Gar nicht so negativ: Die funktionale Rolle von Ärger in sozialer Interaktion
Der Partner hat den Müll nicht rausgebracht, die Geschäftspartnerin erscheint wiederholt nicht zur Besprechung, die Tochter kommt nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause: Gelegentlich verärgern uns unsere Mitmenschen mit ihrem Verhalten. Ein gut gemeinter Ratschlag besagt, dass man seinem Ärger Luft machen soll. Wie aber wird das von unseren Mitmenschen wahrgenommen? Tatsächlich können die Folgen von Ärger auf die soziale Interaktion positiv sein – unter bestimmten Bedingungen.
Ärger – so wie auch andere Emotionen – entsteht nicht aus dem Nichts, sondern ist das Produkt subjektiver Bewertung eines Ereignisses oder einer Situation ( Bewertungstheorie, appraisal theory, Scherer, 1999). Ärger entsteht meist dann, wenn ein Ereignis eigene Vorstellungen, Ziele oder Normen verletzt. Dies wird als unangenehm und ungerecht wahrgenommen, gleichzeitig scheint jedoch ein gewisses Maß an Kontrolle über den Fortgang der Situation empfunden zu werden. Dadurch kann Ärger motivierend wirken und den nötigen Antrieb geben, ein Problem in Angriff zu nehmen. Während Ärger also üblicherweise als negative Emotion bezeichnet wird und dies für seine Empfindung in der Regel zutrifft, kann der motivierende Effekt durchaus auch als positiv wahrgenommen werden (Weber, 2004; für einen Überblick siehe Hess, 2014).
Situationen, in denen Ärger entsteht, sind oftmals sozialer Natur: Mitmenschen können uns beispielsweise durch rücksichtsloses Handeln oder Unzuverlässigkeit verärgern. Oftmals behalten wir in solchen Situationen unseren Ärger nicht für uns, sondern drücken ihn entweder verbal oder durch Veränderungen in Stimmlage, Gesichtsausdruck oder Körperhaltung aus (Scherer & Tannenbaum, 1986).
Interessant ist es daher nicht nur die Auswirkungen von Ärger auf denjenigen, der ihn empfindet, zu betrachten, sondern auch auf denjenigen, dem gegenüber er zum Ausdruck gebracht wird. Genau hierauf soll der Schwerpunkt dieses Artikels liegen. Auf welche Weise beeinflusst ausgedrückter Ärger, wie Interaktionspartner/-innen uns wahrnehmen und welche Konsequenzen kann er für die gemeinsame Beziehung haben? Wie eingangs beschrieben kann es positiv wirken Ärger zu empfinden. Kann es auch positive Konsequenzen haben Ärger auszudrücken?
Ehe wir uns der Frage zuwenden können, ob, und wenn ja, wie Interaktionspartner/-innen durch den Ärger anderer beeinflusst werden, ist es zunächst wichtig festzuhalten, dass Menschen in der Lage sind, Emotionen in anderen recht akkurat zu erkennen. Wir nehmen Stimmlage, Gesichtsausdruck und Körperhaltung wahr und können dadurch darauf schließen, wie sich eine Person fühlt (Bänziger, Grandjean & Scherer, 2009).Welche Emotion ein anderer ausdrückt registrieren wir nicht nur, wir nutzen es auch als Informationsquelle: Van Kleef (2009) beschreibt dies im EASI-Modell (emotions as social information – Emotionen als soziale Information). Durch die Verarbeitung als Informationsquelle sind Rückschlüsse hinsichtlich der Ursache der Emotionen möglich: Überlegungen können beispielsweise die Persönlichkeit oder Eigenschaften der verärgerten Person betreffen oder aber aktuelle Gegebenheiten. Dies schließt auch ein, dass das eigene Verhalten als Ursache in Betracht gezogen werden kann. Dadurch kommt Emotionen eine wichtige funktionale Rolle in sozialen Interaktionen zuteil.
