Hat Nudging einen Platz in der Politik? Wie Entscheidungskontexte unvermeidbar Einfluss auf unser Verhalten nehmen
Wir sehen uns gerne als HerrInnen unserer Entscheidungen. Jedoch treffen wir viele unserer Entscheidungen weitgehend automatisch und werden dabei vom Kontext, der uns umgibt, beeinflusst. Psychologische Forschung hat untersucht, wie Merkmale des Entscheidungskontextes unser Verhalten unbemerkt – zum Guten und zum Schlechten – verändern. Im Alltag werden Entscheidungskontexte u. a. durch Gesetze und Verordnungen gestaltet. Die Politik hat somit die Verantwortung, sich über den unausweichlichen Einfluss von Entscheidungskontexten auf Verhalten bewusst zu werden. Dies kann BürgerInnen vor missbräuchlicher Verhaltensmanipulation schützen und bei der effektiven Umsetzung von politischen und gesellschaftlichen Zielen helfen.
Wenn Sie sich schon einmal unaufmerksam durch die vorausgewählten Einstellungen bei der Installation einer Software geklickt haben, wurden Sie bereits genudged. Nudging beschreibt im allgemeinen Maßnahmen, die das Verhalten von Menschen vorhersagbar beeinflussen, ohne Verhaltensoptionen zu verbieten oder finanzielle Anreize zu schaffen (Englisch to nudge: anstupsen). Vor allem seit Erscheinen des Buches Nudging – wie man kluge Entscheidungen anstößt (Thaler & Sunstein, 2008) hat dieser Ansatz der Verhaltensänderung weltweit große Aufmerksamkeit erhalten. So ergänzt er bereits in vielen Bereichen der Gesellschaft und Politik herkömmliche Ansätze, die auf finanziellen Anreizen beruhen, wie zum Beispiel in der Bekämpfung von Altersarmut und des Klimawandels. In Abgrenzung zu Zwängen und Verboten bewahrt Nudging die Entscheidungsfreiheit einer Person. Die Kunst des Nudging ist, dass alle Verhaltensoptionen verfügbar bleiben, Menschen mit Nudging aber eher Entscheidungen treffen, die sie selbst als besser bewerten würden (Thaler, 2018).
Wie sieht Nudging im Alltag aus?
Vorselektion ist eine beliebte Form des Nudging. Unter Vorselektion versteht man, wenn wie im Eingangsbeispiel der Softwareinstallation eine Entscheidungsoption vorausgewählt ist. Wenn nicht aktiv eine andere Option gewählt wird, tritt die vorausgewählte Option in Kraft. Menschen neigen generell dazu, die voreingestellte Option zu wählen. Wird zum Beispiel bei einem Stromanbieterwechsel der grüne Stromtarif vorausgewählt, wählten deutlich mehr Studienteilnehmende diesen Tarif als wenn ein herkömmlicher brauner Stromtarif vorausgewählt war. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Studien bezüglich der Anzahl an registrierten OrganspenderInnen und Personen, die in eine private Altersvorsorge einzahlten (Jachimowicz et al., 2019).
Ein anderer Nudge sind soziale Normen, die gesellschaftlich vorherrschende oder anerkannte Verhaltensweisen kommunizieren. Die meisten Menschen verhalten sich so, dass ihr Verhalten im Einklang mit den Normen ihres nächsten sozialen Umfeldes oder der Gesellschaft ist. Macht man nun eine Person auf die Abweichung ihres Verhaltens von einer sozialen Norm aufmerksam, wird diese ihr Verhalten wahrscheinlich der sozialen Norm annähern. So benutzen Hotelgäste ihre Handtücher öfter, wenn man sie darauf hinweist, dass andere Hotelgäste dies auch tun und SchülerInnen zeigen weniger missbräuchlichen Alkoholkonsum, wenn man sie darüber informierte, dass die Mehrheit aller Jugendlichen nicht exzessiv trinkt (Münscher et al., 2016).
Framing ist ein weiterer
Nudge.
Framing beschreibt verschiedene, inhaltlich gleichwertige Darstellungsformen derselben Information. So stimmen Menschen der Zulassung eines Medikamentes eher zu, wenn es verspricht, Tote zu vermeiden als wenn es verspricht, eine gleiche Anzahl Leben zu retten (Tversky & Kahneman, 1981). Außerdem lassen sich mehr Menschen gegen die Grippe impfen, wenn eine Impfdosis als für sie persönlich reserviert kommuniziert wird im Vergleich zu einer Terminerinnerung ohne diesen Hinweis, womöglich um den Verlust der Reservierung zu vermeiden (Milkman et al., 2021). Der Erfolg dieser Darstellungen kann darauf zurückgeführt werden, dass Menschen in der Regel lieber Verluste vermeiden als Gewinne zu erzielen (Tversky & Kahneman, 1981).
