Lug und Trug - welche Fähigkeiten beherrschen raffinierte LügnerInnen?
Überzeugende LügnerInnen sind meisterhafte MärchenerzählerInnen. Über welche Fähigkeiten müssen sie verfügen, um andere erfolgreich „hinters Licht zu führen“? Der folgende Artikel gibt einen Überblick zu aktuellen Forschungsergebnissen und zeigt Konsequenzen für die Praxis auf.
Alltag im Vernehmungszimmer: Während sich der Beschuldigte Herr F. bei seiner Aussage um Kopf und Kragen redet, nervös mit dem Fuß wippt und bereits rote Flecken seinen Hals säumen, geht dem Beschuldigten Herrn H. die Aussage mit einem charmanten und gewinnendem Lächeln und festem Blickkontakt über die Lippen. Doch wer sagt die Wahrheit und wer lügt?
Der Hang zum Lügen steckt dem homo sapiens seit Urzeiten in den Genen (Hochadel & Kocher, 2000). Bekanntermaßen schlagen sich Menschen hierbei unterschiedlich „gut“. Wer überzeugend sein Gegenüber belügen möchte, muss neben einem guten Gedächtnis und einem schauspielerischem Talent auch die Gedanken, Überzeugungen, Wünsche und Absichten des Anderen erkennen. Dies setzt empathische Fähigkeiten voraus. Empathie kann in eine kognitive und eine affektive Komponente unterschieden werden. Laut Ekman (2007) lässt uns kognitive Empathie erkennen, was ein anderer fühlt; affektive Empathie lässt uns fühlen, was der andere fühlt. Kognitive Empathie beinhaltet die Fähigkeit, die Gefühle und Absichten eines Gegenübers zu erkennen, es muss aber nicht zwangsläufig ein emotionales Mitschwingen folgen. Gewöhnlich treten diese beiden Komponenten gemeinsam auf: Dem Erkennen von beispielsweise Trauer folgt das Einfühlen. Es kann aber auch beim reinen Erkennen der Trauer bleiben, ohne dass zwangsläufig ein emotionales Mitschwingen folgt.
Menschen mit hohen kognitiven Empathie-Fähigkeiten sind Naturtalente, wenn es darum geht, zu erkennen, was ihr Gegenüber denkt und fühlt. Gleichzeitig müssen sie aber nicht unbedingt gefühlsmäßig mit ihrem Gegenüber mit empfinden. Für PsychotherapeutInnen ist diese Begabung nützlich, um PatientInnen zur Heilung zu verhelfen. Es gibt aber Personen mit hoher kognitiver Empathie, die diese Fähigkeit dazu missbrauchen, andere zu belügen und zu betrügen. Verfügen überzeugende LügnerInnen tatsächlich über hoch ausgeprägte kognitive Empathie? Diese Frage sollte in der folgenden Untersuchung beantwortet werden (Boeger, 2017).
Erfolgreiches Lügen: Sind hohe kognitive Empathie-Fähigkeiten von Vorteil?
In der Studie wurden dazu u. a. Lügen- und kognitive Empathie-Fähigkeiten von 60 männlichen Probanden getestet. Insgesamt nahmen 15 Betrüger und 15 Gewalttäter aus unterschiedlichen Justizvollzugsanstalten Deutschlands an der Untersuchung teil sowie 30 Nicht-Straftäter. Um die Lügenfähigkeiten der Probanden zu überprüfen, sollten sie kurz ihren Lebenslauf in zwei Versionen erzählen: in einer wahren und einer erfundenen Variante. Die Probanden begannen mit wahrheitsgemäßen Angaben zu ihrem Geburtsort, dem Geburtsjahr und den Familienverhältnissen, in denen sie aufgewachsen waren. Darauf folgten Details zum Beruf der Eltern und zu prägenden Ereignissen in der Kindheit. Die Probanden berichteten über ihre Ausbildung und ihren Beruf und zählten ihre besonderen Fähigkeiten, Interessen und Talente auf. Direkt im Anschluss trugen die Probanden spontan die zweite erfundene Version des Lebenslaufes vor. Die gesamte Präsentation wurde mit Videokamera aufgenommen. Anschließend bearbeiteten die Probanden einen Emotionstest. Dieser Test sollte die kognitiven Empathie-Fähigkeiten der Probanden überprüfen. Der Emotionstest wurde in der Abteilung für Entwicklungs-, Persönlichkeits- und Forensische Psychologie der TU Braunschweig entwickelt und programmiert (vgl. Bild 1).
