Lerntypen – Warum es sie nicht gibt und sie sich trotzdem halten

Es ist ein verbreiteter Mythos, dass für optimales Lernen individuelle Lerntypen (z. B. visuell) identifiziert und gezielt unterstützt werden sollten. Die wissenschaftlichen Befunde zeigen klar, dass eine Ausrichtung von Lernumgebungen an „Lerntypen“ keine förderlichen Effekte hat. Wieso hält sich der Mythos dennoch so hartnäckig und was können wir dagegen tun?

Lernen bestmöglich zu fördern und zu unterstützen ist ein zentrales Anliegen in Schule, Beruf und vielen weiteren Lebensbereichen. Der hohe Stellenwert von Lernbedingungen wurde zuletzt insbesondere durch die Corona Pandemie deutlich. Über alle Berufe und Altersgruppen hinweg war Lernen maßgeblich, um neue Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Praktiker:innen und Forscher:innen suchen deswegen seit Jahrzehnten beständig nach Wegen, um individuelles Lernen bestmöglich unterstützen zu können. Forbes veröffentlichte in diesem Zusammenhang zu Beginn dieses Jahres einen Artikel mit 15 Vorschlägen zum kostengünstigen Steigern von Lernerfolgen durch Technologie (Forbes Technology Council, 2022). Gleich an erster Stelle wird darin angeführt, dass individuelle Lerntypen identifiziert und gezielt unterstützt werden sollen. Damit ist gemeint, dass sich Personen in beispielsweise visuell, auditiv und haptisch Lernende einteilen lassen und via den entsprechenden Kanälen am effektivsten lernen. So wird ein „visueller Lerntyp“ beschrieben als jemand, der Informationen besser einprägen kann, wenn diese grafisch, etwa in Form von Schaubildern, Skizzen oder Abbildungen veranschaulicht sind. Dies erscheint als eine eingängige Erkenntnis, die auch von vielen Praktiker:innen umfassend aufgegriffen wird, gerade da das Konzept der Lerntypen intuitiv betrachtet Sinn ergibt – schließlich sind Menschen jeweils unterschiedlich. Ein aktueller Literaturüberblick über 37 Studien mit über 15.000 Pädagog:innen fand, dass durchschnittlich 89.1% der Befragten glauben, dass Unterrichtsmethoden zu den Lerntypen ihrer Schüler:innen passen sollten; und Lehrpersonen zu ähnlich hohem Ausmaß ihren Unterricht auch auf diese anpassen sollten (Netwon & Salvi, 2020).

Aber: Wissenschaftlich betrachtet ist nichts dran an den Lerntypen. Es handelt sich um einen in unserer Gesellschaft weit verbreiteten Mythos. Die wissenschaftlichen Fakten und die zahlreichen Studien zu diesem Thema zeigen klar, dass es so etwas wie „Lerntypen“ nicht gibt und eine Ausrichtung von Lernumgebungen basierend auf vermeintlichen „Lerntypen“ keine förderlichen Effekte auf das Lernen hat (Aslaksen & Lorås, 2018; Pashler et al., 2008). Wieso hält sich der Mythos dennoch so hartnäckig und was können wir dagegen tun? Zur Beantwortung dieser Fragen erklären wir zunächst, was mit „Lerntypen“ gemeint ist, was die wissenschaftlichen Befunde dazu sagen und weshalb „Lerntypen“ auch bereits theoretisch betrachtet keinen Sinn ergeben.

Was ist mit dem Konzept der Lerntypen gemeint?

Individuen unterscheiden sich in ihren Anlagen und Fähigkeiten und bevorzugen unterschiedliche Lernaktivitäten. Um dem gerecht zu werden, wurde das Konzept der „Lerntypen“ entwickelt. Frederic Vester propagierte 1975 in seinem Buch „Denken, Lernen, Vergessen“ vier Typen von Lernenden, die sich Wissen unterschiedlich aneignen. Er unterscheidet auditive (s. auditiver Lerntyp), visuelle (s. visueller Lerntyp), haptische (s. haptischer Lerntyp) und kognitive Lernende. In neuerer Literatur wird als vierter Lerntyp neben visuell, auditiv und haptisch oftmals ein kommunikativer Lerntyp aufgeführt (z. B. Neuburger, 2009).

