Von moderat bis radikal - Verändert Misserfolg die Klimabewegung? Psychologische Studien zu Erfolg und Misserfolg sozialer Bewegungen
Während der Weltklimarat vor einer Eskalation der Klimakrise warnt und Klimabewegungen wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels fordern, geht deren politische Umsetzung nur schleppend voran. Doch welche Folgen hat die Wahrnehmung von Misserfolg und Frustration auf die Klimabewegung? Führt dies zu ihrer Fragmentierung und Radikalisierung oder wird unbeirrt an bisherigen Aktionsformen festgehalten? Der Artikel beschreibt psychologische Studien zu Folgen von wahrgenommenem Erfolg und Misserfolg auf soziale Bewegungen.
Kollektives Handeln als Game Changer in der Klimakrise?
Seit im September 2019 laut Fridays for Future 1,4 Millionen Menschen für eine konsequente Klimapolitik demonstrierten, bemüht sich die Klimabewegung durch kollektives Handeln, die Klimakrise auf die öffentliche Agenda zu setzen und politischen Handlungsdruck zu erhöhen. Kollektives Handeln beschreibt in diesem Zusammenhang „koordiniertes Handeln einer Gruppe von Menschen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen“ (Landmann & Rohmann, 2020). Dieses gemeinschaftliche Handeln hat die Welt verändert, ein echter Game Changer: Die Klimakrise ist kein rein privates Anliegen mehr, sondern Menschen setzen sich durch ihr kollektives und klimapolitisches Engagement dafür ein, dass politische Rahmenbedingungen individuelle Lebensstiländerungen auf eine sozial gerechte Art ermöglichen.
Gleichzeitig wird in Zeiten multipler globaler Krisen (wie z. B. Corona- Pandemie, Angriffskrieg Russlands) die Notwendigkeit für ambitionierte Klimaschutzmaßnahmen als mal mehr und als mal weniger dringlich angesehen. Nachdem 2021 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts das Klimaschutzgesetz nachgeschärft werden musste, diskutierte die Regierung bereits 2023 das Klimaschutzgesetz wieder zu lockern, Sektorziele aufzuweichen und von jährlichen Überprüfungen abzusehen (Expertenrat für Klimafragen, 17.04.2023). In der Klimabewegung breitet sich Frustration aus. Nach Erfolg folgt Misserfolg und entfacht eine Debatte über eine Radikalisierung der Klimabewegung. Insbesondere das Aktionsbündnis Letzte Generation macht seit 2022 durch zivilen Ungehorsam (z. B. Blockaden von Verkehrswegen) auf die Klimakrise aufmerksam, auch da aus ihrer Sicht gemäßigtere Formen des Protests keinen ausreichenden Einfluss auf die Klimapolitik haben (Rucht, 2023).
Fridays for Future Deutschland hingegen distanzierte sich - wie zum Beispiel im Frühjahr 2023 - öffentlich von der Letzten Generation und ihren Protestformen (ZDF, 2023). Dies verdeutlicht die Breite an Einstellungen innerhalb der Klimabewegung, die sich auch in den Einstellungen der Gesellschaft zu unterschiedlichen Formen von Protest widerspiegeln (Betsch et al., 2023).
Auf dem Weg, Dinge zu verändern, können Bewegungen mehrfach scheitern und erfolgreich sein (Louis et al., 2020). Doch welche Folgen haben erlebter Misserfolg und Frustration auf die Entwicklung der Klimabewegung? Führt dies zu einer Fragmentierung oder Radikalisierung der Klimabewegung? Werden erfolgreiche Taktiken vermehrt eingesetzt? Oder sinkt mit Misserfolg die Bereitschaft, sich kollektiv klimapolitisch zu engagieren? Anhand von Studien über die Auswirkungen von erlebtem Erfolg und Misserfolg auf soziale Bewegungen beschreiben wir, welche Ziele kollektiv handelnde Menschen verfolgen, inwiefern diese Ziele Veränderungen unterliegen und wie Erfolg und Misserfolg von Bewegungen kollektives Handeln beeinflussen.
