Was uns Blicke verraten – Soziales Verstehen in der frühen Kindheit und bei Personen mit Autismus

Täglich werden wir mit unzähligen sozialen Situationen konfrontiert: Wir führen Gespräche mit unseren Mitmenschen, zeigen kooperatives Verhalten, beziehen Meinungen Anderer in unsere Überlegungen ein und vieles mehr. Verschiedene Kompetenzen, die uns das Verstehen von sozialen Situationen ermöglichen, befähigen uns in diesen Interaktionen zu einem angemessenen Verhalten. Aufgrund der Forschungsbefunde wurde lange Zeit angenommen, dass diese Kompetenzen nicht angeboren seien, sondern dass sie sich im Laufe der ersten Lebensjahre entwickeln. Im Autismus – eine tiefgreifende Entwicklungsstörung – scheinen diese Fähigkeiten zum sozialen Verstehen häufig sogar auszubleiben oder sind stark eingeschränkt. Nun bringt die Analyse des Blickverhaltens neue Erkenntnisse in diesem Gebiet, welche in diesem Beitrag besprochen werden.

Peter mag seine Tante Anna sehr. Heute trägt sie einen neuen Hut – einen Hut, den Peter furchtbar hässlich findet. Peter denkt bei sich, dass seine Tante einfach dämlich damit aussieht und dass ihr alter Hut ihr viel besser stand. Als aber Tante Anna Peter fragt: „Wie gefällt dir mein neuer Hut?“ antwortet Peter: „Oh, er ist sehr hübsch“ (Vogeley et al., 2001).

Solche und ähnliche Situationen kennen wir aus unserem Alltag. Erwachsene, aber auch schon Kinder im Grundschulalter können Peters Motive verstehen: Jeder von uns greift mal auf eine „Notlüge“ zurück, um das soziale Leben für alle angenehmer zu gestalten und andere nicht zu enttäuschen. Sogar Kinder im Vorschulalter haben beachtliche Kompetenzen im Verstehen von sozialen Situationen. Aber welche Kompetenzen verbergen sich hinter Peters Verhalten und sind alle Menschen zu solchem Verhalten fähig?

Entwicklung des sozialen Verstehens

Um derart reagieren zu können wie im vorherigen Beispiel, müssen wir die Perspektive unserer Mitmenschen einnehmen können. Zudem müssen wir uns selbst und anderen inneres Erleben wie Gedanken, Wünsche, Überzeugungen oder Hoffnungen zuschreiben können. Diese grundlegende Fähigkeit des Menschen, sich selbst und anderen mentale Zustände zuzuschreiben, bezeichnet man als Theory of Mind oder als naive Alltagspsychologie. Wir nutzen sie zur Erklärung und Vorhersage von Handlungen (Sodian & Thoermer, 2006). Theory of Mind befähigt uns also nicht nur zur „Notlüge“ sondern ermöglicht, dass wir in sozialen Interaktionen und Beziehungen überhaupt angemessen reagieren können.

Die Fähigkeit, sich in die Situation des anderen hineinzuversetzen und mentale Zustände anderer zu verstehen, wurde uns aber offensichtlich nicht in die Wiege gelegt. Beispielsweise kann ein kleines Kind unter drei Jahren den Zusammenhang zwischen dem Sehen und dem Wissen noch nicht herstellen (Sodian & Thoermer, 2006): Nach dem es selbst gesehen hat, was sich in einer Schublade befindet, erwartet es, dass auch eine andere Person den Inhalt der Schublade kennt, obwohl diese Person niemals einen Blick in die Schublade geworfen hat. Erst in den nächsten Monaten wird das Kind die Bedeutung vom Sehen als einem Zugang zum Wissen lernen.

Weiterhin scheint das Verstehen falscher Überzeugungen (in engl. false beliefs) für kleine Kinder besonders schwierig zu sein. Mit einer falschen Überzeugung ist hier eine von dem realen Zustand der Welt abweichende mentale Repräsentation der Welt gemeint. Eine falsche Überzeugung entsteht, wenn wir glauben zu wissen, wie eine Sache ist, obwohl unser Wissenstand nicht mit dem aktuellen Stand der Realität übereinstimmt. Zum Beispiel denkt eine Person, dass ihre Handschuhe in ihrem Rucksack sind, weil sie sie dort zuletzt gesehen hat. Dass die Handschuhe von einer anderen Person inzwischen in den Schrank geräumt wurden, weiß sie nicht. Somit hat sie – ohne dass es ihr bewusst ist – eine falsche Überzeugung über den Ort der Handschuhe. Diese Überzeugung wird ihr Verhalten, nämlich das erfolglose Suchen der Handschuhe in ihrem Rucksack, leiten.

