Besuchen Sie Europa, solange es noch steht: Zur Frage europäischer Identität in Zeiten der Krise.
Europa, so der Anschein nach Jahren der Wirtschaftskrise und des Aufschwungs nationalistischer Parteien, steht vor dem aus. Statt eines gemeinsamen Miteinanders im europäischen Rahmen stehen nunmehr negative Emotionen und Ressentiments, z.B. zwischen den "faulen Griechen" und "deutschen Sparnazis", im Vordergrund. Der folgende Artikel zeichnet anhand psychologischer Theorie und Forschung nach, wie sich dieser Konflikt verstehen lässt und argumentiert, wie Europa vielleicht doch noch zu retten wäre.
Paul Lecroix sagte im 19. Jahrhundert zur Einigung Europas, sie gleiche „[…] dem Versuch, ein Omelett zu backen, ohne Eier zu zerschlagen.“ Auch wenn es im Sommer 2013 zunächst wieder stiller geworden ist um die „Eurokrise“, sind in deren Verlauf einige Eier zerschlagen worden und die Folgen sind nach wie vor deutlich spürbar. Die Verwerfungen seit Beginn der Krise 2009, so zumindest der aktuelle Eindruck, haben das Projekt Europa deutlich angeschlagen. Es ist unklar, ob selbst eine ausgestandene Krise die Wogen glätten wird und die Beziehungen innerhalb Europas wieder verbessert. Staatsverschuldungen und drohender Bankrott auf der einen und angewiesene Sparpolitik, zu tilgende Kredite und die Furcht, die Krise könnte vom außen- zum innenpolitischen Problem werden auf der anderen Seite, dominieren die Berichterstattung. Flankiert wurde diese von der Empörung darüber, die Schulden vermeintlich „fauler Griechen“ und „gieriger Banker“ zahlen zu dürfen bzw. von der Wut auf den als deutsch, autoritär wahrgenommenen Sparzwang und entsprechender Karikaturen Angela Merkels als Schulden-Nazi. Wie existentiell bedrohlich die Situation für Betroffene in den entsprechenden Ländern ist, bedarf kaum einer Erklärung, wenn einige Menschen sich in Ermangelung des Geldes für Strom, Heizung und Gesundheitsversorgung bereits sprichwörtlich zu Tode gespart haben. Diese Situation scheint sich letztlich dadurch zu verschärfen, dass innerhalb der verschiedenen Nationen Europas unterschiedliche Vorstellungen davon vorherrschen, was „Europa“ ausmacht bzw. ausmachen sollte und welche Werte und Eigenschaften von besonderer Bedeutung sind.
Dabei scheint es, als führe die Krise zu verstärktem Nationalismus, sowohl in krisengebeutelten als auch in solventeren Ländern der Eurozone. So gewinnen radikale und nationalistische Parteien zunehmend an Popularität, der Einfluss rechtsgerichteter Parteien besonders in Griechenland („Goldene Morgenröte“) aber auch Ungarn („Jobbik“, ein Wortspiel mit dem von ungarisch „job“, welches „gut“ aber auch „rechts“ bedeutet, sinngemäß also die „Gute/Rechte Partei“) und anderen europäischen Ländern (vgl. Bartlett & Birdwell, 2011) ist seit Beginn der Krise gewachsen. In Deutschland geht im Sommer 2013 die „Alternative für Deutschland“ mit anti-Europäischen Slogans auf Stimmenfang und hatte wenige Wochen vor der deutschen Bundestagswahl bereits eine potentielle Wählerschaft von bis zu 3% der Stimmberechtigten (vgl. z.B. forsa.de, infratest-dimap.de).
