Werden Kinder mit Migrationshintergrund durch Lehrkräfte benachteiligt?
Viele Studien zeigen deutliche Unterschiede in den Noten und in den Empfehlungen der Lehrkräfte für die weiterführende Schulart nach der Grundschule von SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund auf. Diese Unterschiede lassen sich nicht allein durch Leistungsunterschiede erklären. Daher haben wir uns die Frage gestellt, warum Lehrkräfte SchülerInnen unterschiedlicher Herkunft unterschiedlich beurteilen. Sind Beurteilungen von Lehrkräften womöglich durch Stereotype verzerrt?
Hängt der Schulerfolg von der Herkunft der Schüler ab?
Im deutschen mehrgliedrigen Schulsystem mit seinen hierarchisch strukturierten Schulformen (Haupt- bzw. Mittelschule, Realschule, Gymnasium) entscheiden Lehrkräfte am Ende der Grundschulzeit, für welche dieser weiterführenden Schulformen eine Schülerin oder ein Schüler am ehesten geeignet zu sein scheint. Da diese Empfehlung häufig verbindlich ist, ist sie von großer Tragweite für das betreffende Kind. Das wichtigste Kriterium für die Lehrkräfte ist dabei der Notendurchschnitt im vorletzten Zeugnis in der Grundschule. Allerdings konnten zahlreiche Untersuchungen mittlerweile belegen, dass neben der Leistung auch andere Schülermerkmale einen Einfluss auf die Entscheidung der Lehrkräfte haben. Zwei dieser Merkmale sind der Migrationshintergrund der SchülerInnen und der sozioökonomische Status ihrer Familien. So konnte verschiedentlich gezeigt werden, dass Kinder mit türkischem Migrationshintergrund im Vergleich zu Kindern ohne Migrationshintergrund seltener ein Gymnasium besuchen (z. B. Kristen & Granato, 2007) und die Schule häufiger vorzeitig abbrechen (z. B. Coneus, Gernandt & Saam, 2010). Auch für Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status zeigen sich in vielen Studien geringere Leistungen, schlechtere Noten und ein seltenerer Gymnasialbesuch im Vergleich zu Kindern aus Familien mit hohem sozioökonomischem Status (z. B. Merkens & Wessel, 2002). Da Lehrkräfte verantwortlich für die Benotung sowie für die Schullaufbahnempfehlung sind, könnte die schlechtere Bewertung und Einschätzung von SchülerInnen zum Teil auf Verzerrungen der Lehrerurteile zurückzuführen sein, die durch stereotype Erwartungen über bestimmte SchülerInnen verursacht sein können (Jussim & Harber, 2005).
Stereotype und ihr Einfluss auf Urteile
Immer wenn Menschen anderen Menschen begegnen, nehmen sie bestimmte Merkmale wahr, die besonders offensichtlich sind. Zu diesen Merkmalen gehören z. B. Geschlecht, Alter oder Hautfarbe. Die Wahrnehmung solcher Merkmale aktiviert automatisch und weitgehend unbewusst im Gedächtnis gespeicherte stereotype Inhalte (Fiske & Neuberg, 1990). Diese Stereotype beinhalten die gesammelten Vorstellungen von Eigenschaften über eine soziale Gruppe. Lee und Fiske (2006) fanden in einer Studie heraus, dass Personen mit Migrationshintergrund häufig negative Stereotype zugeschrieben werden (z. B., dass sie inkompetente und unzuverlässige Außenseiter seien). Für Deutschland zeigte sich in einer anderen Untersuchung, dass insbesondere Menschen mit türkischen Wurzeln oft unterstellt wird, dass sie geizig, korrupt, unfähig und konservativ seien – was teils gravierende Folgen in der sozialen Interaktion hat (Baur & Ossenberg, 2016). Stereotype über Minderheiten sind oft leistungsbezogen (Glock & Krolak-Schwerdt, 2013). Zum Beispiel kann aus dem Umstand, dass SchülerInnen mit türkischem Migrationshintergrund im Durchschnitt schlechtere Leistungen in der Schule erbringen als ihre MitschülerInnen ohne Migrationshintergrund, bei Lehrkräften die Erwartung entstehen, dass erstere auch zukünftig schlechter abschneiden werden (Marx & Stanat, 2012). Im Gegensatz dazu werden SchülerInnen ohne Migrationshintergrund oft eher als hart arbeitend, pflichtbewusst, intelligent, pünktlich und zuverlässig wahrgenommen (Baur & Ossenberg, 2016). Bei SchülerInnen werden im Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status ihrer Familien ebenfalls unterschiedliche Stereotype aktiviert. Diese fallen für Kinder mit hohem sozioökonomischem Status deutlich positiver aus als für Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status; auch diese Stereotype könnten einen Einfluss auf die Urteile von Lehrkräften haben (Glock, Krolak-Schwerdt & Hörstermann, 2016).
