Altersstereotype und motorische Fähigkeiten im Alter
"Fahr doch endlich, du Opa!“ entfährt es manchem, der findet, dass das vor ihm fahrende Auto zu langsam sei - unabhängig davon, wie alt dessen Fahrer tatsächlich ist. Wir lernen während unseres Lebens, dass man im Alter langsamer, ungeschickter und insgesamt gebrechlicher werde. Wenn sie älter werden beobachten daher viele Leute sich und ihre körperliche Leistungsfähigkeit eher kritisch. Doch inwieweit ist es wahr, dass solche negativen Klischees selbst dazu beitragen, dass die körperliche Leistungsfähigkeit schlechter wird? Hierzu stellt dieser Beitrag Erkenntnisse aus der Forschung über Altersstereotypen vor.
Motorische Fähigkeiten im Alter
Mobilität und körperliche Anpassungsfähigkeit sind für ein eigenständiges und erfülltes Leben im Alter wichtig. Gerade unsere moderne Zivilisation stellt uns oft vor die Aufgabe, neue Bewegungsabläufe zu erlernen, z.B. beim Bedienen neuer Geräte oder bei der Teilnahme an Trendsportarten. Darüber hinaus ist Bewegung sehr wichtig für die Gesundheitsförderung, denn regelmäßige körperliche Aktivität kann in jedem Alter der Entwicklung von Krankheiten und Beschwerden entgegen wirken.
Für körperliche Aktivität und Mobilität sind dabei nicht nur körperliche Prozesse, sondern auch soziale Einflüsse ausschlaggebend, wie die Bilder und Vorstellungen, die wir vom Alter haben. Sie prägen die Wahrnehmung und Handlungsentscheidungen von Personen. Die gesellschaftliche Bewertung und Erwartung kann Menschen ermutigen oder entmutigen, körperlich aktiv zu sein und so bestimmte Fähigkeiten zu trainieren. So existiert heute ein weitaus positiveres Bild von 60-Jährigen, den „jungen Alten“, hinsichtlich ihrer körperlichen Fitness und Leistungsfähigkeit, als es noch in den 1950er Jahren der Fall war. Untersuchungen über Altersbilder in Anzeigenwerbungen seit den 1970er Jahren zeigen, dass Inhalte, die negative Altersstereotype vermitteln, deutlich rückläufig sind. So werden Ältere heute äußerlich attraktiver, aktiver und sozial anerkannter dargestellt als früher (Röhr-Sendlmeier & Ueing, 2004). Parallel zu diesem Wandel der Altersbilder ist zum Beispiel auch die Anzahl von Fitnessangeboten und Sportprodukten für die Zielgruppe der älteren Männer und Frauen in den letzten Jahren deutlich gewachsen.
Dennoch ist vor allem das höhere Alter nach wie vor stark mit negativen Zuschreibungen und Stereotypen wie Gebrechlichkeit, Pflegebedürftigkeit oder Vergesslichkeit besetzt. In den Inhalten von Altersstereotypen überwiegen eher negative Eigenschaften. Den Älteren wird im Vergleich zu Jüngeren weniger Kompetenz, Leistungsfähigkeit und Attraktivität zugeschrieben (Kite et al., 2005). In körperlicher Hinsicht gelten Ältere im Vergleich zu Jungen als langsam, unbeholfen und verletzlich. Solche Zuschreibungen enthalten insofern ein ‚Körnchen Wahrheit’, als dass die körperliche Leistungsfähigkeit im Altersverlauf tatsächlich nachlässt. Mit dem Alter verringern sich die Leistungen in den Bereichen Kraft, Schnelligkeit und Beweglichkeit. Auch die aerobe und anaerobe energetische Leistungsfähigkeit wird weniger (Mechling, 2005). Die koordinativen Fähigkeiten und die Fähigkeiten zu motorischem Lernen zeigen bei älteren Testpersonen im Vergleich zu jungen Testpersonen schlechtere Werte.
In der Erforschung dieser Prozesse wird jedoch zunehmend deutlich, dass die ausschließliche Konzentration auf die Defizite zu einseitig ist. Sie verursacht ein verzerrtes Bild des Alterns, welches lange Zeit auch die Forschung beeinflusst hat. Nun wird stattdessen zunehmend ein Plastizitätskonzept angewandt. Dieses betont die Anpassungs- und Lernleistungen, die auch im Alter möglich sind. Außerdem werden die Ursachen für motorische Mängel bei Älteren differenzierter untersucht und es werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie man eine verringerte Lernfähigkeit in einem Bereich durch andere Bereiche ausgleichen kann.
