Kennen wir uns? Das Problem der Fremdwahrnehmung

Im Alltag ist uns das Phänomen vertraut, dass wir manchmal unsicher sind, ob wir tatsächlich einen Menschen wahrgenommen haben oder bloß einen leblosen Gegenstand, wie etwa eine Schaufensterpuppe. Lassen sich solche Fragen meist durch genaues Hinsehen oder Hinhören schnell klären, führt uns die technische Entwicklung in schwerer zu entscheidende Grenzbereiche:  Was ist, wenn sich der Gesprächspartner am Telefon als Bandansage herausstellt oder als ein Produkt künstlicher Intelligenz? Daraus ergibt sich die grundsätzliche Frage, woher wir eigentlich wissen, dass wir es mit einem Menschen, einem erlebenden Subjekt zu tun haben. Wie können wir Zugang zu dem Innenleben anderer Menschen gewinnen und mit ihnen vertraut werden? In unserem Aufsatz wollen wir die möglichen Lösungsversuche für dieses Problem vorstellen und kritisch diskutieren.

Mitmenschen als Objekte oder Subjekte

Wer schon einmal im Nebel oder bei der Dämmerung im Wald unterwegs gewesen ist, kennt wahrscheinlich ein besonderes Gefühl der Ungewissheit: Vor uns taucht etwas auf, von dem wir nicht sicher sind, worum es sich handelt. Vielleicht ist es ein Baumstumpf, aber es könnte auch ein Mensch sein. Ein ähnliches Erlebnis ergibt sich im Bekleidungsgeschäft, wenn eine Schaufensterpuppe von hinten betrachtet auch eine reglose Person sein könnte. Überrascht sind wir auch dann, wenn sich durch gute Pantomime die vermeintliche Puppe als Mensch herausstellt. Was diese Erlebnisse gemeinsam haben, ist die Möglichkeit der Täuschung. Diese Möglichkeit wird in der Philosophie auf die Spitze getrieben. René Descartes argumentierte im 17. Jahrhundert, dass es prinzipiell möglich sei, dass wir uns in allem täuschten. In den Kleidern und unter den Hüten, die wir aus unserem Fenster auf der Straße sich bewegen sehen, könnten auch Automaten anstelle von Menschen stecken (Descartes, 1641/2008).

Diese Beispiele der Täuschung sind nicht einfache Sinnestäuschungen wie der im Wasser gebrochene Stab oder die merkwürdige Kunst M. C. Eschers. Es handelt sich vielmehr um Täuschungen über die Begegnung mit Menschen. Einem Mitmenschen zu begegnen, ist etwas Besonderes – auch vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet. Ein anderes Subjekt ist nämlich nicht einfach ein Objekt. Der Begriff des ‚Objekts‘ meint hierbei nicht etwa ausschließlich einen sächlichen Gegenstand in der Wirklichkeit, wie Papierseiten oder Buchstaben. Mit ‚Objekt‘ ist in der Philosophie gemeint, was dem Subjekt in der Erkenntnis gegenübersteht. Philosophisch gesprochen ist unsere Ausgangslage die folgende: Es gibt Seiendes, das nur Objekt sein kann, nämlich Dinge, aber auch Seiendes, das auch Subjekt sein kann, nämlich Personen. Daraus ergibt sich die Frage, ob eine Person, wenn sie für eine andere Person zum Objekt der Erkenntnis wird, nur als Objekt oder auch als Subjekt wahrgenommen wird.

Zum Verständnis des Problems können wir auf die Beispiele für Täuschungen zurückblicken. Wir können eine Schaufensterpuppe, einen täuschungsechten Roboter oder aber auch einen echten Menschen für einen Menschen halten. Wenn es zwischen diesen Fällen für uns keinen Unterschied gibt, ergeben sich denkwürdige Konsequenzen. Es wäre dann logisch nicht auszuschließen, dass die Psychologie gar nicht von Menschen handelt. Nur dann, wenn es möglich ist, Menschen als Subjekte zu identifizieren, kann Psychologie als Wissenschaft von Personen verstanden werden. Andernfalls ist sie wie Biologie oder Chemie eine Wissenschaft, die natürliche Vorgänge als ‚Objekte‘ untersucht, nämlich das externe Verhalten, nicht aber das Erleben der Mitmenschen.

Bild 1: Die zwischenmenschliche Begegnung ist mit keiner anderen Erfahrung zu vergleichen.Bild 1: Die zwischenmenschliche Begegnung ist mit keiner anderen Erfahrung zu vergleichen.