Die PsychologInnen Susan T. Fiske und Steven L. Neuberg nehmen an, dass Stereotype besonders dann von Bedeutung sind, wenn wir ein Urteil unter Stress und Zeitdruck fällen müssen (Fiske & Neuberg, 1990). Urteile, die sich auf Stereotype stützen und die individuellen Merkmale einer Person dabei vernachlässigen, werden als automatisierte Urteile bezeichnet. Im Arbeitsalltag von Lehrkräften kommt es häufig zu Situationen, in denen Sie unter Zeitdruck urteilen müssen. So haben sie zahlreiche Aufgaben (wie z. B. den Lerninhalt erklären, die Motivation der SchülerInnen im Blick behalten, mit Unterrichtsstörungen umgehen) gleichzeitig zu erfüllen und zudem die einzelnen Fähigkeiten und Leistungen der SchülerInnen zu beurteilen. Es ist daher denkbar, dass es im Unterrichtsalltag auch häufig zu eher automatisierten Urteilen kommen kann.
Werden Schüler mit Migrationshintergrund bei der Schullaufbahnempfehlung benachteiligt?
In einer experimentellen Studie zum Einfluss ethnischer Stereotype auf die Schullaufbahnempfehlung (Klapproth, Kärchner & Glock, 2018) wurden angehenden Lehrkräften zeugnisähnliche Beschreibungen von männlichen Grundschülern (sogenannte Vignetten) vorgelegt. Die Aufgabe der Lehramtsstudierenden war es, für jeden Schüler1 eine Empfehlung über den weiterführenden Schulzweig in der Sekundarstufe abzugeben. Die angehenden Lehrkräfte hatten die Wahl zwischen „Gymnasium“ und „Nicht Gymnasium“. Jede Schülerbeschreibung enthielt Schulnoten, kurze Informationen zum Arbeits- und Sozialverhalten des Schülers, seine Teilnahme am Religionsunterricht (christlich oder islamisch) und seinen Vornamen. Der Vorname wurde so gewählt, dass er entweder das Stereotyp über einen Schüler ohne Migrationshintergrund (z. B. Max) oder das Stereotyp über einen Schüler mit türkischem Migrationshintergrund (z. B. Mustafa) aktivieren sollte.
Zunächst zeigten die Ergebnisse dieser Studie erwartungsgemäß, dass v. a. der Notendurchschnitt von Bedeutung für die Schulempfehlung war. Je besser der Notendurchschnitt war, desto häufiger wurde das Gymnasium empfohlen. Allerdings zeigte sich auch, dass Schüler mit türkisch klingendem Namen trotz gleicher Leistungen signifikant seltener eine Empfehlung für das Gymnasium erhielten als Schüler mit deutsch klingendem Namen. Selbst die Religion der Schüler beeinflusste die Empfehlungen: Schüler, die den islamischen Religionsunterricht besuchten, bekamen signifikant seltener eine Gymnasialempfehlung als Schüler, die den christlichen Religionsunterricht besuchten., unabhängig davon, ob ihr Name türkisch oder deutsch klang. Die Ergebnisse zeigten zudem, dass auch die Kombination bestimmter Merkmale von Bedeutung für die Empfehlungen der angehenden Lehrkräfte war. Hatten die Schüler gute Noten, einen deutsch klingenden Vornamen und besuchten den christlichen Religionsunterricht, hatten sie insgesamt die größte Chance auf eine Gymnasialempfehlung.
Wie kann man diese Ergebnisse erklären? Möglicherweise verfügten zumindest einige der angehenden Lehrkräfte über negativere Stereotype von Schülern mit Migrationshintergrund, die dann auch zu geringeren Leistungserwartungen führten. Im Gegensatz dazu könnten positivere Stereotype von Schülern ohne Migrationshintergrund zu eher positiveren Leistungserwartungen geführt haben. Da Schüler immer mehrere Merkmale in sich vereinen (z. B. Migrationshintergrund und Religionszugehörigkeit), besteht die Gefahr, dass Schüler mit bestimmten Merkmalskombinationen (z. B. türkischer Migrationshintergrund und islamischer Religionsunterricht) besonders negative Stereotype bei angehenden Lehrkräften aktivieren.