Diese Funktionalität erlaubt es den Ärger zu hinterfragen und sich auf Ursachensuche zu begeben. Forschung konnte zeigen, dass dies zu positiven Effekten führen kann: Ein Beispiel für Rückschlüsse auf die Eigenschaften der verärgerten Person stellt eine Studie von Van Kleef und de Dreu (2010) dar. Sie konnten zeigen, dass Personen als entschlossener wahrgenommen werden, wenn sie sich verärgert zeigen. In Studien mit fiktiven Verkaufssituationen führte dies dazu, dass verärgerten Kunden/-innen ein besseres Angebot gemacht wurde als solchen, die keine Emotionen zeigten. Neben Entschlossenheit kann Ärger auch den Eindruck von Kompetenz vermitteln: In einer Studie erfragte Tiedens (2001) die Unterstützung für den damaligen Präsidenten der USA, Bill Clinton, nachdem die Versuchspersonen ein Video des Präsidenten gesehen hatten, auf dem er sich entweder verärgert oder traurig bezüglich der Lewinsky-Affäre äußerte. Versuchspersonen, die einen verärgerten Bill Clinton gesehen hatten, zeigten größere Unterstützung als jene, die eine traurige Äußerung gesehen hatten. In einer weiteren Studie sahen Versuchspersonen Videos von Bewerber/-innen um eine Arbeitsstelle und wurden anschließend gefragt, ob und in welcher Position sie diese Person einstellen möchten. In jedem Video beschrieben die Bewerber/-innen ein negatives Erlebnis aus einem vorherigen Job, wobei sie in der Hälfte der Videos darüber verärgert und in der anderen Hälfte traurig waren. Verärgerte Bewerber/-innen wurden zwar weniger gern eingestellt, ihnen wurde aber eine bessere Position in der Firma zugeteilt sowie ein höheres Gehalt gewährt.
Die bisher geschilderten Forschungsergebnisse zeigen, dass Ärger auszudrücken vorteilhaft darauf wirken kann, wie wir wahrgenommen werden. Positive Effekte kann Ärger aber auch auf das Verhältnis zum anderen haben. Ärger entsteht nicht nur, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen (wie eingangs beschrieben), er scheint dies auch zu kommunizieren: De Vos, van Zomeren, Gordijn und Postmes (2013) legten niederländischen Studierenden einen fiktiven Zeitungsartikel vor, in dem Diskriminierung deutscher Studierender in den Niederlanden beschrieben wurde. Kernaussage des Artikels war, dass Deutsche schlecht integriert seien und in Deutschland bleiben sollten. Deutsche Studierende, die sich im gleichen Artikel zu den Anfeindungen äußerten, drückten entweder Verärgerung oder keine Emotionen aus. Der zum Ausdruck gebrachte Ärger führte dazu, dass niederländische Studierende Empathie für deutsche Studierende empfanden und dadurch eher dazu bereit waren, konstruktive Konfliktlösungen zu suchen.
Diese Befunde unterstreichen die funktionale Rolle von Emotionen in sozialen Interaktionen und zeigen, wie Ärger als Informationsquelle genutzt wird. Allerdings: Die bisher beschriebenen Befunde stellen ausschließlich positive Konsequenzen des Ärgers dar. Hierfür gibt es jedoch Grenzen.
Grenzen der positiven Wirkung von Ärger
Begrenzt wird die positive Wirkung von Ärger durch mehrere Faktoren. Im Folgenden stellen wir eine Grundvoraussetzung für die positive Wirkung dar, sowie einige der Aspekte, die der positiven Wirkung von Ärger Grenzen setzen können.
Grundvoraussetzung: Informationsverarbeitung
Dem EASI-Modell zufolge sind Menschen grundsätzlich in der Lage, Emotionen anderer als Informationsquelle zu nutzen. Allerdings sieht das Modell hierbei zum einen Bereitschaft und zum anderen gewisse Kapazitäten vor, wie beispielsweise ausreichend Aufmerksamkeit und Zeit. Ist dies nicht gegeben – besteht beispielsweise Zeitmangel – sind Schlussfolgerungen und eine mögliche Verhaltensanpassung erschwert. Es ist in diesem Fall wahrscheinlicher, dass sich die ausgedrückte Emotion vom einen auf den anderen Interaktionspartner überträgt (Van Kleef, 2009). Nach Neumann und Strack (2000) handelt es sich dabei nicht um Übertragung der spezifischen Emotion, aber um automatische Nachahmung des emotionalen Verhaltens (so wie ein verärgerter Blick oder Stimmlage), was wiederum eine entsprechende Stimmung im Gegenüber auslöst. Deswegen bezeichnen sie diesen Prozess als Stimmungsansteckung. In Bezug auf Ärger können Streitereien, die während morgendlicher Hektik eskalieren, ein triviales Beispiel sein. Wenig Zeit und Konzentration auf andere Aufgaben lassen keine Überlegungen über den Ursprung des Ärgers zu. Verärgerung über nicht erledigte Hausarbeiten oder vergessene Einkäufe kann durchaus berechtigt sein, überträgt sich in solchen Situationen aber meistens lediglich auf andere Familienangehörige, statt zu Verständnis und Einsicht zu führen.
