kindesalter lässt sich am ehesten als kreativer sozialer Lernprozess beschreiben, bei dem Kinder eine sehr aktive Rolle spielen. Sie nehmen Informationen aus der sozialen Umgebung auf und verarbeiten, verknüpfen und erinnern sie im Rahmen ihrer altersbedingten mentalen Fähigkeiten. Kinder suchen also aktiv nach Erklärungen für die beobachteten Unterschiede zwischen sozialen Gruppen. Das ist die berühmt-berüchtigte „Warum?“-Phase, in der elterliche Geduld und Auskunftsfähigkeit durch andauerndes Fragen herausgefordert wird. Beim Versuch, Sinn aus den Beobachtungen ihrer sozialen Umgebung zu erschließen, gehen Kinder oft deutlich über das hinaus, was sie beobachten. Sie suchen aktiv nach Ursachen für ihre Beobachtungen: „Warum spricht die Frau so komisch?“, „Warum hat der Mann braune Haut?“, „Wieso sitzt die Tante im Rollstuhl?“. Wenn statt einer Antwort mit dem üblichen „Pst, das sagt man nicht“ oder „Man zeigt nicht mit Fingern auf andere Leute“ reagiert wird, lernen Kinder übrigens vor allem, dass es sich um ein großes und wichtiges Tabu handelt, dass potentiell bedrohlich ist und zwar so bedrohlich, dass man da noch nicht einmal drüber reden darf...
Im Versuch, Sinn aus beobachteten Unterschieden zu machen, neigen Kinder stärker als Erwachsene dazu, soziale Gruppen zu essenzialisieren: Sie nehmen an, dass Mitglieder sozialer Kategorien neben den erkennbaren Unterschieden noch weitere, wichtige, aber nicht-offensichtliche Eigenschaften teilen: eine grundlegende Essenz, die Identität verleiht und andere kategorientypische Eigenschaften hervorruft. Beispiele für solche Essenzialisierungen wären die Annahmen, dass Jungen und Mädchen unterschiedlich funktionierende Gehirne hätten oder dass Menschen unterschiedlicher Hautfarben unterschiedliche Bluttypen haben oder unterschiedlichen Rassen angehören könnten. Diese Beispiele illustrieren, dass auch Erwachsene zu essenzialisierenden Schlussfolgerungen neigen. Die Karrieren nicht weniger Buchautor_innen oder Comedians fußen beispielsweise auf der weit geteilten Annahme, dass Männer und Frauen grundlegend anders seien, quasi von Mars oder Venus stammen würden. Ein weiterer wichtiger psychologischer Prozess ist die zunehmende soziale Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen, bei dem Stereotype und Vorurteile quasi als Nebenprodukt entstehen. Mit zunehmenden Alter entwickeln Kinder ein tieferes Verständnis für eigene soziale Zugehörigkeiten und beginnen, sich selbst aktiv anhand sozialer Kategorien zu identifizieren, zum Beispiel als Mädchen oder Junge, Hamburgerin oder Berlinerin, Deutsche oder Türkin, Schülerin der Klasse 1b oder 1c, Mitglied des Fußball- oder des Hockeyvereins, usw.
Aufbauend auf der frühkindlichen Präferenz für Vertrautheit geht dieser Prozess ganz automatisch mit Bevorzugung der eigenen Gruppen einher, selbst dann, wenn es dafür keinerlei objektive Ansatzpunkte gibt oder solch Verhalten gar nicht von Erwachsenen vorgemacht wird. So zeigen Kinder ab dem Alter von 4-5 Jahren eine starke Präferenz für ihre eigene Geschlechtsgruppe (Shutts, Banaji & Spelke 2010) oder ihre sprachliche Eigengruppe (Kinzler, Dupoux & Spelke, 2007). Vergleichbare Präferenzen stellen sich auch für die ethnische Eigengruppe ein (Degner & Wentura, 2010). Die psychologische Funktion solcher Eigengruppenbevorzugung ist bei Kindern wie Erwachsenen gleich: sie schafft einen positiven Selbstwert. Um diesen zu erreichen oder aufrechtzuerhalten suchen wir gezielt nach Gruppeneigenschaften und Gruppenunterschieden, die die eigene Gruppe besser dastehen lassen. „Warum (meine) Klasse 1b besser ist als die 1c? Ganz klar: wir können besser rechnen, sind viel netter und unsere Lehrerin hat einen Hund...“ Dieser Prozess unterscheidet sich zwischen Erwachsenen und Kindern kaum, auch Erwachsene kreieren Unmengen von angeblichen Unterschieden zwischen Gruppen, seien es Geschlechter, Nationen, oder Fußballvereine, die ihre eigenen Gruppen als besser erscheinen lassen als andere. Und diese Bewertungen und Überzeugungen kommunizieren wir ständig an unsere Kinder, ob gewollt oder ungewollt.
Dabei sind direkte Zuschreibungen gar nicht die häufigste oder wichtigste Informationsquelle für Kinder. So lernen Kinder beispielsweise Geschlechterrollen heutzutage weniger aus expliziten Aussagen („Jungs weinen nicht...“, „Mädchen, die pfeifen und Hühnern die kräh'n, ...“). Nichtdestotrotz ist unsere Umgebung reich an Informationen, die das Geschlecht systematisch an bestimmte Rollen und Eigenschaften koppeln. Eine Analyse von Kinderbüchern zeigt beispielsweise, dass Helden nach wie vor deutlich häufiger sind als Heldinnen, Mädchen als führsorglicher und sensibler dargestellt werden als Jungen, Mütter meist keine Berufe haben und Väter häufig außer Haus sind (Hamilton, Anderson, Broaddus & Young, 2006). Übrigens erscheinen diejenigen Charaktere in Kinderbüchern, die nicht den gängigen Geschlechterstereotypen entsprechen, oft auch außerhalb jeglicher Norm, so wie Pipi Langstrumpf oder Ronja Räubertochter. Sie bestätigen dadurch als Ausnahmen die Regeln darüber, was typisch für Jungen und Mädchen ist.