Ziele kollektiven Handelns in der Klimakrise
Lange Zeit lag in der Debatte sowie der Kommunikation über die Klimakrise ein Fokus auf Änderungen des individuellen Konsumverhaltens und weniger auf notwendigen Systemveränderungen, um Klimaschutz voranzutreiben. Politökonomische Studien belegen jedoch, dass der Einfluss individueller privater Handlungen (etwa Mülltrennung, umweltschonende Konsumgewohnheiten, Wasser- und Energiesparen) die Umweltqualität kaum beeinflussen. Kollektive öffentliche Handlungen (beispielsweise Mitgliedschaft in Umweltgruppen, Initiierung oder Unterzeichnung von Petitionen, Teilnahme an Demonstrationen) sind im Gegensatz zu Handlungen von Einzelpersonen jedoch potentiell wirksamer, um umweltschädliche menschliche Einflüsse zu verringern (Kranz et al., 2022).
Ein Grund für das Potential kollektiver Handlungen ist, dass diese die Macht und schlussendlich den Einfluss einer Gruppe vergrößern, um systemische Veränderungen anzuschieben, um kollektiv ein Problem zu lösen (Wright et al., 1990). Dabei beeinflussen systemische Rahmenbedingungen die Handlungen von vielen Einzelpersonen, insbesondere durch politische Instrumente, wie Gesetze, Steuern und Subventionen. Diese systemischen Veränderungen sind die notwendige Grundvoraussetzung, um nicht länger wertvolle Jahre zur Sicherung der menschlichen Lebensgrundlagen zu verlieren. Transformativer Wandel sollte demnach das Anliegen aller sein: Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.
Zielsetzungen und Protestformen kollektiver Handlungen sind dynamisch. Sie ändern sich mitunter kurzfristig, je nachdem, welche Zielgruppen angesprochen werden, welche Reaktionen bestimmte Aktionen hervorrufen und welche Möglichkeiten und Hürden sich ergeben (Gulliver et al., 2021). Zielsetzungen reichen von abstrakten und ganzheitlichen Ambitionen, wie dem Erreichen von Klimaneutralität bis 2030, dem Ausstieg aus fossilen Energien (oder zumindest den Abbau von Subventionen derselbigen), bis hin zu spezifischen Forderungen, wie der Einrichtung eines Gesellschaftsrats oder dem Bau von Fahrradwegen. Solche Forderungen können gesellschaftliche Debatten, mediale Berichterstattung, Sensibilisierung und Mobilisierung der Gesellschaft oder Aufklärung auslösen.
Zielsetzungen und Protestformen der Klimabewegung haben sich insbesondere in den letzten Jahren verändert. Während Extremwetterereignisse intensiver und häufiger werden und sich das noch verbleibende Zeitfenster für wirksame Klimaschutzmaßnahmen rasant schließt, sehen Teile der Klimabewegung, wie die Letzte Generation, einen eklatanten Widerspruch zwischen der sich zuspitzenden Klimakrise und den eher verhaltenen politischen Maßnahmen zur Eindämmung. Aus Sicht einiger Klimaaktivist:innen haben konventionelle Protestformen nicht zu einer zügigen Umsetzung notwendiger politischer Steuerungsmaßnahmen geführt, sodass sie auch „unkonventionelle“ oder “radikalere” Formen politischer Partizipation anwenden (Rucht, 2023).
Konventionelle kollektive Handlungen umfassen Handlungen, welche mit den Normen des sozialen Systems im weiteren Sinne übereinstimmen, wie z. B. Petitionen, friedliche und genehmigte Streiks oder auch Lobbying. Radikale kollektive Aktionen fallen in den Bereich der nicht-normativen Handlungen und umfassen Handlungen der politischen Partizipation, wie gewaltfreier Widerstand im Kontext des zivilen Ungehorsams, der (symbolisch) gegen Gesetze verstößt (z. B. Blockaden, Protest-Camps) sowie gewalttätige Handlungen, wie sie aus der extremistischen Szene bekannt sind (Gulliver et al., 2021; Tausch et al., 2011).
Im öffentlichen Diskurs wird vornehmlich aufgrund der Aktionen der Letzten Generation wiederkehrend eine vermeintliche Radikalisierung bestimmter Gruppen in der Klimabewegung beschrieben. Hierbei wird der Begriff der Radikalisierung jedoch häufig in einem Bedeutungszusammenhang verwendet, der Assoziationen zu gesetzeswidrigen, insbesondere aber auch extremistischen und terroristischen Gruppierungen aufmacht und somit Staatsfeindlichkeit unterstellt und Teile der Klimabewegung kriminalisiert (Rucht, 2023).