Woher kommen solche negativen Erwartungen zur Leistungsentwicklung der SchülerInnen? Lassen sich die Erwartungen verändern, wenn die beurteilenden Personen zusätzliche Informationen über die bisherige Leistungsentwicklung erhalten? Diese Frage sollte ein weiteres Experiment (Klapproth & Fischer, 2020) beantworten. Im Land Berlin endet die Grundschulzeit regulär nach der 6. Klasse. Dort erstellen Lehrkräfte ihre Schullaufbahnempfehlung auf Grundlage sowohl der Zeugnisnoten des zweiten Halbjahres der Klasse 5 als auch der Zeugnisnoten des ersten Halbjahres der Klasse 6. Dadurch gewinnen sie auch einen Eindruck über die Entwicklung der zu empfehlenden SchülerInnen. Wenn SchülerInnen mit türkischem Migrationshintergrund eine geringere schulische Fähigkeit unterstellt wird, dann sollten sie auch eine schlechtere Prognose erhalten, wenn Versuchspersonen die Veränderung ihrer Schulnoten berücksichtigen. In dem Experiment von Klapproth und Fischer (2020) erhielten Grundschullehrkräfte zeugnisähnliche Vignetten von männlichen Schülern mit deutsch oder türkisch klingenden Vornamen. Darüber hinaus bekamen die Lehrkräfte zwei Zeugnisse statt nur einem. Tatsächlich zeigte sich auch hier, dass Schüler mit türkisch klingendem Namen im Durchschnitt seltener eine Gymnasialempfehlung erhielten als Schüler mit deutsch klingendem Namen. Allerdings trat dieser Unterschied nur dann auf, wenn die Schüler einen schlechten Notendurchschnitt hatten und ihre Leistungen sich verschlechterten. Zeigten die Schüler eher gute Leistungen im ersten Zeugnis und wiesen sie Verbesserungen im zweiten Zeugnis auf, änderte sich das Bild: Schüler mit türkisch klingendem Namen erhielten unter dieser Bedingung signifikant häufiger Gymnasialempfehlungen als Schüler mit deutsch klingendem Namen. Die Lehrkräfte schienen also Schüler mit türkisch klingendem Namen stärker anhand der Noten zu beurteilen, während die Noten bei den Schülern mit deutsch klingendem Namen oft eine geringere Rolle spielten. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass hier eher automatisierte Urteile getroffen werden, die zu einer Unterschätzung dieser Schüler führen, da die schlechteren Leistungen zu den negativen Stereotypen über Schüler mit Migrationshintergrund passten. Ob dies tatsächlich so ist, sollte eine weitere Studie (Tobisch & Dresel, 2017) beantworten.
Werden Schüler ohne Migrationshintergrund überschätzt?
Tobisch und Dresel (2017) verwendeten ebenfalls Schülerbeschreibungen in Form von Grundschulzeugnissen. Die Zeugnisse beschrieben drei männliche Grundschüler mit eher guten Leistungen. Durch die Vornamen der Schüler wurde sowohl der Migrationshintergrund (deutsch vs. türkisch) – und bei den Schülern ohne Migrationshintergrund – auch der soziale Status (niedrig vs. hoch) variiert (siehe auch Hoenig & Wenz, 2013). Insgesamt wurden also drei identische Schülerbeschreibungen erstellt, wobei ein Zeugnis mit dem Namen Murat (prototypisch für türkischen Migrationshintergrund und niedrigen sozialen Status), ein Zeugnis mit dem Namen Julius (kein Migrationshintergrund und hoher sozialer Status) und ein Zeugnis mit dem Namen Justin (kein Migrationshintergrund und niedriger sozialer Status) versehen wurde. Da türkische Vornamen meist mit einem niedrigen sozioökonomischen Status in Verbindung gebracht werden, wurde kein türkischer Vorname mit hohem Status in der Studie genutzt.
In dieser Studie sollten Grundschullehrkräfte nach dem Lesen der Schülerbeschreibung die schulischen Fähigkeiten, der Anstrengungsbereitschaft sowie der Eignung für das Gymnasium für jeweils einen der drei Schüler einschätzen. Außerdem gaben die Lehrkräfte ihre Leistungserwartung für die Fächer Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht an.