Derartige Formen von Nationalismus erschweren es, eine europäische Einheit zu beschwören. Lassen sich die aktuellen Entwicklungen also einzig aus dem realen oder befürchteten wirtschaftlichen Zusammenbruch, der „Eurokrise“, erklären? Was treibt politisches Denken hin zur Nation und ist darin der innereuropäische Konflikt bereits angelegt? Optimistischer gefragt, wie ließen sich Handlungsräume, die das Projekt Europa und ein europäisches oder gar übereuropäisches Miteinander ermöglichen, stärken? Auf diese Fragen will der folgende Artikel zumindest erste Antworten und Denkanstöße geben. Dazu wird im Folgenden dargelegt, wie und warum wir uns mit Gruppen, und Nationen im Besonderen identifizieren, wie es zu Konflikten zwischen Gruppen kommen kann, und welche Fallstricke mit einer europäischen Identität verbunden sind. Wie es gelingen kann, nationale Identitäten in einer gemeinsamen Europäischen Identität aufgehen zu lassen soll ebenso erörtert werden. Schließlich sollen Denkanstöße gegeben werden, die zu einem gemeinsamen, solidarischen Europa beitragen können.
Ressourcenkonflikte: Beim Geld hört die Freundschaft auf.
Das offensichtlichste Problem der derzeitigen Eurokrise scheint die ungleich verteilten Rollen von Ländern in Schuldnerposition und deren Gläubiger und/oder Retter zu betreffen. Die Annahme, dass eine derart ungleich verteilte Ressourcenlage Konflikte zwischen Gruppen befeuert, ist nicht neu. Wissenschaftlich untersucht und bestätigt wurde sie bereits vor rund 60 Jahren von Muzafer Sherif (1961) in einer der einflussreichsten sozialpsychologischen Feldstudien. In seinen „Ferienlagerstudien“ entwickelten Gruppen von Schuljungen, die vorher nichts miteinander zu tun hatten und zuerst in getrennten Zeltlagern untergebracht waren, tiefe Animositäten, einzig aufgrund künstlich herbeigeführter Wettstreitsituationen in denen ein Gewinn der einen Seite den Verlust für die andere bedeutete (z.B. Wettkämpfe gegeneinander, bei der nur eine Gruppe Preise gewinnen konnte). Auch wenn europäische Politik wenig mit Schuljungen zu tun hat, ist offensichtlich, dass die angehäuften Staats- und Bankenschulden sowie die anstehenden Ausgaben der Staatshaushalte einen derartigen Ressourcenkonflikt beinhalten, der nur schwer zu lösen scheint: Eine Gruppe von Staaten verfügt über reichlich Ressourcen und die Möglichkeit, günstig an weitere zu kommen (z.B. über die Finanzmärkte). Die andere Gruppe hingegen ist bereits finanziell angeschlagen, und kann sich aus eigener Kraft kaum mehr retten. Inwiefern die derzeitige, von einigen Ländern vorgeschlagene Austeritätspolitik – „das Spardiktat“ – für die krisengebeutelten Länder den europäischen Gedanken oder gar eine europäische Identität fördert ist fragwürdig.
Hier kann man sich freilich fragen: „Was ist eigentlich eine europäische Identität?“. Die aktuelle Berichterstattung legt nahe, dass es beim aktuellen Konflikt um mehr geht als nur die innereuropäische Verteilung von Ressourcen. Die auf der darunterliegenden, nationalen Ebene angesiedelten Vorstellungen darüber, was es eigentlich heißt „europäisch“ zu sein und um welche Werte es gehen sollte, können die Konflikte anfeuern und dominieren. Wieso allerdings treten ausgerechnet nationale Identitäten in diesem Zusammenhang in den Vordergrund anstatt einer gemeinsamen, europäischen Identität?
Deutsche, Griechen oder Europäer/innen?
Frühere Vorstellungen in der Psychologie darüber, was eine Gruppenidentität ausmacht und welche Identität in einer bestimmten Situation relevant ist, an die eingangs erwähnten Ferienlagerstudien angeknüpft. Tajfel und Kollegen zweifelten daran, dass einzig der Wettbewerb um knappe Ressourcen Gruppen gegeneinander handeln lässt (Tajfel, Billig, Bundy & Flemming, 1971). Um dies zu belegen, führten sie eine Reihe von Laborstudien durch – die sogenannten Minimalgruppen-Studien. In diesen Studien wurden unter anderem Schulkinder völlig willkürlich in 2 verschiedene Gruppen aufgeteilt. Dann sollten sie zwischen Mitgliedern der eigenen und der fremden Gruppe Punkte verteilen. Dabei konnten die Punkte derart verteilt werden, dass die eigene oder die fremde Gruppe in verschiedenem Ausmaß profitieren konnte (nicht aber die einzelnen Mitglieder, die die Punkte verteilten). Was die Forscher besonders erstaunte, war, dass sich Schulkinder wie auch Erwachsene selbst dann von einer anderen Gruppe abgrenzten, wenn es für sie persönlich nichts zu gewinnen gab, oder sogar, wenn es für die eigene Gruppe einen Verlust bedeutete. Alleine Mitglied einer Gruppe zu sein, schien bereits so bedeutend, dass es zu einer gezielten Abgrenzung kam.