Man weiß inzwischen, dass das Nicht-Üben von koordinativen Fähigkeiten den biologisch verursachten Leistungsabbau im Alter verstärkt. Regelmäßiges Üben schwächt hingegen den Abbau ab – man spricht hier von einem „Verjüngungseffekt“ durch Training. Dies führt dazu, dass trainierte Ältere in vielen Bereichen körperlicher Leistungsfähigkeit bessere Werte aufweisen als Untrainierte aus jüngeren Altersgruppen. Die Bandbreite der Leistungsfähigkeit zwischen Personen nimmt im Alter zu.
Motorisches Lernen ist die Verbesserung von Geschwindigkeit und Präzision der Bewegungen durch Übung. Experimentelle Studien über die Bewegungskoordination zeigen, dass zwar Geschwindigkeit und Genauigkeit von Zielbewegungen im Alter abnehmen – das motorische Lernen hierbei jedoch nicht zwangsläufig beeinträchtigt sein muss. So wurden beim unbewussten Lernen von Sequenzen (Seidler, 2006) oder beim Erlernen von Genauigkeit (McDowd, 1986), von Rhythmus (Wishart & Lee, 1997) und Doppeltätigkeit (McDowd, 1986) keine Defizite bei den Älteren festgestellt. Hingegen zeigten sich Einbußen beim Erlernen der beidhändigen Koordination (Swinnen et al., 1998) und beim bewussten Lernen von Bewegungsabfolgen (Ghilardi et al., 2003). Diese Ergebnisse führten zu der Annahme, dass motorisches Lernen im Alter nur dort beeinträchtigt ist, wo viele Ressourcen des Körpers gleichzeitig gefordert sind und wo eine bewusste Verarbeitung erforderlich ist (Bock & Girgenrath, 2006).
Welche Bedingungen sind nun neben den physiologischen Faktoren für das Erlernen neuer Bewegungsabläufe in der Praxis förderlich, und welche hinderlich? Die Situation und das Verhalten von Personen können das motorische Lernen beeinflussen, zum Beispiel kann die Gestaltung des Umfelds und die Art der Unterweisung das Lernen positiv unterstützen. Auch die Motivation und die Aufmerksamkeit des Lernenden sind für den Erfolg ausschlaggebend. Emotionen haben ebenso Einfluss, zum Beispiel lernt man unter Stress oder mit Angst schlechter. Durch diese Faktoren als auch durch Vorerfahrungen und Einstellungen der Person wirkt das soziale Umfeld in das Lernen hinein. Soziale Netzwerke und kulturelle Vorstellungen darüber, was man verschiedenen Gruppen von Personen zutraut, können also das motorische Lernen fördern oder behindern. Hier stellt sich die Frage, ob und wie Altersstereotype zum Beispiel die Motivation, Angst und Aufregung in einer motorischen Lernsituation beeinflussen können. Die Forschung hat mittlerweile viele Belege für den nachhaltigen Einfluss von Stereotypen auf das Handeln und die Art des Umgangs mit alten Menschen erbracht. So zeigen Ältere, die mit dem Stereotyp Vergesslichkeit konfrontiert wurden, schlechtere Leistungen in Gedächtnistests als Ältere, die positiven Vorstellungen vom Alter wie Weisheit ausgesetzt wurden. Es wurde jedoch bisher kaum untersucht, inwieweit negative Stereotype die motorische Leistungsfähigkeit hemmen und damit zum Beispiel die Mobilität verringern können und ob positive Stereotype die motorische Lernfähigkeit fördern können.
Wie wird die Auswirkung von Stereotypen untersucht?
Der Einfluss von Stereotypen auf Leistungen allgemein ist durch psychologische Studien in vielen Bereichen nachgewiesen worden. Insbesondere die Kategorien Geschlecht, Alter und ethnische Zugehörigkeit wurden mit ihren entsprechenden Stereotypen untersucht. Getestet wurden hierbei meistens kognitive Fähigkeiten, zum Beispiel durch Intelligenztests, Gedächtnistests oder Mathematikaufgaben (Levy, 2003, Levy & Leifheit-Limson, 2009).