Vor- und Nachteile von heuristischem Entscheiden
Die Idee des Nudging entsprang aus der Erkenntnis, dass Menschen sich in ihrem Verhalten häufig auf intuitive Faustregeln, sogenannte Heuristiken, verlassen (Kahneman et al., 1982). Diese folgen in der Regel der einfachen „Wenn X eintritt, dann mache ich Y“-Logik und können so die Entscheidung für ein Verhalten vereinfachen. Als Beispiel: „Wenn mein COVID-Test nächsten Freitag negativ ist, dann gehe ich am Wochenende Oma und Opa besuchen“ ist eine Heuristik. Das Verhalten Großeltern besuchen: Ja oder Nein? ist allein vom Ergebnis des COVID-Tests bestimmt. Andere Faktoren, die für das übergeordnete Ziel Oma und Opa zu schützen von Bedeutung sein könnten, werden ausgeblendet. Der eigene Gesundheitszustand (Habe ich Erkältungssymptome?), der Kontakt zu potentiell Erkrankten (Wen habe ich die letzten Tage ohne Abstand und Maske gesehen?) oder der Immunitätsstatus (Bin ich und/oder meine Großeltern immunisiert oder geimpft?) fließen in diesem Beispiel nicht in die Entscheidung ein.
Sich auf Heuristiken zu verlassen ist bei vielen alltäglichen Entscheidungen hilfreich und unvermeidlich. Es ermöglicht uns, unter Zeitdruck und Ablenkung erstaunlich gute Entscheidungen zu treffen, wenn ein Abwägen von Für und Wider gar nicht möglich ist. Zum Beispiel treffen Ärzte in den meisten Fällen aufgrund ihrer Erfahrung unter Zeitdruck gute und richtige Entscheidungen. Auch Laien können mit einfachen Faustregeln wie „alles was kühlt und wärmt braucht viel Strom“ den Energieverbrauch von Haushaltsgeräten besser einschätzen (Marghetis et al., 2019).
Auf der anderen Seite hat die Forschung der letzten Jahrzehnte auch gezeigt, dass heuristisches Entscheiden nicht immer zu unserem Besten ist. Heuristische Faustregeln können zu systematischen Verzerrungen unseres Verhaltens führen (Kahneman et al., 1982). Zum Beispiel wollen Menschen ein Verhalten vor allem dann zeigen, wenn es bald nicht mehr möglich oder sogar verboten ist (Brehm & Brehm, 2013). So ist die Lust besonders groß, in eine Kneipe oder nochmal Shoppen zu gehen, wenn ein
COVID-19 Lockdown bevorsteht. Das normale Ausgeh- oder Shoppingverhalten ist also durch die drohende Freiheitseinschränkung verzerrt.
Doch nicht nur unser Verhalten kann verzerrt werden, sondern auch unsere Risikoeinschätzung. Menschen greifen häufig auf ihre Vorstellungskraft zurück, wenn sie die Wahrscheinlichkeit eines Unglücks einschätzen müssen. So fällt die Leichtigkeit, mit der sich ein Unglück vorgestellt werden kann, häufig stärker ins Gewicht als seine tatsächliche Auftretenswahrscheinlichkeit. Dadurch werden hohe Risiken wie zum Beispiel alkoholisiertes Fahren häufig unterschätzt und niedrige Risiken wie mit dem Flugzeug abzustürzen überschätzt (Gigerenzer, 2004).
Noch ein negatives Beispiel ist die selektive Suche nach Informationen. Menschen neigen dazu, verstärkt nach Belegen zu suchen, die ihre Ideen und Überzeugungen bestätigen. Im Gegensatz dazu werden Informationen eher ignoriert, wenn sie bestehenden Überzeugungen widersprechen (Hart et al., 2009). So bewegen sich Personen eher in sozialen Netzwerken und besuchen vorwiegend Informationsseiten, die ihre Überzeugungen teilen. Dies kann zu der Verhärtung von Überzeugungen, zum Beispiel von Stereotypen gegenüber Ausländern, und der Bildung von polarisierten Gruppierungen, wie Anhängern von Verschwörungstheorien, führen.
Wie der Kontext heuristisches Entscheiden beeinflusst
Ob heuristische Entscheidungen zu günstigen oder ungünstigen Ergebnissen führen, hängt von der die Entscheidung umgebenden Entscheidungsarchitektur ab. Die Entscheidungsarchitektur beschreibt alle Merkmale eines Entscheidungskontextes, die Verhalten beeinflussen können (Thaler & Sunstein, 2008). Dazu gehören beispielsweise die subjektiven Auswirkungen einer Entscheidung, in welchem Ausmaß für die Entscheidung relevante Informationen hervorgehoben sind und die Anzahl und Anordnung von möglichen Alternativen (Münscher et al., 2016). Generell wirkt sich der Entscheidungskontext stärker auf heuristisches Entscheiden aus als auf abwägendes, analytisches Entscheiden (Thaler & Sunstein 2008). Um Nudging richtig einzuordnen ist jedoch vor allem wichtig, dass es keine Entscheidung ohne Entscheidungsarchitektur gibt – ähnlich wie es kein Bauwerk ohne Architektur gibt.