Worauf bezieht sich der Ärger?
Es kommt vor, dass wir Ärger nicht über das Verhalten einer anderen Person äußern, sondern über die Person selbst. Auch wenn Handlung und Handelnder eng miteinander verbunden sind, so ist es wichtig beides getrennt zu betrachten. Ärger über das Verhalten stellt direkte Information darüber dar, wie der andere die aktuelle Konfliktsituation bewertet, während personenbezogener Ärger nicht unmittelbar mit dem Konfliktgegenstand in Verbindung steht. Steinel, Van Kleef und Harnick (2008) baten Versuchspersonen als Verkäufer/-in mit einem/r (fiktiven) Kunden/-in über ein Handyangebot zu verhandeln. Wie in der bereits beschriebenen Studie variierte die Forschergruppe, ob sich das Gegenüber zufrieden oder verärgert über das Angebot äußerte. Außerdem bezogen sich die Emotionen auf das Angebot oder aber den/die Verkäufer/-in (die Versuchsperson). Emotionen wirkten sehr unterschiedlich in Abhängigkeit davon, worüber sie zum Ausdruck gebracht wurden: Bezog sich die Verärgerung auf das Angebot, so unterbreiteten Versuchspersonen anschließend ein besseres Angebot als wenn der/die Kunde/-in zufrieden war. Richtete sich der Ärger allerdings gegen die Versuchsperson (in der Rolle der Verkäuferperson) selbst, so unterbreiteten sie im Anschluss ein schlechteres Angebot als wenn Zufriedenheit mit der Verkäuferperson gezeigt wurde. Die Forscher fanden heraus, dass Versuchspersonen nur den Ärger bezüglich des Angebots, nicht aber bezüglich ihrer eigenen Person, so interpretierten, dass der Verhandlungsspielraum ausgeschöpft und die Grenzen des/r Kunden/-in erreicht seien. Somit wurde der Ärger über das Angebot als soziale Information genutzt, im Gegensatz zum personenbezogenen Ärger.
Angemessenheit – ein entscheidender Faktor
Ein entscheidendes Kriterium für die Wirkung von Ärger ist, ob er als angemessen angesehen wird. In einer Befragung von Weber (2004) machten Personen die Angemessenheit ihres eigenen Ärgers maßgeblich davon abhängig, ob der Verursacher für sein Verhalten verantwortlich gemacht werden konnte und wie schwerwiegend der Ärger verursachende Vorfall eingeschätzt wurde.
Außerdem muss die emotionale Reaktion auch als der Situation angemessen erscheinen: In einem Experiment reagierten Personen, die Geld spendeten, negativ auf eine/n Spendensammler/-in, der/die sie verärgert aufforderte, noch mehr zu spenden. Sie hielten dies für die Situation unangemessen und waren dadurch nicht bereit, mehr zu spenden. Zeigte der/die Spendensammler/-in sich jedoch enttäuscht, bewerteten Personen dies als angemessener und waren eher bereit, eine zusätzliche Spende zu leisten (Van Doorn, Van Kleef & Van der Pligt, 2014).
Ärger und Verachtung: Verwandte Emotionen mit verschiedenen Botschaften
Ärger ist eng verwandt mit anderen Emotionen wie beispielsweise Hass oder Verachtung. Häufig treten Emotionen nicht in Reinform auf, sondern als Mischung mehrerer Emotionen. Dies kann entscheidend beeinflussen, wie Ärger sich auswirkt: Während jemand, der Ärger zum Ausdruck bringt, in der Regel daran interessiert ist, das unerwünschte Verhalten eines anderen zu verändern, weil die Beziehung wertgeschätzt wird, ist Verachtung eher mit Zurückweisung und sozialer Ausgrenzung einer Person assoziiert (Fischer & Roseman, 2007). In ihrer Studie, in der De Vos und Kollegen (2013) zeigten, dass Ärger durch die Auslösung von Empathie konstruktive Lösungsansätze bewirken kann, verwendeten die Forscher eine zusätzliche Bedingung, in der Ärger gemeinsam mit Verachtung zum Ausdruck gebracht wurde. Dies verhinderte die positiven Signale, die Ärger sendet, sodass Versuchspersonen weniger Empathie empfanden und bevorzugt destruktive Maßnahmen ergreifen wollten.