Stereotype, die sich auf das Alter beziehen, verknüpfen körperliche Merkmale mit bestimmten Eigenschaften. Alterskennzeichen und Hinweise, wie graue Haare oder eine gebeugte Haltung, werden zum Beispiel mit Vergesslichkeit und Langsamkeit verknüpft. Wenn diese Verknüpfungen aktiviert werden (durch bestimmte Begriffe oder Bilder), erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass nachfolgende unabhängige Ereignisse und Wahrnehmungen mit derselben Verknüpfung verbunden werden. Dieser Vorgang wird als Priming (engl.: Bahnung von Reizen) bezeichnet. Dieser Mechanismus wird in der Stereotypenforschung genutzt, indem in Experimenten Primings bei Personen durchgeführt werden und daraufhin beobachtet wird, inwieweit sich ihr Verhalten von dem von Personen ohne Priming unterscheidet.
Das Priming kann im Experiment entweder durch die Aktivierung von Gefühlszuständen stattfinden (affektives Priming) oder durch die Nutzung von bestimmten Begriffen in der Testsituation, zum Beispiel in Texten, Aufgaben oder Filmen ( semantisches Priming). Die Aktivierung der Stereotype kann dabei unbewusst oder bewusst erfolgen. Ein Beispiel für ein unbewusstes Priming ist das Einblenden von Begriffen für so kurze Zeit, dass die Testpersonen es nicht bewusst wahrnehmen können. So werden zum Beispiel auf einem Computerbildschirm, an dem die Testpersonen eine Aufgabe ausführen sollen, positive (z.B. „weise") oder negative (z.B. „senil") Begriffe eingeblendet, bevor die Tests durchgeführt werden (Levy, 2003). Die Einblendzeit wird dabei den jeweiligen Testpersonen angepasst, da sich im Alter die Unterschiede der Wahrnehmungsschnelligkeit zwischen den Personen erhöhen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei der Mehrzahl der Studien, in denen Stereotype aktiviert wurden und danach Verhaltenseffekte auftraten, zu beobachten war, dass die Aktivierung von negativen Altersstereotypen die Leistungen schlechter ausfallen ließ. Die Personen passten sich also dem Stereotyp in gewisser Weise an, anstatt nun gerade zu besseren Leistungen angestachelt zu werden, um sich von den Stereotypen abzugrenzen. Außerdem zeigten negative selbstbezogene Stereotype öfter Auswirkungen als positive (Wheeler & Petty, 2001).
Einfluss von Altersstereotypen auf Bewegungen
Eine Forschungsgruppe hat mehrere Studien zum Einfluss von Altersstereotypen auf den körperlichen Leistungszustand und auf Bewegungen durchgeführt (Levy & Leifheit-Limson, 2009, Levy et al., 2002). Einflüsse auf die körperliche Verfassung zeigten sich auch in der Rehabilitation nach einem Infarkt, wobei positive Stereotype den Heilungsprozess positiv beeinflussen (Levy et al. 2000).
Einige der Studien haben sich auch mit der Auswirkung von Altersstereotypen auf die motorische Leistung befasst. Hier wurden Primingverfahren eingesetzt und deutliche Einflüsse von Altersstereotypen auf die jeweils gemessene Leistung nachgewiesen. In einer Studie wurde die Zeit gemessen, die Testpersonen benötigten, um von einem Stuhl aufzustehen, was als ein guter Anhaltspunkt für das Gleichgewicht verstanden wird. Hier standen Personen mit positivem Priming schneller auf (Levy & Leifheit-Limson, 2009). In einem Vergleich von Gedächtnis- und Gleichgewichtsleistungen wurde in der Studie außerdem festgestellt, dass der Bereich, auf den sich Stereotype beziehen, bedeutsam für die Stärke der Auswirkung ist. So beeinflussten negative Altersstereotype, die sich auf das Gedächtnis im Alter bezogen, besonders stark die Gedächtnisleistung und weniger das Gleichgewicht, während negative körperliche Altersstereotype vor allem die Leistung beim Gleichgewicht negativ beeinflussten (Levy & Leifheit-Limson, 2009).
