Wenn Musik nach Zitrone schmeckt

Es klingt sehr ungewöhnlich, aber für viele Menschen ist es ganz alltäglich: Sobald eine Melodie ertönt, hören sie diese nicht nur - nein - sie schmecken sie auch. Andere sehen Buchstaben nicht nur in den uns bekannten Formen, sondern auch in einer ganz bestimmten Farbe. Ein süß-saures Lied, ein farbenfrohes Alphabet, ganz normal – und ungefährlich. Vermischen sich zwei oder mehrere Sinneseindrücke nennt man das Synästhesie. Doch was genau passiert dabei im Gehirn? Und warum sind manche Menschen betroffen und andere nicht?

 

Lisa ist 10 Jahre alt. Sie geht gerne zur Schule. Sie mag Mathematik, aber sie liebt den Musikunterricht, da „schmeckt es immer so lecker“. Tims Lieblingsfach ist Sport, aber Deutsch mag er genauso gerne. Beim Lesen „sind die Buchstaben immer so farbenfroh, das ist großartig! Das ‚A‘ mag ich am liebsten, das hat so ein warmes Gelb“. Elsa dagegen liebt das Wochenende, besonders den Sonntag, denn der ist Rot und Rot ist ihre Lieblingsfarbe. 

Kommt euch das bekannt vor? Dann gehört ihr vielleicht zu den 4 % aller Menschen, also vier von 100 Menschen, die die Welt ganz besonders erleben können. Falls ihr jedoch bei diesem Abschnitt stutzen müsst und ihn vielleicht sogar ein weiteres Mal gelesen habt, gehört ihr mit großer Wahrscheinlichkeit zu den restlichen 96 % der Menschen auf dieser Welt, die noch nie einen Ton geschmeckt oder beim Lesen eines Textes eine wahre Farbexplosion erlebt haben. Diese besondere Wahrnehmung ist nämlich ziemlich selten (Simner et al., 2006*).

Lisa, Tim und Elsa gehören auch zu diesen 4 %. Bei ihnen vermischen sich verschiedene Sinneseindrücke wie Hören, Sehen und Schmecken miteinander: bei Lisa führt das Hören von bestimmten Tönen und Musik zum Beispiel zu einem sauren Geschmack, bei Tim besitzen einige Buchstaben und Zahlen eine ganz bestimmte Farbe. Das A erscheint vor seinen Augen in einem warmen Gelb, das T in einem satten Grün und die Zahl 3 sieht Tim in Orange. Bei Elsa sind die Wochentage bunt und jeder Tag erscheint in einem eigenen Farbton.

Bild 1: Musik die nach Zitrone schmeckt, bunte Wochentage und Buchstaben – die Synästhesie ist vielfältigBild 1: Musik die nach Zitrone schmeckt, bunte Wochentage und Buchstaben – die Synästhesie ist vielfältig

In manchen Familien kommt diese Vermischung der Sinneseindrücke gehäuft vor, sodass WissenschaftlerInnen davon ausgehen, dass dieses Phänomen vererbt wird. So berichtete auch Elsas Tante auf einer Familienfeier am Samstag (aus Elsas Sicht ganz klar ein orangener Tag) von bunten Wochentagen und ganz besonders vom grauen Montag.

Doch warum ist das so? Warum sehen die meisten von euch beim Lesen dieses Textes schwarze Buchstaben auf weißem Hintergrund und manche erleben ein farbenfrohes Schauspiel?  Da sind sich die WissenschaflterInnen selbst heute noch nicht hundertprozentig sicher. Doch lasst uns trotzdem auf Spurensuche gehen und eine kleine Zeitreise unternehmen.

Spurensuche im Gehirn

Schon lange sind WissenschaftlerInnen diesem besonderen Erleben auf der Spur. Vor über 150 Jahren suchte der französische Neurophysiologie Alfred Vulpian nach einem Begriff, um dieses Empfinden zu beschreiben und wählte dafür den Begriff Synästhesie.

Wie viele wissenschaftliche Fachwörter, stammt auch das Wort Synästhesie aus dem Altgriechischen. Es besteht aus dem Wörtern syn, das bedeutet „zusammen“, und aisthesis, das bedeutet „Empfinden“ – zusammen Empfinden.  Dies beschreibt damit ziemlich treffend das, was Lisa, Tim und Elsa beschreiben: das gemeinsame Empfinden mehrerer Sinne gleichzeitig. Auch schon früher waren die Menschen gebannt von dieser beeindruckenden Sinneswahrnehmung. Doch das Erforschen der Synästhesie war zu diesem Zeitpunkt sehr schwierig. Die Empfindungen der SynästhetikerInnen, also Menschen mit Synästhesie, waren zu individuell verschieden und es gab keine gute Methode, um die Synästhesie im Gehirn zu untersuchen. So pausierte die Erforschung der Synästhesie kurzzeitig, nicht aber die Faszination für diese besonderen Sinnesvermischungen.