Die Idee, dass sich uns unsere Mitmenschen in der Erfahrung nicht nur als Objekte, sondern auch als Subjekte zeigen, möchten wir ‚Fremdwahrnehmung‘ nennen. Ohne sie hätte der Unterschied zwischen dem Lächeln im Gesicht und dem Smiley auf Telefon eigentlich nichts mehr damit zu tun, wer uns gegenübersteht – Ding oder Person. Dies ist das Problem der Fremdwahrnehmung.

Das Problem der Fremdwahrnehmung

Andere bzw. fremde Subjekte sind nicht einfach da, sondern sie werden auf eine besondere Weise wahrgenommen. So wie Farben gesehen und Töne gehört werden, scheint es eine eigentümliche Erlebnisweise für Subjekte zu geben. Die Schwierigkeit dieses Gedankens ist es, dass Subjektivität keine einfache Sinnesqualität wie Farbe oder Klang ist. Ein perfektes Imitat im Wachsfigurenkabinett oder ein fehlerfreies virtuelles Programm, das wir mit einer 3D-Brille ansehen, könnte in unseren Sinnesorganen dieselben Reizungen hervorrufen wie ein lebendiger Mensch.

Trotz vielfältiger Täuschungsmöglichkeiten zeigt uns die Erfahrung, dass wir in der Begegnung mit anderen Menschen ihre Stimmungen und Gefühle häufig gut einschätzen können, was als Empathie bezeichnet wird. Wenn wir im Alltag von Empathie, Einfühlungsvermögen oder Mitgefühl sprechen, beziehen wir uns auf Erlebnisse anderer Menschen. Allerdings ist es nicht trivial, zu bestimmen, was Empathie genau ist. Im Gegenteil handelt es sich bei der Frage, worin die Fähigkeit der Empathie genau besteht, um eine wichtige Kontroverse in Philosophie und Psychologie.

Der Begriff der Empathie stammt von dem Begriff der Einfühlung ab. Einfühlung wiederum hat ihren Ursprung in der Kunstwissenschaft und beschrieb anfangs, wie Kunst erlebt werden kann. Seinerzeit wurde unter Einfühlung verstanden, was heutzutage als ‚Hineinversetzen‘ beschrieben werden kann. Allerdings war damit die Beziehung zu Kunstwerken gemeint. Auf menschliche Beziehungen wurde der Begriff mit dem Zweck übertragen, ein bestimmtes zwischenmenschliches Phänomen zu beschreiben. Dieses Phänomen – und nur dieses wollen wir im Folgenden ‚Einfühlung‘ nennen – ist der entscheidende Bezugspunkt für das Problem der Fremdwahrnehmung.

Von Einfühlung sprechen wir, wenn wir die Erlebnisse eines anderen Menschen aus unserer Wahrnehmungsperspektive miterleben: Stellen wir uns vor, einer Person geschehe ein Missgeschick. Das frisch gekaufte Erdbeereis fällt auf die Straße und ihre Gesichtsfarbe schlägt in Schamesröte um. Einfühlen bedeutet nicht einfach, Eis und Gesichtsfarbe zur Kenntnis zu nehmen und eine Schlussfolgerung daraus zu ziehen. Unsere Einfühlung erfolgt, wenn wir die Scham des Anderen direkt als Ausdrucksqualität spürend wahrnehmen, selbst die Augen niederschlagen und uns abwenden. Vielleicht empfinden wir im nächsten Schritt auch Schadenfreude oder werden mitleidig. Der Inhalt unserer Einfühlung ist weder das Eis noch die Durchblutung und Färbung der Wangen, sondern die Scham der anderen Person. Wir fühlen uns betroffen, weil uns die Scham des Mitmenschen berührt.

Wie lässt sich das Phänomen des Einfühlens nun wissenschaftlich verstehen? Ein Erklärungsansatz ist die Theorie des Geistes (Premack & Woodruff, 1978, Goldman 2012). Sie besagt, dass wir bereits in einem sehr frühen Alter gelernt haben, wahrgenommene Ereignisse als psychische Erlebnisse, Wünsche und Überzeugungen im Rahmen einer Theorie zu deuten (Gopnik & Wellmann 1992). Nehmen wir unser Beispiel: Nach der Theorie des Geistes haben wir gelernt, dass Menschen, denen etwas sozial Unerwünschtes geschieht und deren Gesicht Röte zeigt, Scham empfinden. Dass es sich bei diesen Menschen um fühlende Wesen handelt, ist nicht direkter Bestandteil der Wahrnehmung, sondern erschlossen. Auch einer Zeichentrickfigur, der das Eis herunterfällt, könnte nach dieser Theorie Scham zugesprochen werden.