Noch mit drei Jahren gehen Kinder wie selbstverständlich davon aus, dass eine Person immer dem realen Zustand der Welt entsprechend handeln wird. Sie berücksichtigen nicht, dass eine Überzeugung einer Person, die mit der Realität übereinstimmt oder davon abweicht, das künftige Verhalten dieser Person beeinflussen wird. Erst um den vierten Geburtstag herum lernen sie solche Informationen über den mentalen Zustand einer Person in ihre Überlegungen einzubeziehen und können sprachliche Aufgaben, die das Verständnis falscher Überzeugungen überprüfen, kompetent lösen (Sodian & Thoermer, 2006).

Alle normal entwickelten Kinder erwerben die Theory of Mind bis zum Alter von etwa fünf Jahren (Clements & Perner, 1994). Nun lernen sie die Sichtweise anderer immer besser zu berücksichtigen und sie verstehen, dass andere Menschen unterschiedliche innere Zustände und somit auch von der realen Welt abweichende Überzeugungen haben können. Etwa ab dem sechsten Lebensjahr werden diese Kompetenzen noch differenzierter und die Fähigkeiten der Kinder, vielseitige soziale Situationen zu meistern, werden zunehmend besser.

Das soziale Verstehen im Autismus

Nicht nur Kinder in ihren ersten Lebensjahren, sondern auch Personen mit Autismus, haben in den oben beschriebenen und für die sozialen Interaktionen sehr wichtigen Kompetenzen Schwierigkeiten. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die sich durch Störungen in sozialen Interaktionen, Kommunikation und Imagination (Fantasietätigkeit) zeigt. Zudem zeigen Personen mit Autismus stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten. Als Erkrankung ist Autismus angeboren und die autistischen Verhaltensweisen können bereits in den ersten Lebensjahren erkannt werden. Obwohl er nicht heilbar ist, können durch gezielte Therapien die Kompetenzen der Betroffenen gefördert und die Beeinträchtigungen etwas vermindert werden (Frith, 2003). Da die autistischen Symptome sich in der Stärke ihrer Ausprägung häufig unterscheiden und der Grad der Beeinträchtigung bei den Betroffenen sehr unterschiedlich ausfallen kann, ist es sinnvoll, von Autismus- Spektrum-Störungen zu sprechen. Hierbei wird der Schweregrad der Symptomatik aufeinem Kontinuum beschrieben (Boraston & Blakemore, 2007), dessen Enden einerseits der schwerwiegende frühkindliche Autismus und andererseits die leichteste Form der autistischen Störungen, das Asperger- Syndrom, abbilden. Es kann angenommen werden, dass bei etwa 2 von 1000 Menschen eine Autismus-Spektrum-Störung vorkommt. Männer sind etwa drei Mal so häufig betroffen wie Frauen. Obwohl bei Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung häufig eine Intelligenzminderung vorliegt, weisen etwa 30% der Betroffenen eine normale oder sogar überdurchschnittliche Intelligenz auf (Fombonne, 2005). Je nach Schweregrad der autistischen Störung sind auch sprachliche Kompetenzen betroffen. Aufgrund der großen Heterogenität der Symptome können Personen mit Autismus sich in ihren Fähigkeiten stark unterscheiden: Manche sind aufgrund gravierender Beeinträchtigungen ihr Leben lang auf fremde Hilfe angewiesen, andere wiederum können mit Unterstützung ein selbständiges Leben führen und wieder andere können sogar einen anspruchsvollen Beruf erwerben und hohes Ansehen erreichen. Was aber bei den Betroffenen bleibt, ist das Gefühl vom „Anderssein“. Sogar bei hohen geistigen Fähigkeiten können sie in ihren sozialen Kompetenzen stark eingeschränkt sein (Frith, 2003).