Der EmotionstestDer Emotionstest setzt sich aus 49 Bildern zusammen, auf denen Personen jeweils eine der sieben Basisemotionen Freude, Trauer, Ärger, Angst, Überraschung, Ekel und Verachtung (Ekman et al., 2002) zeigen. Die gezeigte Emotion soll einer der sieben Basisemotionen korrekt zugeordnet werden. Eine Übersicht der sieben Basisemotionen findet sich in Bild 1. Nach der Präsentation eines neutralen Gesichtsausdrucks (2 Sekunden) wird eine der sieben Basisemotionen für 300 ms dargeboten (vgl. Bild. 2). Es handelt sich somit um sehr kurze Gesichtsausdrücke, die Mikroexpressionen genannt werden.
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Zur Überprüfung der Lügenfähigkeit kamen sogenannte Laieneinschätzungen zum Einsatz. Mit Laien sind Personen ohne psychologische Vorbildung gemeint, die über kein Vorwissen zum Thema Lügenerkennung verfügten. Alle Laien-BeurteilerInnen sahen sämtliche Videoaufnahmen der wahren und erfundenen Lebensläufe in randomisierter, also zufälliger Reihenfolge an und beurteilten diese nach Glaubwürdigkeit. Da die Lügenfähigkeiten der Probanden von Bedeutung waren, interessierte ausschließlich die Laienbeurteilung der erfundenen Lebensläufe und nur diese wurden in die Auswertung einbezogen. Auf Basis der Laieneinschätzungen wurden im Folgenden zwei Gruppen gebildet: 1) Erfolgreiche Lügner und 2) erfolglose Lügner. Hielten 80 % der Laien-BeurteilerInnen eine erfundene Geschichte für wahr, wurde der Proband der Gruppe der erfolgreichen Lügner zugeteilt.
Das Ergebnis der Studie zeigte, dass die untersuchten 60 Probanden insgesamt überwiegend schlechte Lügner waren: 63 % der Probanden konnten die Laien-BeurteilerInnen nicht täuschen; nur in 37 % der Fälle hielten die Laien-BeurteilerInnen die Lügengeschichten für wahr. Diese überdurchschnittlich hohen Lügenerkennungsfähigkeiten der Laien-BeurteilerInnen sind in der Forschung eher ungewöhnlich und vermutlich der kleinen Stichprobe geschuldet. Normalerweise erreichen BeurteilerInnen nur Trefferquoten, die im Bereich der Zufallswahrscheinlichkeit liegen (z. B. Ekman & O`Sulilivan, 1991).
Es zeigten sich aber deutliche Unterschiede zwischen den Probandengruppen. Wie zu erwarten, war die Überzeugungsqualität des Lügens bei den Straftätern am höchsten: Unter den Betrügern logen 53 % erfolgreich, bei Gewalttätern lag die Quote bei 40 % und am wenigsten überzeugend waren die Lügen der Nicht-Straftäter (Anteil erfolgreicher Lügner: 27 %).