Die Ergebnisse dieser Studie waren folgende: Der Schüler mit türkischem Namen (Murat) wurde trotz gleicher Leistungen und Verhaltensweisen im Durchschnitt als weniger geeignet für den Gymnasialbesuch bewertet als die beiden anderen Schüler. Zudem wurden ihm im Mittel geringere schulische Fähigkeiten sowie weniger Anstrengungsbereitschaft zugeschrieben, und die Lehrkräfte erwarteten von ihm geringe Leistungen in den abgefragten Schulfächern. Bei den Schülern ohne Migrationshintergrund (Julius und Justin) zeigte sich ein Effekt des sozialen Status: Justin (niedriger sozialer Status) wurde durchschnittlich schlechter bewertet als Julius (hoher sozialer Status). Die Schülerbeschreibungen dieser Studie enthielten tendenziell gute Leistungen, was sich eher mit Stereotypen über Schüler ohne Migrationshintergrund und hohem Status im Vergleich zu Schülern mit türkischem Migrationshintergrund und niedrigem Status deckt.
Ein Vergleich der Noten aus den Schülerbeschreibungen mit den Erwartungen der Lehrkräfte an zukünftige Noten der Schüler zeigte, dass die befragten Lehrkräfte bei dem Schüler ohne Migrationshintergrund und hohem sozialen Status im Mittel deutlich bessere Leistungen erwarteten als diese bisher hatten. Dieses Ergebnis spricht für eine stereotypengeleitete bzw. automatisiertere Urteilsbildung bei Schülern ohne Migrationshintergrund, an die offenbar hohe Erwartungen geknüpft wurden. Im Gegensatz dazu orientierten sich die Leistungserwartungen der Lehrkräfte an Schüler mit Migrationshintergrund sehr genau an ihren tatsächlichen Leistungen. Dieser Befund deutet darauf hin, dass es sich hierbei um keine verzerrte bzw. stereotypengeleitete, sondern eher um eine akkurate bzw. kontrolliertere Urteilsbildung handelt. Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel anzunehmen, dass sich herkunftsbedingte Unterschiede weniger durch negative Stereotype gegenüber Schülern mit Migrationshintergrund, sondern vielmehr durch positive Stereotype gegenüber Schülern ohne Migrationshintergrund erklären lassen.
Ob sich die akkurateren Urteile für Schüler mit Migrationshintergrund und die Überschätzung von Schülern ohne Migrationshintergrund (v. a. bei solchen mit hohem sozialem Status) tatsächlich durch unterschiedliche Urteilsbildungsprozesse erklären lassen, wurde in einer weiteren Studie untersucht (Tobisch & Dresel, in prep.). Dazu wurde der Pupillendurchmesser von Lehramtsstudierenden beim Lesen der bereits zuvor eingesetzten Schülerbeschreibungen mit einem sogenannten Eye-Tracker erfasst. Es wurde untersucht, ob sich der Durchmesser beim Lesen der Zeugnisse in Abhängigkeit der Schülerherkunft unterscheidet. Eine erweiterte Pupille kann dabei als Zeichen für eine Erregung des Nervensystems angesehen werden. Angenommen wird, dass dies v. a. bei einer vertieften Informationsverarbeitung der Fall ist. Die Studie zeigte, dass beim Lesen der Beschreibungen des Schülers mit Migrationshintergrund die Pupillen der Lehramtsstudieren erweitert waren, während sie beim Lesen der Beschreibung des Schülers ohne Migrationshintergrund und mit hohem sozialen Status enger waren. Die erweiterte Pupille beim Lesen der Zeugnisse von Kindern mit Migrationshintergrund deutet auf eine tiefere Informationsverarbeitung hin. Dies könnte daran liegen, dass Lehrkräfte bemüht sind, nicht stereotypengeleitet zu urteilen und sich die Zeugnisinformationen genauer ansehen und kontrollierter verarbeiten. Der engere Pupillendurchmesser beim Lesen des Zeugnisses des Schülers ohne Migrationshintergrund und mit hohem sozialen Status könnte ein Hinweis für eine eher oberflächlichere Informationsverarbeitung sein, die sich eher an Stereotypen orientiert und entsprechend automatisierter ist.
Diese Befunde stehen also im Einklang mit der Annahme, dass sich positive Urteilsverzerrungen bei der Beurteilung von Schülern ohne Migrationshintergrund und hohem sozioökonomischem Status durch positive Stereotype, die mit dieser Schülergruppe verknüpft sind, erklären lassen.