Gemeinsam für alle autistischen Personen ist, dass sie in ihrer Wahrnehmung und Verarbeitung sozialer Informationen beeinträchtigt sind. Ihre Fähigkeiten zur Zuschreibung mentaler Zustände und zum Perspektivenwechsel sind eingeschränkt. Weiterhin haben sie Schwierigkeiten bei der Zuschreibung von Emotionen und im Verständnis von Ironie, Witz und Täuschungshandlungen. Diese Defizite werden im Sinne einer Beeinträchtigung der Theory of Mind interpretiert (Baron-Cohen, 2001; Baron-Cohen, Leslie & Frith, 1985) und diese scheint von einer spezifischen Art zu sein: Nur bei Aufgaben, die tatsächlich eine Zuschreibung mentaler Zustände erfordern, haben autistische Personen Schwierigkeiten. Ähnliche Aufgaben, die aber keine Mentalisierungsfähigkeit voraussetzen, lösen sie problemlos. Zudem ist die Leistung der Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in verschiedenen Theory of Mind-Aufgaben – im Vergleich zu anderen klinischen Gruppen mit ähnlichem Entwicklungsstand – deutlich schlechter. So konnten ähnliche Einschränkungen u.a. bei Personen mit Down- Syndrom oder bei Taubheit nicht gefunden werden, obwohl auch hier die Betroffenen Entwicklungsverzögerung in der Theory of Mind aufweisen (Sodian & Thoermer, 2006). Trotz der Einschränkungen können Personen mit Autismus Entwicklungsfortschritte erzielen, besonders bei guter Förderung. Jedoch weisen die meisten noch im Erwachsenenalter gravierende Defizite in diesem Bereich auf (Frith, 2003).

Explizite und implizite Theory of Mind

In der Forschung mit gesunden und autistischen Probanden wurde die Theory of Mind bisher hauptsächlich mit sprachlichen Aufgaben untersucht. Bei diesen Aufgaben wird der Versuchsperson eine explizite Antwort abverlangt. Mit dem Begriff „explizit“ ist hier gemeint, dass eine bewusste Entscheidung oder ein Urteil über einen Sachverhalt vom Befragten gefordert wird. Bei den expliziten Aufgaben kann die Antwort in Form einer verbalen Äußerung oder einer Handlung (z.B. Zeigen, Suchen) zum Ausdruck gebracht werden (Southgate, Senju & Csibra, 2007). Wie gesunde Kinder, können auch Personen mit einer leichteren autistischen Störung und hoher Intelligenz diese Art von Aufgaben meistern (Senju, Southgate, White & Frith, 2009), obwohl die Personen mit Autismus in alltäglichen sozialen Situationen Beeinträchtigungen zeigen. Allerdings erzielen sie die gleiche Leistung wie normal entwickelten Kinder meistens erst mehrere Jahre später und bei komplexeren Aufgaben bleiben die Schwierigkeiten bestehen (Frith, 2003). Da diese expliziten Aufgaben in der Durchführung relativ hohe sprachliche Kompetenzen voraussetzen, können sehr kleine Kinder und stärker beeinträchtigte autistische Personen nicht mit diesen Aufgaben untersucht werden.

Um das Problem der sprachlichen Anforderungen umgehen zu können, wird im Gebiet der Theory of Mind-Forschung seit Neuestem die Methode der Blickverhaltensanalyse eingesetzt. Seit Jahrzehnten findet diese Methode in vielen Bereichen der Säuglingsforschung ihre Anwendung. Hierbei wird das Blickverhalten der Babys bei der Betrachtung verschiedener Stimuli, wie Bilder oder Filmaufnahmen, aufgenommen und die Betrachtungszeit analysiert. Bevorzugt das Baby gewisse Aspekte des Gezeigten, sieht es z.B. eine Handlung länger an als eine andere, wird dies als Beleg dafür angesehen, dass es einen Unterschied zwischen den Handlungen bemerkt hat. Mit der Blickzeitmethode wurde u.a. das Verständnis der Säuglinge über die physikalische Welt untersucht.