Bild 1: Übersicht vier häufig unterschiedener LerntypenBild 1: Übersicht vier häufig unterschiedener Lerntypen

Folgende Eigenschaften werden Personen, die dem jeweiligen Lerntyp zugeordnet werden, nachgesagt: Auditive Lernende gelten als Personen, die durch Hören und Sprechen lernen. Für diese seien mündliche Erklärungen besonders hilfreich. Der visuelle Lerntyp lernt demgegenüber durch Beobachtungen und profitiert besonders von Grafiken, Diagrammen und Bildern, in denen Informationen aufbereitet sind. Visuell Lernende würden zudem lieber Texte lesen als Inhalte hören. Kennzeichnend für den haptischen Lerntyp ist das Lernen durch Anfassen und Fühlen sowie praktische Erfahrung und Üben. Vom kommunikativen Lerntyp wird schließlich gesagt, dass dieser besonders von Gesprächen, Diskussionen und einem interaktiven Austausch profitiert (Looß, 2001; Neuburger, 2009). Der ursprünglich von Vester vorgeschlagene „kognitive Lerntyp“ wird von diesem beschrieben als jemand, der durch den Intellekt lernt. Logisch betrachtet passt dieser Lerntyp nicht zu den anderen, schließlich liegen auch beim Lernen mit auditiven, visuellen und haptischen Informationen intellektuelle Leistungen vor.

Um Lernen möglichst effektiv zu gestalten, sollen gemäß des Konzepts der Lerntypen Informationen so präsentiert werden, dass sie durch den jeweils bevorzugten Wahrnehmungskanal aufgenommen werden können (Kirschner & van Merriënboer, 2013). Dabei ist es in der Tat wissenschaftlich bestätigt, dass sich Personen in ihren kognitiven Fähigkeiten unterscheiden. Die kognitive Fähigkeit, Informationen über unterschiedliche Sinneskanäle aufzunehmen, ist bei Individuen verschieden, ebenso wie die Fähigkeit, einzelne kognitive Prozesse auszuführen. Diese individuellen Unterschiede in den Lernvoraussetzungen aufzugreifen, ist sinnvoll, um erfolgreiches Lernen zu ermöglichen. Im Gegensatz dazu kategorisieren „Lerntypen“ Personen danach, wie sie Wissen aufnehmen und nicht danach, wie gut sie dies tun (Willingham, Hughes & Dobolyi, 2015). Die Annahme des Konzepts der Lerntypen ist dabei, dass die individuellen Präferenzen der Lernenden für bestimmte Sinneskanäle unabhängig von ihren kognitiven Fähigkeiten und unabhängig von den Lerninhalten sind und bedeutsame Implikationen für die Gestaltung von Lernprozessen haben. Daraus folgt also, dass Lehrpersonen für einen hochwertigen Unterricht unterschiedliche Unterrichtsmaterialien erstellen sollten – wobei es hier nicht um eine Passung zum Thema, dem Vorwissen oder der Motivationen der Schüler:innen geht, sondern darum, den unterschiedlichen „Lerntypen“ der Schüler:innen gerecht zu werden.

Was sagt die Forschung: Gibt es individuelle „Lerntypen“?

In Lernsituationen bevorzugen Schüler:innen meist bestimmte Lernmethoden. Gefragt, welchem Lerntyp Personen angehören, haben die meisten eine klare Antwort parat: Manche berichten, dass sie am liebsten mit visuellen Materialien lernen, andere schwören auf auditive Prozesse. Diese Selbsteinschätzung stützt sich oft auf die Wahrnehmung persönlicher Präferenzen. Die Gründe hierfür liegen neben den Lerninhalten typischerweise in der Persönlichkeit sowie Einschätzungen und Gefühlen zu dem jeweiligen Zeitpunkt (Looß, 2001). Diese teils sehr veränderbaren Einflussgrößen implizieren, dass individuelle Vorlieben für verschiedene Lernwege nicht konstant sind, was bereits einer Einteilung von Personen in einzelne Lerntypen widerspricht. Des Weiteren lässt sich eine bevorzugte Präsentationsart von Informationen (z. B. visuell) häufig darauf zurückführen, dass die lernende Person Aufgaben bevorzugt, hinsichtlich derer sie eine hohe Kompetenz hat und sich entsprechend Erfolg erhofft.