Zusammenfassende Diskussion
Die vier hier vorgestellten Studien bestätigen die Vermutung, dass soziale Stereotype gegenüber dem Migrationshintergrund von SchülerInnen Einfluss auf Lehrerurteile haben können. Schüler mit Migrationshintergrund werden im Vergleich zu Schülern ohne Migrationshintergrund (trotz gleicher Leistungen) durchschnittlich schlechter beurteilt. Die Studien zeigen aber auch, dass nicht ausschließlich die deutsche oder türkische Herkunft bedeutsam für verzerrte Lehrkrafturteile ist. Weitere soziale Merkmale, wie die Religionszugehörigkeit oder der sozioökonomische Status, scheinen ebenfalls relevant zu sein. Zudem verweisen die Studien darauf, dass ein (türkischer) Migrationshintergrund der SchülerInnen nicht automatisch zu negativ verzerrten Urteilen führt. Einerseits erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit für eine Gymnasialempfehlung bei Schülern mit türkischen Vornamen bei guten Leistungen und einer positiven Leistungsentwicklung. Andererseits zeigte sich bei guten Leistungen, dass Schüler mit türkischer Herkunft zudem meist akkurat eingeschätzt wurden. Dies könnte ein Hinweis dafür sein, dass Lehrkräfte die Informationen dieser Schüler oftmals sehr genau verarbeiten und womöglich bemüht sind, sie nicht negativ zu bewerten. Denkbar wäre aber auch, dass die guten Leistungen nicht zum stereotypen Bild eines Schülers mit Migrationshintergrund passen und sie daher überrascht sind und die Informationen genauer Lesen um zu prüfen ob der Schüler wirklich so gut ist. Allerdings gilt dies nur dann, wenn die Leistungen der Schüler (entgegen den gängigen negativen Stereotypen gegenüber dieser sozialen Gruppe) gut sind. Für Schüler ohne Migrationshintergrund, insbesondere mit hohem sozioökonomischem Status, verweisen die Befunde hingegen auf positive Stereotype, die zu positiv verzerrten Lehrkrafturteilen bzw. zu einer Überschätzung der Leistung des Schülers führen können. Daraus resultieren letztlich dennoch Unterschiede in der Leistungsbeurteilung, die mit den verbreiteten negativen Stereotypen gegenüber Personen mit Migrationshintergrund und niedrigem sozioökonomischem Status korrespondieren.
Implikationen für die Praxis und offene Fragen
Nicht nur negative Stereotype gegenüber SchülerInnen mit Migrationshintergrund (v. a. in der Kombination mit weiteren Schülermerkmalen wie der Religionszugehörigkeit), sondern auch positive Stereotype gegenüber SchülerInnen ohne Migrationshintergrund (v. a. mit einem hohen sozialen Status) können trotz gleicher Leistungen zu Urteilsverzerrungen führen und damit herkunftsbedingte Unterschiede im Bildungssystem verstärken. Um zu gerechten und herkunftsunabhängigen Lehrerurteilen zu kommen, ist diese Information besonders wichtig, da es nicht ausreicht, negative Stereotype zu reflektieren und abzubauen, sondern auch positive Stereotype im Lehrkraftalltag berücksichtigt werden müssen. Lehrkräfte sollten sich demensprechend nicht nur ihrer negativen, sondern auch ihrer positiven Stereotype bewusstwerden und diese reflektieren. Unklar ist jedoch, inwiefern sich die Befunde der hier vorgestellten experimentellen Studien auf den schulischen Alltag übertragen lassen und welche weiteren Einflussfaktoren dabei relevant sein könnten. Um dies herauszufinden, sind weitere Untersuchungen notwendig, die „im Feld“, also in realen Schulklassen stattfinden. Auch wenn derartige „Feld-Experimente“ auch aufgrund von ethischen Erwägungen nicht unproblematisch sind, lieferten Feldstudien, in denen Zusammenhänge zwischen Schülermerkmalen und Lehrerurteilen untersucht wurden, bereits wertvolle Hinweise und stehen größtenteils im Einklang mit den hier berichteten Befunden (z. B. Klapproth, Glock, Krolak-Schwerdt, Martin & Böhmer, 2013).
Da in allen hier berichteten Studien ausschließlich männliche Schüler berücksichtigt wurden, sollte ebenfalls in zukünftigen Studien untersucht werden, ob der Migrationshintergrund auch bei Mädchen zu verzerrten Lehrerurteilen führt. Es liegen Hinweise darauf vor, dass die Effekte des Migrationshintergrunds und des sozialen Status bei Mädchen tendenziell geringer ausgeprägt sind als bei Jungen (Sidanius & Veniegas, 2000).
Literaturvereichnis
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1 In den hier vorgestellten Studien wurden ausschließlich Fallvignetten männlicher Schüler eingesetzt, weshalb nur die männliche Schreibweise genutzt wird.