Es ist leicht zu sehen, dass diese Erklärungsweise an ihre Grenzen stößt. Das gilt schon unabhängig von der Fremdwahrnehmung: Eine Theorie anzuwenden, wie Verhalten in einer konkreten Situation gedeutet werden könnte, ist noch kein Ein- und (Mit-)Fühlen im wörtlichen Sinne. Ob wir etwas von den Gefühlsregungen anderer Personen fühlend wahrnehmen, wenn wir die Schamesröte sehen oder nicht, ist für die Theorie unerheblich. Außerdem enthält die Theorie des Geistes keinen eigenen Maßstab dafür, wann ihre Anwendung angebracht ist – dieser Maßstab kommt von außen.

Wenn ein Kind seine Theorie des Geistes auf ein Stofftier bezieht, hängt es von der Korrektur durch seine Umwelt ab, ob die Theorie verbessert wird. Diese ‚falsche‘ Anwendung wird nach und nach durch Theoriekorrekturen überwunden. Am wichtigsten ist jedoch, dass die ‚Scham‘, die in einer Situation einem Menschen zugesprochen wird, der Theorie des Geistes zufolge keine erlebte Fremdwahrnehmung ist, sondern eine eigene Vorstellung, deren Funktion es ist, uns selbst unsere Umwelt zu erklären. Zwar erklärt die Theorie des Geistes, dass wir von uns selbst weg- und auf andere hinblicken können (‚ Dezentrierung ‘). Das soll die Fähigkeit der ‚ Perspektivenübernahme ‘ erklären. Unser philosophisches Problem der Fremdwahrnehmung bleibt von ihr jedoch unberührt.

Ein anderer, aber ähnlicher Erklärungsansatz beruht auf der Idee der Simulation (Goldman 2006, Shanton & Goldman 2010). Er geht davon aus, dass wir uns zumindest selbst als Subjekte kennen. Wenn wir uns schämen, spüren wir das psychische Erleben des ‚in den Boden Sinkens‘, die Wärme in unseren Wangen oder sehen unsere Röte im Spiegelbild. Wenn wir nun jemand erröten sehen, dem das Eis herunterfällt, können wir unsere Idee von der Scham auf ihn übertragen. Wir simulieren also, wie wir uns in einem ähnlichen Fall fühlen würden und projizieren es auf den Anderen.

Ist das Fremdwahrnehmung im eigentlichen Sinne? Es gibt Grund zur Skepsis. Die Ideen der Projektion und Simulation beinhalten nämlich eine Verdopplung. Einerseits gibt es den Menschen in unserer Umwelt, der sich analog zu uns verhält, und andererseits unsere Simulation, die in unseren Vorstellungen abläuft. Selbst wenn die Schamesröte genau unserer eigenen entspricht, könnte die andere Person in Wirklichkeit etwas anderes empfinden. Ein direktes Verhältnis zu ihr, also echte Fremdwahrnehmung, kommt auch in den Ideen der Simulation und Projektion nicht vor.

Ein weiteres Beispiel kann uns helfen zu verstehen, dass Projektionen von uns selbst auf andere Fremdwahrnehmungen nicht ersetzen: Wenn wir FreundInnen von einem Ereignis erzählen, fühlen sie sich gelegentlich dazu veranlasst zu erklären, dass sie uns sehr gut verstünden. Sie betonen, dass sie selbst schon einmal in einer vergleichbaren Lage gewesen seien – von der sie sogleich selbst zu erzählen beginnen. In diesem Fall projizieren sie also ihre Erinnerungen über sich selbst auf uns, weil sich vergleichbare Umstände ergeben haben. Handelt es sich aber wirklich um direktes Einfühlen im Sinne eines Mit-Erlebens, wenn wir von uns und dem individuellen Wissen von anderen Personen auf ihr gegenwärtiges Erleben schließen?Bild 2: Wie können wir uns sicher sein, unser Gegenüber zu verstehen, statt nur auf sie oder ihn zu projizieren, was wir selbst denken? – Das Problem der Fremdwahrnehmung.Bild 2: Wie können wir uns sicher sein, unser Gegenüber zu verstehen, statt nur auf sie oder ihn zu projizieren, was wir selbst denken? – Das Problem der Fremdwahrnehmung.