Tajfel und Kollegen erklärten dies dadurch, dass Gruppenmitgliedschaft zentral für unsere Identität ist: So geben uns relevante Gruppen Halt, helfen dabei, dass wir uns in unserer sozialen Umwelt zurechtzufinden und erlauben uns, dass wir uns von anderen Gruppen positiv abgrenzen können (siehe auch Brewer, 1991). Folglich handeln wir unter bestimmten Voraussetzungen – etwa im direkten Intergruppenvergleich – im Sinne dieser Gruppe. Dies gilt insbesondere für jene Gruppen, denen wir uns emotional verbunden fühlen (d.h. mit denen wir uns identifizieren) und die auf einer „wichtigen Vergleichsdimension“ anderen Gruppen gegenüber überlegen sind. Auch wenn dies erst einmal klingen mag, als wären Gruppen in sich bereits Quelle der Diskriminierung, so steckt der Teufel, wie so oft, im Detail: Denn schließlich hängt das Verhalten zu anderen Gruppen auch davon ab, wie relevant diese für die eigene Gruppe sind, ob sie sich in auf wichtigen Dimensionen ähnlich sind, oder ob sich Gruppen als Teil „eines Ganzen“ wahrnehmen und gemeinsame Ziele verfolgen.
Theoretisch können sich Menschen auf jeder Ebene miteinander verbunden fühlen, mit einer Gruppe identifizieren – sei es mit dem lokalen Stammtisch, mit einer Nation, mit Europa oder mit der gesamten Menschheit. Wichtig ist, dass diese Gruppe in einem bedeutenden Bereich im Vergleich zu einer anderen Gruppe besser abschneidet (Tajfel, 1974). Was hier „bedeutend“ ist und was nicht, hängt von der jeweiligen Vergleichsgruppe und der sozialen Situation ab. So könnte der Stammtisch zur Rettung des „Pfälzer Auerhahns“ seine Gruppenidentität dadurch stärken, dass seine Mitglieder sich im Vergleich zum Stammtisch „Autobahn statt Auerhahn“ als empathischer, naturbesorgter und tierfreundlicher sehen. Ein Vergleich mit dem Stammtisch „Schwaben raus aus Berlin“ wäre für den Auerhahn-Stammtisch weniger relevant, so dass hier kein Vergleich zur Verbesserung der Gruppenidentität stattfinden würde. Auch ein eher nach sozialem Zusammenhalt strebendes „Wir sind sozialer und solidarischer als andere Gruppen“ ist eine denkbare Vergleichsdimension, sowohl für den Auerhahn-Stammtisch, aber auch für Europa. Denn ein Fokus auf soziale und solidarische Werte könnte eine Strategie sein, die Europa ermöglichen würde, sich von anderen Kontinenten oder Staatenverbünden abzugrenzen.
Was wären die (sozial)psychologischen Konsequenzen dieser Möglichkeiten? Zum einen ist die Frage, ob sich die Versorgung der eigenen Bürgerinnen und Bürger mit sozialen, medizinischen, kulturellen und materiellen Gütern und Einrichtungen sicherstellen lässt, direkt mit der politischen und wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit von Nationen verknüpft. Der Vergleich mit anderen Nationen auf der Ebene wirtschaftlichen Erfolgs drängt sich also nahezu auf. Zum anderen sind Nationen für die meisten Menschen wesentlich näher und alltäglicher als das abstrakte „Europa“ (vgl. Billig, 1995). Wenn also eine positive Soziale Identität wichtiger Vergleichsdimensionen und –gruppen bedarf, sind wir auf nationaler Ebene mit diesen schlicht vertrauter und können leichter auf Stereotype über „uns“ und „andere Länder“ zugreifen. Sprich, es mag für Deutsche einfacher sein, sich auf die klassischen deutschen Tugenden wie Fleiß und Disziplin zu berufen und sich damit von vermeintlich faulen und korrupten Griechen abzugrenzen, anstatt gemeinsame und abstraktere Europäische Werte wie Freiheit, Solidarität und Kooperation zu leben.