Weder über Gerichtsurteile noch seitens des Verfassungsschutzes und auch der Wissenschaft wird die Letzte Generation als gesamtes Aktionsbündnis derzeit jedoch als extremistisch eingestuft, auch wenn sie regelmäßig gesetzeswidrig handelt. Zentrale Legitimationserklärung der Letzten Generation ist dabei der Bezug zum Gemeinwohl, beziehungsweise zur Sicherung von Lebensgrundlagen kommender Generationen. Dabei wird die Frage aufgeworfen, inwiefern die eingesetzten Protestformen im Vergleich zu ihren Zielen verhältnismäßig sind: wenn das Überleben der Menschheit unmittelbar auf dem Spiel steht, ist dann ein Festkleben auf Straßen radikal oder eher verhältnismäßig gegenüber der drohenden Klimakatastrophe (Rucht, 2023)? Unabhängig davon, welche Taktiken Mitglieder beziehungsweise Gruppierungen der Klimabewegung anwenden, zeigt sich immer wieder, dass die große Mehrheit eine eindeutig positive Einstellung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung sowie zur Ablehnung von Gewalt gegenüber anderen Menschen teilen (Rucht, 2023). Darüber hinaus eint sie das Ziel, von Regierungen und Parlamenten die Einhaltung der im Pariser Klimaabkommen demokratisch legitimierten 1,5-Grad-Grenze einzufordern (Mullis, 2023). Doch wie könnte sich die Klimabewegung bei wiederkehrendem Misserfolgserleben verändern?
Wie wirken sich Misserfolgserlebnisse auf soziale Bewegungen aus?
Nach dem Social Identity Model of Collective Action (SIMCA Modell; van Zomeren & Iyer, 2009) unterstützen Menschen soziale Bewegungen, wenn sie sich mit der Bewegung und ihren Zielen identifizieren. Insbesondere, wenn sie glauben, dass Aktionen der Bewegung wirksam sind und sie einen relevanten Beitrag dazu leisten können. Im Allgemeinen motiviert die Wahrnehmung kollektiver Wirksamkeit einer Bewegung, sich an der Bewegung zu beteiligen. Empirische Studien zur Bereitschaft junger Erwachsener an Aktionen der Klimabewegung mitzuwirken zeigen jedoch, dass Überzeugungen bezüglich der Wirksamkeit der Bewegung ( kollektive Wirksamkeit) dabei weniger entscheidend sind als die wahrgenommene Relevanz des persönlichen Mitwirkens für den Erfolg der Bewegung. Dies kann zu der paradoxen Situation führen, dass Menschen, die von der kollektiven Wirksamkeit einer Bewegung überzeugt sind, weniger bereit sind sich an Aktionen der Bewegung zu beteiligen, wenn sie keinen Zusatznutzen in der eigenen Beteiligung sehen (Bamberg et al., 2015). Der wahrgenommene Erfolg sozialer Bewegungen beeinflusst daher entscheidend, inwiefern eine Bewegung zusätzliche Unterstützer:innen gewinnen kann.
Das DIME-Modell (Dis-Identifikation, Innovation, Moralisierung und Energetisierung) (siehe Abbildung 1) beschreibt theoretisch, wie Unterstützer:innen auf Erfolg beziehungsweise Misserfolg ihrer sozialen Bewegung reagieren (Gulliver et al., 2021). Erzielen soziale Bewegungen (Teil-)Erfolge, so führt dies aufgrund des Erlebens kollektiver Wirksamkeit zu einer verstärkten Gruppenidentifikation und einem Beibehalten etablierter Protestformen. Jedoch erreichen soziale Bewegungen selten ihre Ziele direkt, sondern erleben oftmals jahrelang und wiederholt Misserfolge bezogen auf ihre politischen Forderungen. Entscheidend für den langfristigen Erfolg sozialer Bewegungen ist daher, wie ihre Mitglieder mit diesen Erfahrungen umgehen. Das Modell geht davon aus, dass Unterstützer:innen einer Bewegung sehr unterschiedlich auf Misserfolg reagieren. Ein Teil der Mitglieder verliert nach einem Misserfolgserlebnis die Identifikation mit der Bewegung und steigt aus. Andere wiederum sehen einen Grund für das Scheitern in den bisher gewählten Protestformen und wenden sich daher radikaleren Formen zu. Zwar sind solche Gruppierungen oftmals medial sehr präsent, jedoch in der Regel in der Minderheit. Bei beständigen Bewegungen hält die Mehrheit der Mitglieder im Falle von Misserfolgserlebnissen an den gewählten Taktiken fest, und verstärkt ihre Aktivitäten sogar oder betont die moralische Verpflichtung zum Weitermachen (Gulliver et al., 2021).