In der Forschung von Theory of Mind machten erstmals Clements und Perner (1994) in ihrer Studie zur falschen Überzeugung bei 2,5 bis 4,5 Jahre alten Kindern davon Gebrauch. Ihre Ergebnisse zeigten, dass Kinder ab dem Alter von knapp drei Jahren die gestellte Aufgabe richtig interpretieren konnten, wenn ihr Blickverhalten ausgewertet wurde. Allerdings waren sie noch nicht in der Lage, eine richtige verbale – also explizite – Antwort in der gleichen Aufgabe zu geben. Deshalb nahmen Clements und Perner bei diesen Kindern ein implizites(einfaches) Verständnis von falscher Überzeugung an, wobei das explizite (reife) Verständnis noch fehlte. Unter dem „impliziten“ Verständnis oder Wissen kann ein intuitives und spontanes bzw. unbewusstes Wissen verstanden werden, das nicht verbalisierbar ist und kein bewusstes Urteil über den Sachverhalt beinhaltet (Clements & Perner, 1994). In der Theory of Mind-Forschung wird davon ausgegangen, dass Studien, die das Blickverhalten der Probanden untersuchen, implizite Kompetenzen in diesem Gebiet messen. Somit sind mit impliziten Aufgaben zur Theory of Mind meistens Blickzeitaufgaben gemeint, die zu ihrer richtigen Interpretation die Fähigkeit zur Zuschreibung mentaler Zustände voraussetzen, aber bei denen keine sprachliche Antwort verlangt wird.

Eine Studie in der den Versuchspersonen an einem Bildschirm oder Eyetracker-Gerät ein Film oder Bilder gezeigt werden und ihre Blicke auf diesem Stimulus ausgewertet werden. Ergebnisse aus neueren Blickzeitstudien lassen ein zumindest einfaches Verständnis für richtige und falsche Überzeugungen bereits bei Kindern im vorsprachlichen Alter vermuten. Onishi und Baillargeon (2005) untersuchten in ihrer Studie 15 Monate alte Babys. Sie präsentierten den Babys einen Film, in dem ein Akteur über den Ort eines Objektes eine falsche Überzeugung besaß. Später wurden den Babys zwei Szenen gezeigt. Zuerst sahen sie wie der Akteur seiner (falschen) Überzeugung entsprechend das Objekt an einem falschen Ort suchte. Danach bekamen sie gezeigt wie der Akteur, trotz seiner falschen Überzeugung, das Objekt am richtigen Ort suchte, also dort wo das Objekt tatsächlich auch war. Das Blickverhalten der Babys zeigte, dass sie überrascht waren, als der Akteur entgegen seiner falschen Überzeugung handelte und das Objekt am richtigen Ort suchte. Daraufhin folgerten Onishi und Baillargeon, dass Kinder bereits in diesem frühen Alter fähig sind, das Verhalten eines Akteurs anhand seiner richtigen oder falschen Überzeugung vorherzusagen. Surian, Caldi und Sperber (2007) nehmen aufgrund ihrer Studienergebnisse sogar bei 13 Monate alten Babys die Fähigkeit zur Zuschreibung von Überzeugung – und somit mentaler Zustände – bei anderen an.

Blickzeitstudien mit der Eyetracking-Technologie

Durch die technischen Fortschritte der letzten Jahre können nun immer genauere Analysen des Blickverhaltens vorgenommen werden. Mit einem Gerät namens Eyetracker können die Augenbewegungen der Untersuchten unmittelbar aufgezeichnet und später zeitlich und örtlich millisekunden- und millimetergenau analysiert werden. Dazu werden die Augen mit einem Infrarotlicht angeleuchtet und ihre Abbildung wird von einer Kamera aufgenommen (siehe Abbildung 3). Dabei gibt die Position der Pupillen Information darüber, welche Stelle auf dem Bildschirm gerade angesehen wird. Die Aufnahmen der Blickbewegungen zeigen uns also detailliert, auf welche Aspekte des Gezeigten der Blick gerichtet ist und wie lange das Gesehene betrachtet wird. Es wird angenommen, dass das, was momentan erblickt wird, auchGegenstand der geistigen Verarbeitung ist. Bei gesunden Erwachsenen wird die Eyetracking-Methode schon lange zur Untersuchung vom Blickverhalten bei verschiedenen Fragestellungen eingesetzt (Boraston & Blakemore, 2007). Seit einigen Jahren wird diese Methode auch in Bereichen der Säuglings- und Autismusforschung praktiziert.