Diese nationalen Vorstellungen stehen mit einem weiterem Punkt sozialer Identifikation in Beziehung: dem Binnenverhältnis der eigenen Gruppe verglichen mit einer anderen Gruppe. Nur dann, wenn die Unterschiede zwischen den Gruppen größer sind, als die Unterschiede innerhalb der eigenen Gruppe (vgl. Turner et al., 1987), ergibt es Sinn, die eigene Gruppe überhaupt als attraktiv wahrzunehmen. Sind bedeutende Unterschiede innerhalb der eigenen Gruppe vorhanden, bleibt nur die Möglichkeit diese Unterschiede auszugleichen oder Abweichungen abzustrafen (siehe etwa Arbeiten zum Black Sheep Effect; Reese, 2010). Findet sich also im besagten Auerhahnstammtisch ein Mitglied, das zum Buffet der Vollversammlung Auerhähnchenbrustfilets beisteuert, so ist davon auszugehen, dass dieser Normbruch von der Gruppe bestraft wird. Etwa, indem das Mitglied vor versammelter Mannschaft gescholten oder aus der Gruppe ausgeschlossen wird. Oder aber, es wird dem solidarischen Gedanken des Auerhahnstammtisches folgend reintegriert, so dass alle Mitglieder wieder „auf Linie“ sind. Übertragen auf den Fall Europa bieten sich die gleichen Möglichkeiten: Entweder ein von der europäischen Idee und Gesetzgebung abweichendes Mitglied wird öffentlich gescholten, ausgeschlossen (bisher gab es nur Drohungen des Ausschlusses aus dem Europäischen Währungsraum) oder aber reintegriert. So steht Europa offensichtlich vor der Entscheidung, ob es ein gemeinsames europäisches Miteinander herzustellen gedenkt, das auch vermeintliche Außenseiter und Abweichler ins Boot zurückholt, oder aber ein europäisches Konglomerat einzelner auf sich selbst fokussierte Nationen zu schaffen, das durch gegenseitiges Misstrauen geprägt ist.
Zum Scheitern zu groß?
Relevant wird die Frage der Identität besonders dann, wenn es darum geht, komplexere Identitäten zu gestalten. Kann es, gegeben ausgeprägter Nationalismen, gelingen, eine „europäische Identität“ zu entwickeln, in der alle europäischen Nationen aufgehen können? Wie würde sich eine derart abstrakte und vielfältige Identität vertragen mit weniger komplexen regionalen oder nationalen Identitäten? Während Gaertner und Dovidio (2000) davon ausgehen, dass es ausreicht eine gemeinsame Gruppierung als Identität zu aktivieren, indem man diese präsenter macht („Wir sind alle Europa!“), weisen Wenzel und Kolleg/innen (2007) darauf hin, dass sich gerade in diesen nächsthöheren Identifikationsebenen Konflikte häufen. Nach Annahme des sogenannten Eigengruppen-Projektions-Modells vergleichen sich Gruppen immer im Vergleich zu einer größeren, übergeordneten Gruppe, der als Bezugsrahmen wahrgenommen wird. Jede Gruppe legt dabei die eigenen Werte, Normen und Vorstellungen an die größere Gruppe an und wertet andere Gruppen dann ab, wenn diese dem „projizierten“ Standard nicht entsprechen. Aus diesen Gründen ist das Szenario einer „übergeordneten Europäischen Identität“ eher kritisch zu betrachten. Für die eine Gruppe geht der europäische Rahmen damit möglicherweise damit einher, auf der Verliererseite zu stehen und im Zweifel von „den anderen“ diszipliniert zu werden. Für die andere Gruppe bedeutet das europäische Miteinander, eine ganze Untergruppe im Boot zu haben, die sich nicht an die (natürlich durch sie definierten) Normen halten mag, und damit gemeinsame Ressourcen verschleudert und mitgezogen werden muss. Bezogen auf die derzeitige Situation würde das Eigengruppen-Projektions-Modell also vorhersagen, dass die Abwertung und Abstrafung der Griechen ( Fremdgruppe) durch die Deutschen ( Eigengruppe) dadurch zustande kommt, dass die Griechen als stark abweichend von dem gesehen werden, was Europa (übergeordnete Gruppe) aus Sicht der Deutschen ausmachen sollte. Plakativ formuliert: Wenn die Griechen nicht sparsam und arbeitswütig sind wie die Deutschen (und wie alle Europäer es sein sollten!), dann ist es kaum verwunderlich, dass es den Griechen so schlecht geht – was wiederum legitimiert, diese abzustrafen. Die dadurch entstehende vermeintliche „Arroganz der Deutschen“, die alles am eigenen Sparverständnis misst, ist aus Sicht der abgewerteten Hellenen und anderer Länder, die dem Germano-Europäischen Spardiktat unterliegen, wenig überraschend.