Als weiteres Ergebnis zeigte sich, dass die Lügenqualität auch in Zusammenhang mit der kognitiven Empathie stand: Wer überzeugend log, erreichte signifikant höhere kognitive Empathie-Werte. Erfolgreiche Lügner verfügten nicht nur generell über die Fähigkeit, Emotionen signifikant korrekter zu identifizieren, was sich in dem Emotionstests zeigte. Darüber hinaus wiesen sie auch schnellere Reaktionszeiten bei der Emotionserkennung auf.
Die Studienergebnisse verdeutlichen, dass hohe kognitive Empathie-Fähigkeiten offenbar eine bedeutsame Kompetenz für glaubwürdige Täuschung sind.
Lügen ist „kognitive Schwerstarbeit“ (Niehaus, 2008): Der Lügner darf sich nicht in Widersprüche verwickeln, er muss in einer relevanten Situation schnell reagieren, um die dominante wahre Antwort zu unterdrücken und gleichzeitig eine schlüssige Lüge ohne Zögern präsentieren.
Allerdings kann der kognitive Aufwand zum Lügen bereits durch wenig Training reduziert werden (Verschuere et al., 2011). Infolgedessen verbessert sich die Lügenfähigkeit. Diesen Trainingseffekt konnten Verschuere und seine Kollegen in Experimenten mit nichtstraffälligen Probanden nachweisen. Es erstaunt nicht, dass in der Studie von Boeger (2017) Straftäter auch die erfolgreichsten Lügner waren; denn man kann davon ausgehen, dass Straftäter besonders geübt im Lügen sind. Dies konnten auch Willen und Kollegen (2012) in ihrer Untersuchung nachweisen.
Dass in der Untersuchung von Boeger (2017) innerhalb der Gruppe der erfolgreichen Lügner die schnellsten Reaktionszeiten gemessen wurden, verdeutlicht, dass eine rasche Auffassungsgabe ein zentraler Bestandteil für überzeugendes Lügen ist.
Das Fazit der Studie: Überzeugende Lügner können die Emotionen des Gegenübers schnell und richtig einschätzen. Diese Fähigkeiten waren bei den Straftätern und besonders bei den verurteilten Betrügern am höchsten ausgeprägt. Das Erkennen von Emotionen ist aber nur ein Mosaikstein, der zum erfolgreichen Belügen und Betrügen des Gegenübers notwendig ist.
Welche weiteren Fähigkeiten zeichnen einen erfolgreichen Lügner aus?
Die Forschung hat neben hohen kognitiven Empathie-Fähigkeiten weitere relevante Merkmale identifiziert, die guten LügnerInnen helfen können, andere erfolgreich „hinters Licht“ zu führen (DeAndrea et al., 2009; Gino & Ariel, 2011; Kashy & DePaulo, 1996; Vrij, Granhag & Mann, 2010): originelles und schnelles Denken, Eloquenz, gutes Gedächtnis, schauspielerisches Talent, möglichst nah an der Wahrheit bleiben und nur Details verändern fehlende Schuldgefühle und sensation seeking. Geübte manipulative Persönlichkeiten zeichnen sich durch originelles Denken aus und sind rhetorisch geübt. Studien haben zudem gezeigt, dass kreative Persönlichkeiten besser out of the box, d. h. innovativ und in neuen Kontexten denken können (Gino & Ariel, 2011). Diese sehr wertvolle Eigenschaft ist aber auch eine wichtige Voraussetzung speziell für Lügen und Betrügen und kann dann im Sinne unethischen Verhaltens missbraucht werden. Die erhöhte Fähigkeit kreativer Persönlichkeiten zu abweichendem Denken (divergent thinking) erleichtert nämlich die Entwicklung neuer Ideen und Einfälle, die nicht sozialen oder moralischen Normen entsprechen. Auch das flexible Anwenden von Wissen (cognitive flexibility) ist für sie kennzeichnend. Diese Flexibilität im Denken ermöglicht kreativen Menschen, ein Problem aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und verfügbare Informationen neu zu interpretieren. Sie können somit innovative Ideen entwickeln und ihre Fähigkeiten nutzen, um nach ihren eigenen Interessen zu handeln. Moralische Skrupel können aufgrund dieser kognitiven Flexibilität aus dem Weg geräumt und Fakten mit Leichtigkeit neu interpretiert werden. Auf diese Art können sie ihr Handeln rechtfertigen, ohne ihr Selbstbild zu beschädigen (Gino & Ariel, 2011).