In der ersten Eyetracking-Studie zur Entwicklung von Theory of Mind haben Southgate et al. (2007) gesunden zweijährigen Kindern einen Film gezeigt, indem ein Akteur beobachtet, wie eine Handpuppe einen Ball von einer Box in einer andere legt. Nach der Szene greift der Akteur durch eine Luke und holt den Ball aus der Box. Dann sehen die Kinder in einer weiteren Szene, wie der Akteur wieder das Verstecken des Balles beobachtet, sich aber danach wegdreht. Dadurch kann der Akteur nicht mehr sehen, wie die Puppe den Ball aus der Box und anschließend aus der ganzen Szene entfernt. Aus den Studien mit expliziten Aufgaben (u.a. Wellman & Liu, 2004) wissen wir, dass Kinder unter drei Jahren eine falsche Vorhersage über das Verhalten des Akteurs treffen. Vermutlich würden sie hier annehmen, dass der Akteur den Ball nicht suchen wird, weil der Ball nicht mehr da ist. Allerdings geben ihre Blickmuster ein ganz anderes Bild ab: Richtigerweise haben die Kinder erwartungsvoll zu der Luke und Box hingeschaut, die der Akteur, aufgrund seiner falschen Überzeugung, bei der Suche nach dem Ball bevorzugen sollte. Dass bei kleinen Kindern ein implizites Verständnis für Überzeugungen angenommen werden kann, haben auch Neumann, Thoermer und Sodian (2008) gezeigt. In ihrer Eyetracking-Studie fanden sie heraus, dass bereits 18 Monate alte Babys in ihrem antizipativen Blickverhalten erwarten, dass eine Person mit einer falschen Überzeugung auch dieser Überzeugung entsprechend „falsch“ handeln wird. Offenbar ist also schon bei Babys eine schnelle, unbewusste und automatische Verarbeitung von Information, die relevant für die Erschließung mentaler Zustände ist, vorhanden.

Der Einsatz der Eyetracking-Methode kann auch wichtige Aufschlüsse über die Art des Defizits bei Personen mit Autismus liefern. In ihrer Studie untersuchten Senju et al. (2009) Erwachsene mit und ohne Asperger- Syndrom. Ihre Ergebnisse zeigten, dass im Blickverhalten der Probanden mit Asperger- Syndrom bei einer Blickzeitaufgabe keine spontane Fähigkeit zur Zuschreibung mentaler Zustände gefunden werden konnte, obwohl sie die expliziten bzw. verbalen Aufgaben zur Theory of Mind richtig lösten. Somit scheint das Defizit bei der raschen, intuitiven Verarbeitung bestehen zu bleiben, auch wenn bei diesen sehr fähigen Personen mit Autismus im Erwachsenenalter ein explizites Verständnis besteht. In einer weiteren Studie mit autistischen und nicht-autistischen Kindern im Alter von etwa acht Jahren fanden Senju und Kollegen (in press) ähnliche Befunde. Anders als die gesunden Kinder, zeigten die autistischen Kinder bei einer Blickzeitaufgabe zu falschen Überzeugungenkeine spontane Fähigkeit zur Verhaltensvorhersage des Akteurs. Diese fehlende Kompetenz trat unabhängig von dem Sprachentwicklungsstand der autistischen Kinder auf. Allerdings sind die Befunde aus diesen beiden Studien die ersten ihrer Art. Um das Phänomen besser verstehen zu können bedarf es noch weiterer Forschung.