Die Aussagen des DIME-Modells decken sich mit empirischen Befunden sozialpsychologischer Studien. In diesen Studien wurden Personen, die eine Bewegung unterstützen, vor und nach einer politischen Entscheidung befragt. Dabei wurde insbesondere die Wirkung des wahrgenommenen Misserfolgs auf die Identifikation mit der Bewegung, die Bereitschaft zur Unterstützung radikalerer Protestformen und die Wirkung auf Einstellungen zur Demokratie untersucht. In einer Meta-Analyse wurden Befunde neun solcher Studien mit dem Fokus auf soziale Bewegungen zusammengefasst (Louis et al., 2022).
Auch hier deuten die Ergebnisse darauf hin, dass anfängliches Scheitern zu unterschiedlichen und sogar manchmal widersprüchlichen Reaktionen führt. Während nach dem Erleben von Misserfolg bei einigen die Identifikation mit der Bewegung abnimmt, nimmt die Bereitschaft zum Engagement und die Unterstützung radikalerer Protestformen bei anderen zu. Die Reaktion auf Misserfolg scheint auch von den dabei erlebten Emotionen abzuhängen. Personen, die starke negative Emotionen (wie zum Beispiel Wut) empfinden, sind eher bereit ihr Engagement im Falle von Misserfolg fortzusetzen und radikalere Protestformen zu unterstützen (Lizzio-Wilson et al., 2021).
Dieser Befund deckt sich mit politischen Analysen zur Entwicklung der Letzten Generation. Viele ihrer Mitglieder beschreiben das Gefühl von Wut aufgrund bisher unzureichender Klimapolitik und dass sie „radikalere“ Formen des Protests wählen, da ihrer Meinung nach bisherige Protestformen nicht zu notwendigen politischen Klimaschutzmaßnahmen geführt haben (Rucht, 2023). Weiterhin scheinen diese Prozesse längerfristigen zeitlichen Dynamiken zu unterliegen: So halten Personen, die vor dem Misserfolgserlebnis radikale Protestformen ablehnten, zunächst an gemäßigteren Formen fest. Erst das wiederholte Erleben von Misserfolg führt auch bei ihnen zu einer stärkeren Akzeptanz radikalerer Protestformen. Darüber hinaus beeinflusst auch der Umgang von politischen Entscheidungsträger:innen mit Protesten die Reaktionen der Bewegung auf Misserfolgserlebnisse. Erleben die Mitglieder einer Bewegung das politische System als ungerecht, so ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass ihre demokratischen Überzeugungen abnehmen und sie radikalere Protestformen unterstützen (Louis et al., 2022).
Einzelne kollektive Handlungen sind meist Teil einer mittel- oder langfristigen Strategie einer Bewegung, um politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu verändern (Gulliver et al., 2021). Auch deswegen ist eine binäre Betrachtung von Erfolg und Misserfolg nicht abschließend, da beide Ereignisse oft nicht klar voneinander zu trennen sind (Louis et al., 2020; Louis et al., 2022). So kann ein zunächst als Misserfolg wahrgenommener Rückschlag beispielsweise eine Lernmöglichkeit zur Veränderung zukünftiger Taktiken und Strategien sein (z. B. zunehmende Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Aktionsbündnissen) oder zu einem späteren Zeitpunkt einen anderen Erfolg hervorrufen. Andersherum ist auch ein temporärer Erfolg nur ein Schritt zum Erreichen des übergeordneten Ziels und nicht zwangsläufig von Dauer. So können Erfolge von Bewegungen Gegenbewegungen initiieren oder stärken, sodass Erfolge geschmälert oder sogar wieder rückgängig gemacht werden (Louis et al., 2020). Dies zeigt, wie schwierig es ist, die Effektivität einer Bewegung klar zu definieren. Letztlich kommt es bei der Bewertung der Zielerreichung auch immer darauf an, welcher zeitliche Horizont angenommen (bspw. kurz- mittel- oder langfristig) und anhand welcher Faktoren (z. B. hohe Anzahl an Protestierenden, Verschiebung von Machtverhältnissen, Etablierung ambitionierter klimapolitischer Rahmenbedingungen) die Erreichung von Zielsetzungen bestimmt wird (Gulliver et al., 2021).