Mit Nudging Politik gerechter und effektiver machen
Die Bewusstwerdung über den unausweichlichen Einfluss des Entscheidungskontextes auf das Verhalten von BürgerInnen ist eine wichtige Chance, bereits existierende Einflüsse zu hinterfragen. Viele Merkmale der uns umgebenden Entscheidungskontexte haben schon ohne gezieltes Nudging Einfluss auf unser Verhalten. Zum Beispiel werden Voreinstellungen wie die automatische Registrierung zu einem Newsletter bei einem Onlinekauf häufig von Unternehmen zur KundInnenbindung missbraucht. Aber auch Formulare von staatlichen Institutionen sind häufig so gestaltet, dass sie Teile der Bevölkerung benachteiligen und den Zugang zu BürgerInnenrechten unzumutbar erschweren (Thaler, 2018). Auf Grundlage dieser Erkenntnis wurde beispielsweise in New York der Inhalt von gerichtlichen Ladungsschreiben auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage überarbeitet. Der Fokus des Schreibens wurde von der Auflistung drohender Strafen bei Versäumnis des Gerichtstermins hin zu einer detaillierten Wegbeschreibung zum Gericht verändert. So versäumten weniger Geladene ihren Gerichtstermin und entgingen so zusätzlichen Strafen während auch die öffentlichen Kosten sanken (Fishbane et al., 2020).
Nudging kann auch dazu genutzt werden, politische Ziele effektiver umzusetzen (Thaler & Sunstein, 2008). Politische Ziele werden häufig in Gesetzen formuliert, die eine konkrete Ausgestaltung offenlassen. Ob ein Gesetz allerdings sein Ziel erreicht, hängt von genau dieser Ausgestaltung ab, da diese den Einfluss des Entscheidungskontextes auf das Verhalten bestimmt. So reichte es beispielsweise nicht, den Diebstahl von versteinertem Holz in einem amerikanischen Nationalpark zu verbieten. Die Besucher stahlen das Holz weiterhin, trotz des Verbots. Wenn allerdings die soziale Norm kommuniziert wurde, dass die meisten vorherigen Besucher nichts stahlen und dieses Verhalten das richtige sei, half dies die Anzahl der Diebstähle zu reduzieren (Cialdini et al., 2006).
Nudging: Manipulation und daher tabu?
In den meisten Ländern geniest Nudging als Ergänzung zu traditionelleren Ansätzen der Verhaltensveränderung wie finanziellen Anreizen und Strafen großen Zuspruch aus der Bevölkerung und aus der Politik (Sunstein et al., 2019). Jedoch wird der Ansatz vor allem in Deutschland auch kritisiert. Zum Beispiel beanstanden KritikerInnen, dass die in Studien berichteten Verzerrungen von Risikowahrnehmung und Verhalten zu häufig damit begründet werden, dass sich Menschen irrational verhalten würden. Alternative Erklärungen wie künstliche Untersuchungssituationen insbesondere in der experimentellen psychologischen Forschung würden zu selten berücksichtigt. Im richtigen Leben könnte heuristisches Entscheiden also weniger häufig in nachteiligen Verzerrungen resultieren, was die Effektivität von Nudging schmälern könnte (Gigerenzer 2018). Außerdem wird kritisiert, dass politische EntscheidungsträgerInnen Nudging zur Lenkung des Verhaltens der Bevölkerung einsetzen könnten und so auf eine paternalistische Weise über den Kopf der Menschen hinweg entscheiden könnten, was gut für sie sei. Befürworter ergänzender Ansätze schlagen deswegen vor, gezielt individuelle Entscheidungskompetenzen zu stärken, die nachteiligen Verhaltensverzerrungen entgegenwirken können (Gigerenzer 2018; Herzog & Hertwig, 2019).
Fazit
Für das effektive Erreichen von politischen und gesellschaftlichen Zielen ist es essentiell, sich einerseits den Einflüssen der Entscheidungsarchitektur auf Verhalten bewusst zu werden und andererseits Nudging als einen Bestandteil bestehender und zukünftiger Politik zu berücksichtigen. Erste Bemühungen von Seiten der Politik machen sich beispielweise in der Thematisierung von Vorselektion in der Registrierung zur Organspende im Deutschen Bundestag und der Einrichtung eines verhaltenswissenschaftlichen Beratungsstabs der Bundesregierung bemerkbar. Was die breite Anerkennung und Integration von verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnissen betrifft, bleiben diese Bemühungen im Angesicht des allgegenwärtigen Einflusses von Entscheidungskontexten auf Verhalten bisher jedoch weit hinter ihren Möglichkeiten zurück, Politik effektiver zu gestalten.
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