In einem derart negativen Gesamtzusammenhang scheint ein gemeinsamer positiver Bezug auf Europa schwerlich aufrechtzuerhalten. Die zugrundeliegenden Kategorien „Deutschland“ bzw. „Griechenland“ werden zum attraktiven Fluchtpunkt. Auf dem nationalen Vergleich kann sich die eine Gruppe über die Vergleichsebene „Arbeitsamkeit“ von der anderen Gruppe abgrenzen und die vermeintlich weniger arbeitsamen können die Relevanz der Wirtschaft für sich ablehnen und die eigene Solidarität betonen. Je größer dabei die empfundene Bedrohung – etwa die Bedrohung des eigenen Lebensstandards, der eigenen Werte oder Weltanschauungen –, umso wahrscheinlicher und deutlicher fallen diese Prozesse aus. Das Phänomen im sozialen Vergleich auf die Dimensionen der Kompetenz und des Erfolges (z.B. in Form wirtschaftlicher Leistung) und der Wärme und Liebenswürdigkeit (als Solidarität und Miteinander) zurückzugreifen ist nicht unüblich (Cuddy, Fiske & Glick, 2008). So lehnte es beispielsweise vor einigen Jahren ein Teil der ostdeutschen Bevölkerung ab, im innerdeutschen Vergleich einzig auf wirtschaftliche Erfolge, insbesondere Westdeutschlands, als wichtigstes Element zu fokussieren (Mummendey, Klink, Mielke, Wenzel & Blanz, 1999). Wenn also allerorts die Bedrohungen der Krise als Problem der Gesamtgruppe Europa gedeutet werden und die Suche nach den Schuldigen und Sündenböcken an der Messlatte der eigenen nationalen Werte und Überzeugungen geschieht, ist kaum ein anderes Ergebnis möglich als Reibungen und Kränkungen. Des einen Stolz ist des anderen Vorurteil und neben dem positiven Bild über sich selbst stehen allzu oft die „Spottbilder“ der anderen. Je subjektiv bedrohlicher dieser Zusammenhang wird, sprich, je gefährlicher die Krise erscheint, umso wahrscheinlicher, dass über diese Vergleiche versucht wird (zumindest) ein positives Bild von sich selbst retten zu können.
Wege aus dem Scheitern?
Kann das Projekt Europa also nur scheitern? Zeigen die oben formulierten sozialpsychologischen Befunde, dass nationales Denken unausweichlich ist? Klar ist, dass die Psychologie allein in einem gesellschaftlichen Umfeld, das durch politische und wirtschaftliche Entscheidungen geführt wird wenig ausrichten kann, um der Idee eines geeinten Europas eine neue Chance zu geben. Allerdings gibt es Befunde, die hoffen lassen.