Was folgt daraus für die Zukunft der Klimabewegung?
Fridays for Future konnte seit 2019 viele Menschen mobilisieren und wurde zum zentralen Anker der Klimabewegung. Fridays for Future beeinflusste durch Mobilisierung den öffentlichen sowie politischen Diskurs und mit der erfolgreichen Verfassungsbeschwerde wurde eine Verschärfung des Klimaschutzgesetzes erreicht, was schlussendlich auch als Erfolg der Klimabewegung wahrgenommen wird. Allerdings erfolgen politische Veränderungen nur langsam und werden teilweise wieder zurückgenommen. Das bringt Teile der Klimabewegung, wie die Letzte Generation, zur Überzeugung, dass die öffentliche Aufmerksamkeit und dadurch Druck auf politische Entscheidungsträger:innen nur durch radikalere Protestformen zu erreichen sind (SWR, 2022). Dabei wird Fridays for Future in der öffentlichen Wahrnehmung als der moderate Teil der Klimabewegung gesehen, während die Letzte Generation als radikalere Flanke wahrgenommen wird (Betsch et al., 2023).
Die Bildung solcher „radical flanks“ kann wiederum zu mehr Unterstützung moderater Gruppierungen führen, da eine Identifizierung mit normativ handelnden Gruppierungen höher ausfällt, je radikaler Taktiken anderer Gruppierungen wahrgenommen werden (Simpson et al., 2022). Inwiefern dies bei der Klimabewegung tatsächlich der Fall ist oder gemäßigtere Fraktionen durch radikalere Gruppierungen nicht auch als extremer oder radikaler wahrgenommen werden, wird sich zeigen. Empirisch lässt sich dieser Trend derzeit noch nicht eindeutig nachweisen.
Fazit
Verändert Misserfolg die Klimabewegung? Im Gegensatz zu den erwähnten Studien, bei denen es einen eindeutigen Zeitpunkt gab, zu dem ein eindeutiger Erfolg beziehungsweise Misserfolg vorlag, ist bei Gruppierungen der Klimabewegung nicht davon auszugehen, dass es einen spezifischen Zeitpunkt geben wird, an dem alle ihre Forderungen erfüllt oder nicht erfüllt sein werden. Vielmehr ist von einem stetigen Aushandlungsprozess und einer fortwährenden, kleinschrittigen Umsetzung klimapolitischer Forderungen auszugehen, da nach wie vor vielen Menschen das Ausmaß der Bedrohung durch den Klimawandel und die Dringlichkeit adäquater Gegenmaßnahmen nicht voll bewusst ist. Daher ist zu vermuten, dass die Klimabewegung stetig Ziele und Protestformen an sich verändernde Bedingungen anpassen und sich somit weiterhin in einem dynamischen Prozess verändern wird. Zentral wird dabei sein, ob das Anliegen einer klimafreundlichen Wende gesamtgesellschaftlich eingefordert und umgesetzt wird. Das bedeutet auch, dass sich Bürger:innen neben klimafreundlichen individuellen Handlungen auch kollektiv für Klimaschutz einsetzen und hier Wirksamkeit erfahren. Dies setzt – neben dem Problembewusstsein – auch eine Informiertheit über verschiedene Formen kollektiven Handelns voraus und zeigt nicht zuletzt die Notwendigkeit einer politischen Klimabildung auf, die Menschen befähigt, kollektiv wirksam zu werden.
Literaturverzeichnis
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