Mit der Magnetresonanztomographie, besser bekannt als MRT, bekam die Forschung aber vor ca. 30 Jahren neuen Schwung. Plötzlich war es möglich, das lebendige Gehirn ganz unkompliziert und in Aktion zu untersuchen. Dabei kann man sich die Gehirnstruktur, also die Anatomie des Gehirns, im kleinsten Detail anschauen. Außerdem ist es möglich, genau die Regionen im Gehirn herauszufinden, die beim Lösen einer bestimmten Aufgabe aktiv sind. Viele Bereiche in unserem Gehirn sind auf eine ganz bestimmte Funktion spezialisiert. Hier befinden sich sehr viele Gehirnzellen, die Neuronen, dicht zusammengepackt und eng miteinander verbunden. Bei einer bestimmten Funktion, wie zum Beispiel Sprechen, sind sie gemeinsam aktiv. Dabei verbrauchen die Neuronen natürlich Energie und Sauerstoff, genauso wie die Zellen in unseren Muskeln, wenn wir z. B. Seilhüpfen oder zum Schulbus sprinten müssen. Diese Energie und der Sauerstoff gelangen über das Blut zu den Neuronen. Die Neuronen schnappen sich, was sie brauchen und zurück bleiben dann weniger Energie und Sauerstoff. Das Blut mit weniger Sauerstoff sieht dabei etwas anders aus als das Blut mit viel Sauerstoff. Und auch die Eigenschaft eines ganz bestimmten Blutbestandteils, das den Sauerstoff transportierte, hat sich etwas verändert! Dieser Blutbestandteil, das sogenannte Hämoglobin, ist eisenhaltig (der/die ein oder andere erinnert sich sicherlich an den metallischen Geschmack von Blut bei einer kleinen Verletzung). Und Eisen ist magnetisch! Je nachdem ob das Hämoglobin Sauerstoff transportiert oder bereits an aktive fleißige Zellen abgegeben hat, verändert sich seine magnetische Eigenschaft etwas. Und genau diesen Unterschied messen WissenschaftlerInnen im MRT und können genau die Gehirnzellen sichtbar machen, die bei einer ganz bestimmten Funktion aktiv sind.

Ein Neuron enthält dabei Informationen über seine Fortsätze. Diese bezeichnet man als Dendriten und man kann sie sich wie kleine Arme vorstellen. Die Dendriten leiten die Informationen dann über einen weiteren Fortsatz, das sogenannte Axon, zu den Dendriten eines anderen Neurons. Dies passiert nicht nur unter benachbarten Gehirnzellen. Gleichzeitig sind diese Neuronen mit vielen anderen Gehirnzellen auch ganz anderen, zum Teil weit entfernten, Regionen unseres Gehirns verbunden. Diese Verbindungen kann man sich dabei wie eine Art Autobahn vorstellen, über die die Informationen blitzschnell einmal unser Gehirn durchqueren. Sehen wir etwas, zum Beispiel ein Wort in diesem Text, ist dabei ein bestimmter Bereich in unserem Gehirn ganz besonders aktiv. Das gesehene Wort gelangt direkt von unseren Augen über die Sehbahn in den hinteren Teil des Gehirns. Die Neuronen in diesem Bereich sind auf das Sehen spezialisiert. Außerdem muss diese Information an Gehirnzellen weitergegeben werden, die für unser Sprachverständnis wichtig ist. Gleichzeitig wird auch unser Gedächtnis informiert, um zu überprüfen, ob wir dieses Wort und seine Bedeutung bereits kennen.

Es herrscht also ganz schön viel Verkehr in unserem Gehirn, während wir diesen Text lesen. Hörst du währenddessen auch noch Musik sind wiederum weitere Regionen in deinem Gehirn aktiv. Die Information über ein Geräusch oder einen Ton bezeichnen WissenschaftlerInnen als auditiven Reiz. Dieser gelangt in den Temporallappen, einen Bereich unseres Gehirns über unseren Ohren. Und auch diese Information wird über die „Gehirnautobahn“ an viele weitere Gehirnzellen in anderen Regionen weitergeleitetet.