Der Philosoph Max Scheler widerspricht entschieden. Für die Situation, in der ein Freund von sich auf uns projiziert, sagt er: „Man macht dann, einigermaßen befremdet, seinen ‚Freund‘ darauf aufmerksam, daß die eigene Lage doch ‚ein wenig anders‘ liege und sucht mit aller Anstrengung dem Blick des begeisterten Erzählers von dessen Leben wieder die Richtung auf seinen Zustand, seine Sorge zu geben“ (Scheler, 1973, 57). Scheler bestreitet also, dass Projektionen und Simulationen die ursprüngliche Erfahrung der Einfühlung fundieren. Ebenso wie die Theorie des Geistes handelt es sich bei Projektionen nur um sekundäre Empathie, während von tatsächlicher Fremdwahrnehmung nur bei der primären Empathie gesprochen werden kann (Fuchs, 2020).

Was ist nun primäre Empathie? Dafür findet Thomas Fuchs eine hilfreiche Beschreibung: „Wenn wir jemanden in Zorn ausbrechen sehen, nehmen wir sein Gefühl unmittelbar im Ausdruck und Verhalten wahr“ (Fuchs, 2020, S. 123). Die zentralen Merkmale sind dabei ‚Unmittelbarkeit‘ und ‚Ausdruck‘. Die Unmittelbarkeit bezieht sich auf die direkte Form des Erlebens von Ausdrucksgestalten anderer Menschen (vgl. Plessner, 2011): Die Schamesröte im Gesicht unseres Mitmenschen ist für uns eine leibliche Erfahrung, die uns eine eigene Reaktion abverlangt (z. B. Augen niederschlagen). Mit unseren Mitmenschen verbindet uns die ‚Zwischenleiblichkeit‘ als Grundlage unseres sozialen Lebens. Damit ist nicht gemeint, dass den Wahrnehmungen in der primären Empathie keine Bewertung der Situation mit zugrunde liegt. Sie ergibt sich nur – im Kontrast zu Bewertungsvorgängen der sekundären Empathie – direkt aus dem Mit-Erleben der fremden Emotion. Der phänomenale und der wertende Aspekt lassen sich auf der Stufe der primären Einfühlungswahrnehmung eben nicht trennen.Bild 3: Zwischenleibliche Resonanz.Bild 3: Zwischenleibliche Resonanz.

„Daß Jemand mir freundlich oder feindlich gesinnt ist, erfasse ich in der Ausdruckseinheit des ‚Blickes‘, lange bevor ich etwa die Farben, die Größe der ‚Augen‘ anzugeben vermag“ (Scheler, 1973, S. 281). Wir empfinden die primäre Empathie als grundlegende Erfahrung, auf der alle anderen zwischenmenschlichen Beziehungen aufbauen. Vielmehr gehört sie zu den selbstverständlichsten Phänomenen in unserer Lebenswelt. Subjektivität wird immer schon durch intersubjektive Resonanzen geformt, sie entsteht als Wechselwirkung von Ausdruck und Eindruck. Fremdwahrnehmung ist keine einfache Registrierung unseres Gegenübers, sondern etwas Ursprüngliches, das uns betrifft, bevor wir darüber zu reflektieren beginnen: Z. B. erschreckt uns der Zorn des Anderen, bevor wir darüber nachzudenken beginnen.

Gegenüber diesem ‚primären Empathieerleben‘ sind die Fähigkeiten mentale Zustände zu simulieren und zu projizieren wie auch die Entstehung einer Theorie des Geistes nachträglich, also ‚sekundär‘ (zur Vertiefung dieser Position siehe Zahavi, 2014).

Fazit und Ausblick: Was lernen wir aus dem Problem der Fremdwahrnehmung für einen empathischeren Umgang miteinander?

Wie können wir also unseren Mitmenschen begegnen und einen Zugang zu ihrem je eigenen Erleben gewinnen? Primäre und sekundäre Empathie, also zwischenleibliche Unmittelbarkeit einerseits und die Fähigkeit uns in Situationen anderer Menschen bewusst hineinzuversetzen andererseits, sind Bestandteile unseres Miteinanders. Der Anwesenheit unserer Mitmenschen werden wir aber nur durch primäre Empathie bewusst. Wer seine Mitmenschen als solche gar nicht erkennt, kann bspw. im eigentlichen Sinne auch nicht grausam oder roh zu ihnen sein. Das stellte schon Scheler fest: „Wer z. B. einen Menschen für ein Stück Holz hält und den Gegenstand so ‚behandelt‘, kann auch nicht ‚roh‘ gegen ihn sein“ (Scheler, 1973, S. 25).Bild 4: Der Gefühlsausdruck wurde bereits bei Charles Darwin Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung.Bild 4: Der Gefühlsausdruck wurde bereits bei Charles Darwin Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung.