Möglichkeiten und Grenzen der Blickzeitstudien

Die Anwendung der Blickzeitmethode in der Theory of Mind-Forschung hat sich gelohnt: Ein spannendes Forschungsfeld mit der Unterscheidung zwischen impliziter und expliziter Theory of Mind eröffnet. Zudem sind die Möglichkeiten der Blickzeitmethode, die durch die Eyetracking-Technologie noch erweitert werden, längst nicht ausgeschöpft: Welchen Aspekten einer sozialen Szene schenken Personen mit Autismus ihre Aufmerksamkeit? Wie nehmen sie soziale Rollen wahr? Wonach sehen sie, wenn sie das Tun und Handeln eines Menschen beobachten? Unter dem Einsatz der Eyetracking-Technologie ist eine detaillierte Untersuchung der Betrachtung sozialer Situationen möglich. Allerdings wurden die Auffälligkeiten in der Wahrnehmung und Verarbeitung sozialer Informationen beim Autismus bisher kaum untersucht. Womöglich stehen diese Auffälligkeiten mit den teilweise schwerwiegenden Beeinträchtigungen der autistischen Personen in sozialen Interaktionen im engen Zusammenhang. Deswegen könnten die Ergebnisse aus solchen Studien für die Autismusdiagnostik und Entwicklung von effektiven Therapieverfahren von hoher Bedeutung sein. Und nicht zuletzt haben wir noch viel zur normalen Entwicklung im frühen Kindesalter zu lernen. Auch hier kann die Blickzeitmethode bei der Erfassung der Kompetenzen einen wichtigen Beitrag leisten.

Allerdings haben die Befunde aus den Studien, die die Blickzeitmethode angewendet haben, eine rege Diskussion in den Fachkreisen ausgelöst: Können die Fähigkeiten, die in expliziten Aufgaben gefunden werden, mit den Kompetenzen aus den Blickzeitstudien – die als implizite Aufgaben gelten – gleichgesetzt werden? Oder anders ausgedrückt: Messen die expliziten und impliziten Aufgaben überhaupt die gleichen Fähigkeiten? Manche Forscher nehmen an, dass die Entwicklung der expliziten oder „reifen“ Theory of Mind über implizite bzw. „einfache“ Fähigkeit zur Zuschreibung mentaler Zustände vonstatten geht (u.a. Surian et al., 2007). Diese Forscher gehen davon aus, dass mit den beiden Aufgabenformen die gleichen Kompetenzen gemessen werden, aber auf unterschiedlichen Ebenen. Somit würden die impliziten und expliziten Kompetenzen verschiedene Stufen eines Entwicklungsverlaufs darstellen. Andere Fachleute wiederum erwägen die Möglichkeit, dass mit den Blickverhaltensaufgaben spontane und unbewusste – also implizite – Verarbeitung von sozial wichtigen Informationen gemessen wird. Weiterhin vertreten sie die Annahme, dass die expliziten Aufgaben nicht nur die Fähigkeit zur Zuschreibung mentaler Zustände untersuchen, sondern auch andere Fähigkeiten messen (u.a. Senju et al., 2009). So würde die Lösung der expliziten Aufgaben nicht die Kompetenzen in den impliziten Aufgaben voraussetzen, sondern sie wäre durch verschiede Strategien möglich. Durch diese Strategien könnten auch Personen mit Autismus eine normale Leistung in den expliziten Aufgaben erzielen, obwohl sie in den impliziten Aufgaben ein auffälliges Blickverhalten zeigen. Folgerichtig würden bei dieser Annahme die impliziten und expliziten Aufgaben nicht die gleichen Fähigkeiten messen.

Fazit

Blicken wir zurück zum Anfang. Nun wissen wir, dass sich hinter dem Verhalten von Peter vielseitige Kompetenzen (z.B. die Fähigkeit zur Zuschreibung mentaler Zustände) verbergen, als er seiner Tante vorgibt, ihren Hut zu mögen. Wir haben auch erfahren, dass kleine Kinder Einschränkungen in ihren Theory of Mind-Fähigkeiten haben, wenn diese Fähigkeiten in expliziten Aufgaben eingesetzt werden sollen. Allerdings zeigen uns verschiedene Blickzeitstudien, dass die Kleinen schon deutlich früher über unbewusste bzw. implizite Kompetenzen verfügen. Bei Personen mit autistischen Störungen scheint sich jedoch ein ganz anderes Bild abzuzeichnen: Auch wenn sie in den expliziten Aufgaben zur Theory of Mind eine gute Leistung erzielen, bleiben bei ihnen die Fähigkeiten zur spontanen Zuschreibung mentaler Zustände offensichtlich aus. Um diese zwei unterschiedlichen Entwicklungswege besser zu verstehen, ist noch weitere Forschung nötig. Dabei sollten besonders die Unterschiede zwischen den expliziten und impliziten Aufgaben beachtet und längsschnittliche Studien mit diesen beiden Aufgabenarten durchgeführt werden.

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