In einer anderen Studie wurden die Schrittgeschwindigkeit und die Zeit der Schwungphase, welche als Indikatoren (Anzeiger) für die Gleichgewichtsfähigkeit genutzt werden, unter dem Einfluss von Altersstereotypen gemessen (Hausdorff et al., 1999). Als Schwungphase wird dabei die Zeitspanne bezeichnet, in der sich beim Gehen ein Bein in der Luft befindet, also ohne Bodenkontakt ist. Testpersonen, die unbewusst ein positives Priming erhalten hatten, gingen schneller und mit längerer Schwungphase als Testpersonen mit negativem Priming. Der Zuwachs nach dem positiven Priming war dabei vergleichbar mit dem Fortschritt, den Ältere nach einem mehrwöchigen Trainingsprogramm zeigten. Ebenfalls mit der Gehgeschwindigkeit befasste sich eine Studie, in der bei jungen Testpersonen ein negatives Priming von Altersstereotypen angewandt wurde. Diese Personen gingen signifikant langsamer als Personen, die neutralen Begriffen ausgesetzt waren (Bargh, Chen & Burrows, 1996). Hier zeigte sich also, dass negative Altersstereotype nicht nur bei Älteren Auswirkungen auf das körperliche Verhalten haben, sondern Junge ebenfalls von ihnen "verlangsamt" werden können.
Eine weitere Studie verglich Handschriften Älterer vor und nach einem unbewussten Alterspriming, wobei eine Gruppe negative und eine andere positive Primings erhielt. Die Handschriften nach dem negativen Priming wurden häufiger als zittrig, senil und vom Abbau beeinträchtigt bewertet und die Urheber als signifikant älter eingeschätzt (Levy, 2000). Bezüglich des Geschlechts kann in einigen Eigenschaften ein Doppelstandard des Alterns nachgewiesen werden: Einige Alterszeichen werden bei Frauen negativer bewertet als bei Männern. Es liegen jedoch hierzu bisher keine Studien vor, die dabei zwischen kognitiven und körperlichen Funktionen unterscheiden. Auch die möglichen Auswirkungen solch eines Doppelstandards auf die motorischen Leistungen sind bisher nicht untersucht worden. So wäre es interessant zu wissen, ob älteren Männern und Frauen in unterschiedlicher Weise Leistungseinbußen wie das Nachlassen von Kraft, Geschicklichkeit oder Gleichgewicht zugeschrieben werden. Auch müsste untersucht werden, inwieweit Ältere solche Kombinationen von Alters- und Geschlechterstereotypen in ihr Selbstbild aufnehmen und danach handeln. Dies kann zum Beispiel wichtig sein bei der Frage, ob ältere Frauen sich ebenso ein Krafttraining an Maschinen zutrauen wie die Männer oder ob ältere Männer offen für Gymnastikprogramme sind, die Beweglichkeit und Gleichgewichtssinn schulen.
Fazit und Ausblick
Angesichts des demografischen Wandels und der Herausforderung, dass möglichst viele Ältere bis ins hohe Alter mobil bleiben wollen und sollen, wird es zunehmend wichtiger, Kenntnisse über negative und positive Faktoren des motorischen Lernens im Alter zu erlangen. Erste Ergebnisse zeigen, dass negative Altersstereotype sowohl die Gleichgewichtsleistung beeinflussen als auch, dass sich Menschen unter negativen Priminginstruktionen langsamer und zittriger bewegen. Man kann daher annehmen, dass bereits durch Bemerkungen wie ein ironisches „Ob du das in deinem Alter noch schaffst!?" negative Stereotype aktiviert werden, die die tatsächliche körperliche Leistung beeinträchtigen. Erkenntnisse über weitere motorische Leistungen unter dem Einfluss von Alters- und Geschlechterstereotypen liegen noch nicht vor. Tests zum motorischen Lernen nach der Aktivierung von Altersstereotypen mit Primingverfahren könnten hier aufschlussreiche Ergebnisse liefern. Die Ergebnisse könnten zum Beispiel bei der Gestaltung von Sportangeboten, bei Gebrauchsanweisungen und in der Kommunikation mit Älteren genutzt werden. Auch das Bewältigen von körperlichen Leistungseinbußen könnte durch den Abbau von altersbezogenen Vorurteilen gegenüber sich selbst und anderen gefördert werden.
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