Der Philosoph Emmanuel Lévinas (2002) wies allerdings darauf hin, dass es keine einfache Vorgehensweise gibt, um empathischer zu sein, denn die Fremdwahrnehmung konfrontiere uns nicht einfach mit einer wohlgeordneten und eindeutigen Menge von Gefühlen. Im Gegenteil sind unsere Mitmenschen stets einzigartig, und ihre Persönlichkeit kennenzulernen ist ein unerschöpflicher Prozess. Damit zielt Lévinas auf die bedeutsame ethische Dimension der Empathie. Einerseits ist Empathie eine Grundvoraussetzung dafür, andere Subjekte in ihren Ausdrucksqualitäten zu erkennen. Andererseits beinhaltet sie aber auch eine ethische Qualität, nämlich andere Personen in ihrer ganz eigenen Werthaftigkeit zu erfassen und das eigene Handeln danach auszurichten.

Dieser Gedanke lässt sich an einem alltäglichen Beispiel verdeutlichen: Wer auf dem Bürgersteig einer anderen Person begegnet und begrüßt wird, steht vor der Möglichkeit, sie zurück zu grüßen oder es sein zu lassen. In jedem Fall ist die oder der Andere schon in unser Leben getreten. Wer den Gruß verweigert, verschließt sich gegenüber seinem Mitmenschen. Wer sich hingegen zum Gruß durchringt, öffnet sich für das Wechselspiel der primären Empathie – Ausdruck und Eindruck –, macht sich also verwundbar, aber eben auch offen für die Persönlichkeit des Anderen, also dafür sie vertiefend zu erfahren.

Wir müssen also lernen, dass wir uns der Verantwortung gegenüber anderen Menschen nicht entziehen können. Wer seine Mitmenschen ignoriert, trifft eine Entscheidung dagegen, Empathie zur Vertiefung sozialer Beziehungen zu erleben. Wer die Augen niederschlägt, ohne zu grüßen, oder weghört, wenn jemand um Hilfe ruft, versucht sich vor der ethischen Dimension der Empathie zu verschließen, trifft damit jedoch letztlich dennoch eine ethisch bedeutsame Entscheidung.

Bildquellen

Bild 1: StockSnap via Pixabay (https://drive.google.com/drive/folders/1AD5ti2EU7P5D4VVTToa0g9yaJkTVm9lh, Lizenz:https://pixabay.com/de/service/license/).

Bild 2: StockSnap via Pixabay (https://pixabay.com/de/photos/frauen-m%c3%a4dchen-reden-l%c3%a4cheln-258..., Lizenz: https://pixabay.com/de/service/license/).

Bild 3: Eigentum von Mariangel Beatriz Mendoza de Wendt, 2020; (https://www.instagram.com/piyiart/?hl=de, mit freundlicher Zustimmung der Künstlerin)

Bild 4:  Aus: Darwin, C. (1872). The expression of the emotions in man and animals. John Murray, S. 299. Nach einer Fotografie von Guillaume-Benjamin Duchenn)

Literaturverzeichnis

Descartes, R. (2008). Meditationes de prima philosophia. Meiner.

Fuchs, T. (2020). Verteidigung des Menschen. Suhrkamp.

Goldman, A. (2006). Simulating Minds: The Philosophy, Psychology, and Neuroscience of Mindreading. Oxford University Press.

Goldman, A. I. (2012). Theory of mind. In E. Margolis, R. Samuels, & S. P. Stich (Eds.), Oxford handbook of philosophy and cognitive science (S. 402–424). New York, NY: Oxford University Press.

Gopnik, A., & Wellmann, H. (2007). Why the Child's Theory of Mind Really Is a Theory. Mind & Language, 7(1/2), 145 – 171.

Lévinas, E. (2002). Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriorität. Alber.

Piaget, J. (1978). Das Weltbild des Kindes. Klett Kotta.

Plessner, H. (2011). Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin, Boston: De Gruyter.

Premack, D., & Woodruff, G. (1978). Does the chimpanzee have a theory of mind? Behavioral and Brain Sciences, 1(4), 515-526.

Scheler, M. (1973). Wesen und Formen der Sympathie. Francke.

Shanton, K., & Goldman, I. (2010). Simulation Theory. Wiley Interdisciplinary Reviews: Cognitive Science, 1(4), 527-538.

Zahavi, D. (2014). Self and other: Exploring subjectivity, empathy, and shame. Oxford University Press.

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