Präferenzen sind in der Regel auch vom jeweiligen Lerngegenstand abhängig. Stellen Sie sich beispielsweise vor, Ihnen würde gesagt: „Ich möchte Ihnen etwas beibringen. Möchten Sie es lieber lernen, indem Sie eine Power-Power Präsentation dazu ansehen, indem Sie einen Text dazu lesen oder es als Hörtext anhören?“ Können Sie diese Frage einfach so beantworten oder würden Sie gerne zunächst nachfragen, um was es sich genau handelt, das Sie lernen sollen? Das Konzept der Lerntypen geht allerdings davon aus, dass Individuen sich für einzelne Lernkanäle entscheiden und mit diesen besser lernen als mit anderen – unabhängig davon, welche Inhalte sie lernen. Die Berücksichtigung einzelner Lerntypen scheitert demnach bereits am Versuch, Lernende verlässlich entsprechend zu kategorisieren und ihnen einzelne Lerntypen zuzuweisen. Dennoch werden immer wieder Fragebögen und Kategorienschemata herangezogen, um solche Einteilungen vorzunehmen (z. B. Neuburger, 2009).

„Lerntypen“ sind also nicht unabhängig von individuellen Fähigkeiten und den jeweiligen Lerninhalten. Doch wie verhält es sich mit dem Hauptargument von Vertreter:innen des Konzepts der Lerntypen?

Was sagt die Forschung: Bringt die Berücksichtigung individueller „Lerntypen“ etwas?

Zur Erinnerung: Das Hauptargument für “Lerntypen” ist, dass die jeweiligen Lerntypen über ihre entsprechenden “Lernkanäle” besser lernen sollten als über andere Kanäle. Visuell Lernende sollten also beispielsweise besser mit visuellen Informationen lernen als mittels auditiver oder haptischer. Haben Lernende eine starke Typenpräferenz, müsste sich ihre Lernleistung verbessern, wenn die Vermittlung von Inhalten auf den jeweiligen Lerntyp hin angepasst wäre. Ohne experimentelle Befunde hierfür bliebe vom Konzept der Lerntypen nicht mehr übrig als die basale Erkenntnis, dass unterschiedliche Lernende unterschiedliche Interessen, Hintergründe und Fähigkeiten haben.

Zahlreiche aktuelle Literaturüberblicke belegen klar, dass es keine belastbaren Belege dafür gibt, dass die Anpassung der Unterrichtsmethoden an die angenommenen Lerntypen einzelner Schüler:innen deren Lernleistung verbessert (Aslaksen & Lorås, 2018; Pashler et al., 2008). Insbesondere gibt es zahlreiche, sorgfältig kontrollierte Experimente, in denen die entsprechende Annahme getestet wurde. Beispielhaft sei hierzu eine Studie von Rogowsky et al. (2015) angeführt: Die Teilnehmer:innen der Studie wurden anhand eines etablierten Fragebogens entweder einem auditiven oder einem visuellen Lerntyp zugeordnet. Beiden Gruppen wurde ein Wissenstest sowohl in verbaler als auch schriftlicher Form gegeben. Die Ergebnisse zeigten, dass kein Zusammenhang zwischen dem Lerntyp und den Fähigkeiten, Hörverstehensaufgaben oder Leseverstehensaufgaben zu bearbeiten, ermittelt werden konnte. Für ein zweites Experiment wurden die Teilnehmer:innen zufällig in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe erhielt Informationen in Form eines Hörbuchs, die andere Gruppe in Form eines schriftlichen Texts. Inhaltlich unterschieden sich die Informationen nicht. In den folgenden schriftlichen Wissenstests sowohl direkt nach der Präsentation als auch nach einem zeitlichen Abstand von zwei Wochen fanden sich keine Hinweise für eine Beziehung zwischen dem Lerntyp und der dazu passenden Unterrichtsmethode: Lernende lernten nicht besser, wenn die Methode zu ihrem Lerntyp passte.

Bild 2: Visualisierung der Studie von Rogowsky et al. (2015) zu den ausbleibenden Effekten vermeintlicher LerntypenBild 2: Visualisierung der Studie von Rogowsky et al. (2015) zu den ausbleibenden Effekten vermeintlicher Lerntypen

Neben diesen klaren Befunden verweisen Forschungsergebnisse auch darauf, dass die Identifizierung des vermeintlichen Lerntyps keinen Einfluss darauf hat, welche Präferenzen Personen für verschiedene Lernmethoden berichten und auf welche Art und Weise sie sich entscheiden zu lernen (Husmann & O'Loughlin, 2018; Lopa & Wray, 2015).

Die empirischen Befunde sprechen eine eindeutige Sprache: Ein Ausrichten der Lernumgebung nach den individuellen Präferenzen der Lernenden bietet keine Vorteile. Aber handelt es sich bei Lerntypen überhaupt um eine Theorie, die auf einer soliden theoretischen Basis steht? Auch hier ist die Antwort eindeutig: Nein. Das Lerntypenkonzept hat aus psychologischer Sicht drei zentrale Defizite, die im Folgenden erläutert werden.