Die bei weitem wichtigste Informationsquelle, die Kinder nutzen, sind beobachtete Verhaltensweisen. Kinder beobachten soziale Interaktionen Anderer sehr genau und erschließen daraus Eigenschaften und Einstellungen der beteiligten Personen. Dabei spielt nonverbales Verhalten eine herausgehobene Rolle. In einer Studie zeigten Forschende Kindern im Vorschulalter beispielsweise kurze Videos in denen eine weiße Person und eine schwarze Person ein Gespräch miteinander führten (Castelli, De Dea & Nesdale, 2008). Das nonverbale Verhalten der weißen Person war im Gespräch entweder entspannt oder verkrampft, unterschied sich z. B. durch das Halten oder Vermeiden von Augenkontakt, Zugewandtheit oder Abgewandtheit, Nähe oder Distanz. Die 4- bis 6-jährigen Kinder erschlossen aus dem beobachteten nonverbalen Verhalten eine entsprechende positive oder negative Einstellung des Erwachsenen – und zwar vollkommen unabhängig davon, welche Einstellung die Person verbal äußerte. Mehr noch, die Kinder passten ihre eigenen Einstellungen daran an – sie äußerten also selbst negative Einstellungen gegenüber Schwarzen, wenn sie negatives nonverbales Verhalten beobachtet hatten (siehe auch Skinner, Meltzoff & Olson, 2017).
Kinder sind also hochsensibel für subtile Signale im nonverbalen Verhalten, sowohl bei vertrauten Bezugspersonen als auch bei Fremden. Nehmen sie beispielsweise subtile Nervosität von Erwachsenen im Umgang mit Fremden wahr, so schließen sie daraus, dass von diesen eine potentielle Bedrohung ausgehen könnte. Beobachten sie subtile Abwertungssignale, schließen sie auf potentielle Unterlegenheit und Minderwertigkeit der Anderen. Die Forschung zu automatischen Verhaltenseinflüssen von Stereotypen und Vorurteilen zeigt, dass wir Erwachsenen solche negativen Verhaltenssignale übrigens oft auch dann senden, wenn wir tolerante Grundüberzeugungen haben und glauben, vorurteilsfrei zu handeln (z. B. Kurdi et al., 2019, s. Goedderz & Hahn, 2020). Meist sind sich Erwachsene gar nicht bewusst, welche subtilen Signale ihr Verhalten aussendet. Daher werden die meisten sozialen Einstellungen und Stereotype von Bezugspersonen Kindern gegenüber auch nur selten offen thematisiert und Kinder erhalten keine eindeutige Auskunft oder Erklärungen, und der häufige Widerspruch zwischen expliziten Äußerungen von toleranten Einstellungen und beobachteten Verhaltensunterschieden bleibt ein unaufgeklärtes Tabu (z. B. Degner & Dalege, 2013).
Gefüllt wird diese Lücke mit zunehmendem Alter durch Informationen von Gleichaltrigen, denn Kinder haben untereinander weniger Hemmungen, offen über beobachtete oder vermutete Gruppenunterschiede zu sprechen und entwickeln gemeinsame Normen zum Umgang miteinander. Der Einfluss von Eltern oder anderen erwachsenen Bezugspersonen auf die Einstellungen sinkt mit zunehmendem Alter, während die Peer- Normen deutlich relevanter werden (Nesdale, 2001). Vor allem im Teenager- und Jugendalter werden soziale Identitäten meist noch einmal neu definiert und hinterfragt. Diese Phase zeichnet sich auch durch eine stärkere explizite Auseinandersetzung mit Überzeugungen und Einstellungen zu sozialen Gruppen aus. Jugendliche sind deutlich selektiver und setzen sich bewusster damit auseinander, welche Normen und Einstellungen sie von anderen übernehmen wollen und ob sie als relevant für die eigenen Entscheidungen und Handlungen eingesetzt werden.
Fazit
Die Entwicklung von Stereotypen und Vorurteilen beginnt bereits in frühestem Kindesalter und basiert auf normalen Beobachtungs- und Lernprozessen: Kinder beginnen bereits sehr früh damit, komplexe soziale Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Sie sind hochmotiviert zu verstehen, wie die sozialen Strukturen funktionieren, in denen sie aufwachsen. Wir Erwachsenen liefern Ihnen dabei vielfältige Informationen, sei es durch unsere Sprache oder unser Verhalten. Oft ist uns nicht wirklich bewusst, dass mitunter das, was wir sagen abweicht von dem, wie wir handeln. So bringt es beispielsweise wenig, wenn wir unseren Kindern gegenüber betonen, dass Jungen und Mädchen alles sein können, was sie nur wollen, so lange wir sie nicht tatsächlich auch gleich behandeln. Der einzige Weg, Kinder zu toleranten Erwachsenen zu erziehen, ist daher, sie in einer wahrhaft toleranten Gesellschaft aufwachsen zu lassen, in der die Chancen der einzelnen Person nicht von deren Gruppenzugehörigkeiten abhängig sind.
Literaturverzeichnis
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