Auf Ebene des Ressourcenkonflikts legen die eingangs erwähnten Ferienlagerstudien von Sherif nahe, dass eine gemeinsame europäische Aufgabe gefunden werden sollte. So war es in den Ferienlagerstudien ein gemeinsamer Kraftakt, der die zunächst verfeindeten Schülergruppen aussöhnte und vereinte. Die Jugendlichen mussten gemeinsam ein Problem in der Trinkwasserversorgung lösen, das keine Gruppe allein hätte lösen können. Ähnliches könnte den europäischen Gedanken neu beflügeln: Ein Problem, das ganz Europa betrifft, und nur durch gemeinsame Anstrengung seiner Nationen gelöst werden kann, könnte die europäischen Nationen stärker vereinen. So könnte etwa das länderübergreifende Problem der „Umweltkrise“ ein gemeinsames „Projekt umweltfreundlicheres Europa“ forcieren bei dem neben dem praktischen Nutzen auch ein gemeinsames „wir EuropäerInnen haben das gemeinsam geschafft“- Gefühl entstehen könnte. Wie könnte das jedoch – gegeben der unterschiedlichen Wertvorstellungen auf nationaler Ebene – gelingen?
Das oben genannte Eigengruppen-Projektions-Modell etwa schlägt vor, das Bild der übergeordneten Gruppe derart komplex auszugestalten, dass es nicht möglich ist, einen spezifischen, bzw. den jeweils eigenen, Wertemaßstab anzulegen. So haben Studien zu dieser Vorhersage gezeigt, dass Einstellungen gegenüber Fremdgruppen verbessert werden konnten. Für den Europäischen Zusammenhalt bedeutet dies, dass eine komplexe und diverse, sprich, eine vielfältige Wahrnehmung Europas helfen könnte, Ressentiments abzubauen. Der Weg in die Vielfalt ist hierbei in der Geschichte Europas und seiner Nationen bereits angelegt. Würde man das Rad der Zeit nur um einige hundert Jahre zurückdrehen, fände man weniger klar abgegrenzte Nationen und ein geschlossenes Europa, sondern einen bunten Flickenteppich aus verschiedenen Gruppierungen und Gebieten. Diese standen nicht nur in regem wirtschaftlichem und kulturellem Austausch, sondern ließen sich auch von nicht-europäischen Einflüssen, wie dem osmanischen Reich oder China anregen. Dieser multi- oder polykulturelle (Rosenthal & Levi, 2010) Ursprung wäre ein Weg Europa, als „schon seit jeher vielfältig“ darzustellen. Auch bedeutet europäische Vielfalt nicht, dass die Relevanz der eigenen Gruppe geschmälert ist. Confino (1997) verdeutlicht dies am Beispiel der „Heimat“ für Deutschland. Lokale und regionale Eigenheiten und Errungenschaften werden einerseits wertgeschätzt oder gar in eigenen Heimatmuseen präsentiert und bleiben nicht trotz, sondern weil sie zur Nation als Ganzes beitragen erhalten. So können sich Sachsen und NiedersächsInnen, ebenso wie HamburgerInnen und Baden ihre lokale und nationale Identität aufrechterhalten. Auf europäischer Ebene wäre eine reine Geschichtsstunde sicher nicht ausreichend, aber sie bilden eine Grundlage um dann die verschiedenen Untergruppen in einem gemeinsamen Projekt zusammenzuführen. Tatsächlich wäre es jedoch zielführend, diese Komplexität Europas auf institutioneller Ebene in die öffentliche Wahrnehmung zu steuern – etwa, in dem die europäische Identität in seiner Vielfalt in Bildung und Administration expliziert wird, oder verstärkt über die Medien vermittelt wird, wie komplex und vielfältig Europa doch ist. Dazu wäre es auch nötig, auf politischer Ebene zu einer Stärkung des europäischen Gedankens beizutragen. So schlagen Batalha und Reynolds (2012) etwa vor, dass politische Entscheidungsträger durch Festlegung auf gemeinsame Subgruppeninteressen eine übergeordnete Identität schaffen können, die dann wiederum zielgerichtete Handlungen ermöglicht.
Wie lang wird Europa also noch stehen? Diese Frage können wir nicht beantworten. Klar scheint nur, dass die derzeitige Krise einen giftigen Nährboden bietet, der Nationalismen fördert und den Gedanken einer gemeinsamen, europäischen Zukunft hemmt. Die gemeinsamen Werte Europas zu betonen und gleichzeitig die Vielfalt anzuerkennen könnte helfen, Europa (wieder) zu solidarisieren.
Literaturverzeichnis
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