Theoretische Probleme des Konzepts der Lerntypen

1. Präferenzen sind nicht gleich Eigenschaften
Eine Beobachtung in einer bestimmten Lernsituation (z. B. “Ich kann mir diesen bestimmten Sachverhalt gerade am besten über ein Schaubild merken”) erlaubt keineswegs den Schluss auf ein überdauerndes Merkmal einer Person unabhängig von Lernsituation und Lerngegenstand. Das sogenannte Konsistenzparadox besteht darin, dass wir unser eigenes und das Verhalten anderer intuitiv als sehr konsistent über die Zeit hinweg einschätzen, der Zusammenhang zwischen Verhaltensweisen zu verschiedenen Zeitpunkten in Wirklichkeit aber sehr gering ist (Heckhausen, 1989). Versuche, Personen in Typen einzuteilen, waren und sind außerhalb der Wissenschaft (und besonders in der Esoterik) populär, jedoch zeigt sich in der psychologischen Forschung, dass die meisten menschlichen Merkmale nicht in Form von unterschiedlichen Kategorien vorliegen, sondern jede Person eine unterschiedliche Ausprägung auf jedem dieser Merkmale hat. Beispielsweise lassen sich Personen nicht sinnvoll in verschiede Persönlichkeitstypen einteilen, sondern besser anhand der Ausprägungen relevanter Persönlichkeitsmerkmale (wie etwa Gewissenhaftigkeit oder Verträglichkeit) unterscheiden. Auch für das Lernen gilt dabei: Individuen sind nicht bestimmten Typen zuordenbar, sondern haben jeweils ein Merkmalsprofil auf verschiedenen Dimensionen.

2. Lernen ist nicht gleich Wahrnehmung

Lerntypenkonzepte, die nach Sinneskanälen differenzieren, gehen von der naiven Vorstellung aus, dass Lernen gleichbedeutend mit der Aufnahme von Informationen über die Sinnesorgane sei. Ein wichtiges Ergebnis der Kognitionspsychologie ist aber, dass der überwiegende Teil der Gedächtnisinhalte völlig unabhängig von irgendeiner Sinnesmodalität gespeichert wird (Willingham, 2005). Eine Ausnahme ist das perzeptuelle Gedächtnis, in dem unter anderem Reize unabhängig von bewussten Verbalisationen gespeichert werden. Dieses dient jedoch in erster Linie der Wiedererkennung eben dieser und hat keine wesentliche Bedeutung für den Wissens- oder Kompetenzerwerb. Lernen ist zum überwiegenden Teil nicht die Aufnahme von Informationen, sondern deren Verarbeitung. „Ob Ereignisse oder Vorkommnisse in der Umwelt registriert, verarbeitet, anschlussfähig für unser Denken und Handeln und somit sinnvoll werden, entscheiden nicht die Sinne“ (Kahlert, 2007, S. 1).

Bild 3: Lernen im Prozess der Informationsaufnahme und -verarbeitungBild 3: Lernen im Prozess der Informationsaufnahme und -verarbeitung

Ob Informationen vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis gelangen, hängt davon ab, wie stark sie elaboriert werden. Elaboration bedeutet ein Verknüpfen von neuen Informationen mit bereits bestehenden Wissensstrukturen. Entscheidend für das Lernen ist, welche Operationen das Gehirn mit einem Inhalt vollzieht, zum Beispiel wie oft er wiederholt wird oder an wie viele bereits vorhandene Inhalte er angeknüpft werden kann. Nicht der Kanal der Eingangsinformation ist für effektives Lernen entscheidend, sondern kognitive Bedingungen wie unterschiedliche Begabungen, unterschiedliche Entwicklungs- und Vorwissensstände und unterschiedliche Motivationsausprägungen.

3. Lernen ist nicht gleich Merken

Das dritte zentrale Missverständnis des Lerntypenkonzepts liegt in der Gleichsetzung der Begriffe ‚Lernen‘ und ‚sich etwas merken‘. Visuell, auditiv, oder haptisch können ein Bild, eine Abfolge von Buchstaben, eine Lautfolge oder eine sensorische Empfindung aufgenommen und im Gedächtnis gespeichert werden. Selbst wenn Personen hierfür einen präferierten oder gar tatsächlich überlegenen Kanal hätten, würde dies sehr wenig darüber aussagen, wie sie am besten lernen, denn Lernen geht über Merken hinaus, es betrifft das Verstehen von Bedeutungen, das Erfassen von Sinn und das Lösen von Problemen. All diese kognitiven Prozesse basieren auf Veränderungen von Strukturen im Gehirn. An jedem Lernvorgang ist das Gedächtnis als Speicherinstanz beteiligt – ganz egal, ob neue Verhaltensweisen, neues Wissen, neue Kompetenzen oder neue Problemlösefertigkeiten angelegt werden. Aber die entscheidenden Prozesse geschehen nicht bei der Informationsaufnahme, sondern bei der Informationsverarbeitung. Dass etwas effektiv gelernt wird, hängt von vielfältigen Bezügen ab, in die der neue Gegenstand eingebettet wird (Weinstein, 1978).