Weitere Forschungsergebnisse betonen die Bedeutung von schnellem Denken, um überzeugen zu können (Vrij et al., 2010). Die Fähigkeit, schnell zu antworten ist von zentraler Bedeutung, um glaubhaft zu erscheinen. Schnelles Denken und eloquenter Ausdruck erleichtern es, in heiklen Situationen eine langwierige und ausgeschmückte Antwort zu finden. Damit lässt sich Zeit gewinnen, um über die Fragestellung nachzudenken. Originelles und schnelles Denken sowie Eloquenz sind mit Intelligenz assoziiert (Vrij et al., 2010). Ebenso erleichtern schauspielerisches Talent und eine hohe kognitive Empathie das Lügen.
LügnerInnen brauchen weiterhin ein gutes Gedächtnis, um sich nicht in Widersprüche zu verwickeln. Wenn LügnerInnen so weit wie möglich bei der Wahrheit bleiben und nur Details verändern, ist dies mit weniger Denkaufwand verbunden. Fehlende Schuldgefühle und mangelnde moralische Skrupel erleichtern das Lügen und Manipulieren (Kashey & DePaulo, 1996). Sensation seeking ist ein weiteres Persönlichkeitsmerkmal, das einen Risikofaktor für kriminelles Verhalten darstellt. Sensation seekers sind ständig auf der Suche nach Abwechslung und neuen Erlebnissen, um Spannung zu erleben. Studien von DeAndrea und Kollegen (2009) konnten zeigen, dass sensation seeking mit betrügerischem Verhalten korreliert.
Zusammenfassend zeigt die Forschung, dass ganz bestimmte persönliche Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmale mit überzeugendem Lügen einhergehen und wesentlich erleichtern.
Welche Konsequenzen ergeben sich für die Ermittlungspraxis?
Die Kompetenz, schnell und zutreffend das Gegenüber einzuschätzen und sich dementsprechend angepasst zu verhalten, kann StraftäterInnen bei ihrer Vernehmung helfen. Deshalb ist speziell für die Polizei und Justiz die Kenntnis der hier vorgestellten Zusammenhänge zwischen kognitiver Empathie und Lügen von Relevanz. Denn teilweise hält sich der Glaube an die Existenz von klassischen Lügensignalen hartnäckig. So werden Anzeichen für Nervosität wie rot werden, unsicherer Blick, Schwitzen und Zittern, fälschlicherweise als Lügenbeweise gedeutet. Das eingangs erwähnte unsichere und ängstliche Verhalten des Herrn F. ist aber weder ein Beleg für Schuld noch für Unschuld, ebenso wie das selbstsichere Verhalten des Herrn H. keine Schlussfolgerung erlaubt. Die voreilige Interpretation von sichtbarem Verhalten kann weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen und zu dramatischen Fehlurteilen führen (vgl. Strömwall et al., 2004). Denn die Forschung zeigt übereinstimmend, dass es keine eindeutigen, sichtbaren Lügensignale gibt (vgl. Sporer & Köhnken, 2008). Verdächtige, die über hohe kognitive Empathie-Fähigkeiten verfügen, zeigen nämlich typischerweise kein nervöses und unsicheres Verhalten. Sie erspüren vielmehr genau mit hoher kognitiver Empathie, was das Gegenüber erwartet und reagieren darauf reaktionsschnell und treffend, z. B. mit festem Blickkontakt und Eloquenz. Damit manövrieren sie sich nicht selten erfolgreich aus der Klemme.
Literaturverzeichnis
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