Zusammenfassung
Ärger wird traditionell als negative Emotion klassifiziert. Die Effekte, die Ärger in sozialer Interaktion erzielen kann, können aber durchaus positive sein – es kommt ganz auf die Umstände an. Grundlegend für das Verständnis der Bedeutung von Ärger aber auch anderen Emotionen in sozialer Interaktion ist, dass Emotionen als Informationsquelle dienen können (Van Kleef, 2009). So sind wir in der Lage, vom Ärger anderer auf seine Ursache zu schließen und unser Verhalten, beispielweise in Verhandlungen, anzupassen. Forschung konnte zeigen, dass wir verärgerte Personen als entschlossen (Van Kleef & De Dreu, 2010) und kompetent wahrnehmen (Tiedens, 2001) und dass Ärger in Konflikten signalisiert, dass die Beziehung grundsätzlich wertgeschätzt wird, aber als eine Verletzung des Verhältnisses wahrgenommen wurde (De Vos et al.,2013).
Was beeinflusst, ob Ärger in sozialer Interaktion positiv oder negativ wirkt? Grundlegend ist, dass ausreichend Ressourcen wie Zeit und Bereitschaft vorhanden sind, um Ärger als Information zu verarbeiten. Ist dies nicht gegeben, so kann es eher dazu kommen, dass sich Ärger auf den Interaktionspartner überträgt (Van Kleef, 2009). Darüber hinaus beeinflusst es die Emotionsverarbeitung und -interpretation, ob der Ärger auf das Verhalten oder die Person selbst gerichtet ist (Steinel et al., 2008), ob Ärger in einer Situation als angemessen erscheint (Van Doorn et al., 2014), und ob andere Emotionen wie Verachtung mitschwingen (De Vos et al., 2013). Abbildung 1 illustriert nochmals wie diese Faktoren Rückschlüsse auf die Ursachen von Ärger beeinflussen können.
Wenn gesagt wird, dass Ärger durchaus auch positive Effekte haben kann, ist es wichtig, zwischen positiven Effekten für denjenigen, der ihn zum Ausdruck bringt und positiven Effekten für die Beziehung zu anderen zu unterscheiden. Die Studie von Van Kleef und De Dreu (2010) beispielsweise zeigt, wie ein Kunde durch Verärgerung ein besseres zweites Angebot erwirkt. Ob dies allerdings eine positive Wirkung auf eine langfristige Beziehung haben kann, ist fraglich. Grundsätzlich aber zeigt Forschung aus verschiedenen Bereichen der Sozialpsychologie, dass Ärger nicht grundsätzlich als negative Emotion verdammt werden sollte, sondern durchaus positive Effekte – für den einzelnen oder die Beziehung zu anderen – haben kann.
Literatur
Bänziger, T., Grandjean, D. & Scherer, K. R. (2009). Emotion recognition from expressions in face, voice, and body: The Multimodal Emotion Recognition Test (MERT). Emotion, 9, 691-704.
De Vos, B., van Zomeren, M., Gordijn, E. H. & Postmes, T. (2013). The communication of “pure” group-based anger reduces tendencies toward intergroup conflict because it increases out-group empathy. Personality and Social Psychology Bulletin, 39, 1043-1052.
Fischer, A. H. & Roseman, I. J. (2007). Beat them or ban them: The characteristics and social functions of anger and contempt. Journal of Personality and Social Psychology, 93, 103-115.
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Neumann, R. & Strack, F. (2000). "Mood contagion": The automatic transfer of mood between persons. Journal of Personality and Social Psychology, 79, 211-223.
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Scherer, K. R. & Tannenbaum, P. H. (1986). Emotional experiences in everyday life: A survey approach. Motivation and Emotion, 10, 295-314.
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Tiedens, L. Z. (2001). Anger and advancement versus sadness and subjugation: The effect of negative emotion expressions on social status conferral. Journal of Personality and Social Psychology, 80, 86-94.
Van Doorn, E. A., Van Kleef, G. A. & Van der Pligt, J. (2014). How instructors’ emotional expressions shape students’ learning performance: The roles of anger, happiness, and regulatory focus. Journal of Experimental Psychology: General, 143, 980-984.
Van Kleef, G. A. (2009). How emotions regulate social life: The Emotions as Social Information (EASI) model. Current Directions in Psychological Science, 18, 184-188.
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Weber, H. (2004). Explorations in the social construction of anger. Motivation and Emotion, 28, 197-219.