Bild 3: Wo unser Gehirn sieht und hört – spezialisierte Regionen in unserem Gehirn. Das gesehene Wort gelangt direkt von unseren Augen über die Sehbahn in den hinteren Teil des Gehirns. Die Neuronen in diesem Bereich sind auf das Sehen spezialisiert. Die Information über ein Geräusch oder einen Ton bezeichnen WissenschaftlerInnen als auditiven Reiz. Dieser gelangt in den Temporallappen, einen Bereich unseres Gehirns über unseren Ohren Bild 3: Wo unser Gehirn sieht und hört – spezialisierte Regionen in unserem Gehirn. Das gesehene Wort gelangt direkt von unseren Augen über die Sehbahn in den hinteren Teil des Gehirns. Die Neuronen in diesem Bereich sind auf das Sehen spezialisiert. Die Information über ein Geräusch oder einen Ton bezeichnen WissenschaftlerInnen als auditiven Reiz. Dieser gelangt in den Temporallappen, einen Bereich unseres Gehirns über unseren Ohren

So können wir feststellen, ob es sich bei dem Geräusch z. B. um Musik oder Sprache handelt. Unser Gehirn besteht aus ungefähr 100 Milliarden (das ist eine 1 mit 8 Nullen!!) dieser Gehirnzellen. In unserem Kopf ist also richtig was los! Doch wie kommt es nun dazu, dass Lisa beim Hören von Musik plötzlich etwas schmeckt und Tim nicht nur Buchstaben und Zahlen, sondern auch Farben sieht? Manche WissenschaftlerInnen stellen sich vor, dass es in den Gehirnen von SynästhetikerInnen wie Tim, Lisa und Elsa besonders viele Verbindungen gibt, also zusätzliche „Gehirnautobahnen“ zwischen zwei oder mehreren Regionen im Gehirn, in denen Sinneseindrücke verarbeitet werden. Bei der Synästhesie wird ein zusätzliches Gehirnareal aktiviert, was eigentlich gar nichts mit der Verarbeitung eines Sinnesreizes zu tun hat. Zum Beispiel wird bei Lisa das Gehirnareal für Schmecken aktiviert, wenn sie Musik hört. Bei ihr sind also die Gehirnzellen aktiv, die für das Hören zuständig sind und diese wiederum schicken die Information über die „Gehirnautobahn“ zu den Gehirnzellen, die für unseren Geschmack verantwortlich sind.

Diese Wahrnehmungen beruhen also auf Verbindungen zwischen zwei oder mehreren Regionen des Gehirns, die unsere Sinnesreize, also Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen verarbeiten. Jedoch beschränken sich die möglichen zusätzlichen Verbindungen nicht nur auf unsere Sinne. Es gibt auch Verknüpfungen zwischen anderen Gehirnzellen, die beispielsweise für Gefühle zuständig sind. So gibt es auch Menschen mit Synästhesie, die Gefühle sehen können und bei Freude z. B. ein warmes Rot wahrnehmen, während Trauer einen grauen Farbton hervorruft. Die MRT-Untersuchungen machen diese Areale sichtbar. Während ich einen Ton nur höre und nur mein Hörzentrum aktiviert und in der Untersuchung sichtbar wird, zeigt das Gehirn von SynästhetikerInnen wie Lisa und auch vielleicht dir zusätzlich eine Aktivierung im Geschmackszentrum. Möglichkeiten dieses sogenannten synästhetischen Erlebens gibt es sehr viele! Über 80 verschiedene Formen haben WissenschaftlerInnen bereits gefunden (Cytowic & Eagleman, 2009). Diese reichen vom farbigen Sehen von Buchstaben und Zahlen über schmeckende Musik bis hin zu farbigen Gefühlen).

Es gibt Theorien, dass wir alle mit viel mehr „Gehirnautobahnen“ geboren werden, also quasi alle Neugeborene SynästhetikerInnen sind. Während wir wachsen und immer mehr Eindrücke sammeln, lernen wir, diese Sinnesreize den typischen Gehirnregionen zuzuordnen und diese zusätzlichen Verbindungen verschwinden nach und nach. Manche „Gehirnautobahnen“ werden also viel weniger mit Informationen befahren, verkümmern allmählich zu Feldwegen, bevor sie ganz verschwinden. SynästhetikerInnen dagegen behalten viele dieser Autobahnen und haben ein sehr vernetztes Gehirn.