Relevante Lernprozesse wie das Erfassen von Grammatikregeln, das Herleiten einer mathematischen Formel, das Verstehen einer chemischen oder physikalischen Gesetzmäßigkeit, die Unterscheidung von Argumentationsstrategien im Deutschunterricht und vieles mehr erfordern abstrakte kognitive Leistungen. Ob Menschen diese erfolgreich bewältigen, hängt nicht von Sinnespräferenzen ab, sondern von ihrer Fähigkeit, Informationen im Gehirn einzuordnen, abzugleichen und auszudifferenzieren. Das Partizip, binomische Formeln oder die Photosynthese lernt man weder visuell noch auditiv und auch nicht haptisch. Man versteht sie.

Warum sind Lerntypen trotzdem populär?

Die Bedingungen für jede Form von Lernen bei Individuen sind unterschiedlich ausgeprägt. Jeder Mensch lernt unterschiedlich. Es ist sinnvoll, die Frage zu stellen, wie Lernumgebungen so gestaltet werden können, dass sie einzelnen Lernenden möglichst gut gerecht werden. Normalerweise können, wie im Kontext Schule, die Lernvoraussetzungen jeder oder jedes einzelnen Lernenden nicht berücksichtigt werden. Aus didaktischer Sicht müssen Mittelwege zwischen einer Instruktion, die für alle gleich ist, und einer vollständigen Individualisierung gefunden werden. Das Lerntypenkonzept bietet hierbei eine scheinbar (!) einfache und gut handhabbare Einteilung, mit der Lehrpersonen den Eindruck haben, unterschiedlichen Lernvoraussetzungen gerecht zu werden. Gerade weil es sich bei der Individualisierung um ein extrem komplexes Problem handelt, entsteht ein Bedürfnis nach einfachen Lösungen. Weiterhin gibt es typische kognitive Verzerrungen, die zur Aufrechterhaltung des Lerntypenkonzeptes beitragen (vgl. Appel, 2020): Menschen bevorzugen Informationen, die sie bereits gehört haben und nehmen Informationen mit höherer Wahrscheinlichkeit wahr, wenn diese ihren Vorannahmen entsprechen. Fehlinformationen haben auch dann einen anhaltenden Einfluss auf das Erleben und Verhalten, wenn sie längst durch Gegenargumente widerlegt wurden.

Schadet aber doch auch nicht?

Nun könnte man natürlich sagen, Lerntypen bringen zwar nichts, würden aber zumindest ja auch nicht schaden. Jedoch ist es durchaus problematisch, Lernende anhand vermeintlicher Sinnespräferenzen zu kategorisieren. Erstens kann es passieren, dass diese falsche Theorien über sich selbst und ihr Lernverhalten entwickeln, welche sie schließlich in ihrem Lernen einschränken (Vasquez, 2009). Zweitens könnten Lernende aufgrund der Zuordnung zu einem Lernstil in eine Schublade gesteckt und demotiviert werden. Beispielsweise kann eine Schülerin, die als „auditive Lernerin“ eingestuft wird, zu dem Schluss kommen, dass eine Beschäftigung mit visuellen Themen wie Malerei für sie sinnlos sei. Drittens geht die Zeit, die Lehrpersonen in die Konzeption lerntypengerechten Unterrichts stecken, auf Kosten von Zeit für sinnvolle Maßnahmen der Individualisierung. Dem Konzept der Lerntypen folgend müssten Lehrkräfte schließlich idealerweise vier oder mehr Versionen ihrer Unterrichtsmaterialien erstellen, um den Lerntypen ihrer Schüler:innen zu entsprechen. Und viertens führt es zu einem Widerspruch, wenn Lehrpersonen ihren Schüler:innen kritisches Denken vermitteln sollen, dieses bei der Überprüfung ihres didaktischen Handelns selbst aber nicht anwenden. Der anhaltende Glaube an Lerntypen schwächt die Glaubwürdigkeit von Pädagog:innen und schafft ungerechtfertigte und unrealistische Bildungserwartungen.

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Literaturverzeichnis

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