Synästhesie als Booster fürs Gedächtnis und die Kreativität

Doch was bedeutet die Synästhesie für die betroffenen Menschen? Synästhesie ist keine Erkrankung, ganz im Gegenteil. Viele SynästhetikerInnen machen sich die vermischten Sinneseindrücke zu Nutze und sind wahre GedächtniskünstlerInnen. Für den Autoren Daniel Tammet haben Zahlen nicht nur eine Farbe, sondern auch eine ganz bestimmte Persönlichkeit. Auf einer Lesung wurde er einmal nach seiner Lieblingszahl gefragt. Er antwortete: „Meine Lieblingszahl ist die 32. Sie ist grün und freundlich, auf einer Party wäre es die Zahl, die tanzen würde.“. Daniel nimmt Zahlen also ganz anders wahr und das hilft ihm auch, sich sehr lange Zahlenabfolgen korrekt zu merken. Vor 18 Jahren setzte er einen neuen Europarekord und zählte in über 5 Stunden 22.514 Nachkommastellen der unendlichen Kreiszahl Pi auf und traf dabei auf unterschiedliche Formen und Farben und Persönlichkeiten, die ganz unterschiedliche Gefühle in ihm auslösten (Schnurrenberger, 2014).

Für andere ist die Synästhesie eine wahre Quelle der Kreativität. Der russische Künstler Wassily Kandinsky konnte Farben nicht nur sehen, sondern er hörte sie auch. So ordnete er Farben bestimmte Klänge aber auch Gerüche und Formen zu. Gelb beschrieb er als besonders „spitz“ klingende Farbe, die sich in Verbindung mit der Spitze eines Dreiecks nochmals steigerte. Wassily Kandinsky nutzte seine Synästhesie also, um besonders musikalische Bilder zu ‚komponieren‘ (Miller, 2014).

Bild 2: Malerei und Musik – auch der russische Künstler Wassily Kandinsky nutze seine Synästhesie für ein sinnesübergreifenden Kunstwerke Bild 2: Malerei und Musik – auch der russische Künstler Wassily Kandinsky nutze seine Synästhesie für ein sinnesübergreifenden Kunstwerke

Auch die australische Sängerin Lorde verwendet ihre Synästhesie beim Komponieren ihrer Songs. In einer spontanen Fragerunde in den sozialen Medien verriet sie, dass ihr Superhit "Tennis Court" aus dem Jahr 2013 zunächst so langweilig braun war, dass ihr schlecht wurde. Dann arbeiteten sie an einem bestimmten Teil ihres Lieds und der Song wurde grün - viel besser! (NME Blog, 2015). Das gilt auch für Chris Martin, dem Sänger von Coldplay. Wenn er an Songs denkt, kommen ihm oft Farben in den Sinn, und ein Großteil des Coldplay-Materials wurde unter dem Einfluss dieser Farben geschrieben.

Die Synästhesie galt jedoch früher tatsächlich als Krankheit. Die meisten Menschen fanden das Phänomen der farbigen Buchstaben und der schmeckenden Töne befremdlich und unheimlich. Zum Glück sind wir heute schlauer und fasziniert von diesem Erleben, das sich selbst WissenschaftlerInnen noch nicht vollständig erklären können.

Was sie jedoch wissen, ist, dass die Synästhesie eine ganz besondere Fähigkeit ist und wieder mal auf eine faszinierende Weise zeigt, was unser Gehirn so alles kann!

 

*In Klammern werden die Autor*Innennamen angegeben, die zu diesem Thema schon geforscht haben, z. B. so: Simner et al., 2006. Das bedeutet, dass jemand namens Simner mit Anderen im Jahr 2006 dazu geforscht hat. Diese Vorarbeiten findet ihr ganz unten, am Ende des Artikels, ausgelistet.

Literaturverzeichnis

Cytowic, R. E., & Eagleman, D. M. (2009). Wednesday is indigo blue: Discovering the brain of synesthesia (pp. viii, 309). MIT Press.

Miller, R. B. (2014, March 19). Wassily Kandinsky’s Symphony of Colors | Denver Art Museum. https://www.denverartmuseum.org/en/blog/wassily-kandinskys-symphony-colors

NME Blog. (2015, October 21). Do You Have Synaesthesia? A Look At The Condition That Means Lorde Sees Sound In Colour. https://www.nme.com/blogs/nme-blogs/do-you-have-synaesthesia-a-look-at-t...

Silva Schnurrenberger. (2014, March 21). Primzahl-Poesie: Dieses Mathegenie rezitiert Pi wie ein Gedicht - WELT. DIE WELT. https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article126043110/Dieses-Math...

Simner, J., Mulvenna, C., Sagiv, N., Tsakanikos, E., Witherby, S. A., Fraser, C., Scott, K., & Ward, J. (2006). Synaesthesia: The Prevalence of Atypical Cross-Modal Experiences. Perception, 35(8), 1024–1033. https://doi.org/10.1068/p5469

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