Wie es euch gefällt: Sozialer Einfluss durch Mehrheiten und Minderheiten
Kann die Information darüber, was andere denken, die eigene Meinung verändern? Beeinflusst allein die Tatsache, dass 74% befragter Eltern ihre Kinder lieber 13 statt 12 Jahre zur Schule schicken möchten, die Einstellung zur Schulreform? Warum ist das allgemeine Interesse an der „Sonntagsfrage“ so stark? Bin ich auch der Meinung, dass Lena den Eurovision Song Contest im nächsten Jahr erneut gewinnen wird? Würde man mich eher als „graue Maus“ bezeichnen oder gehe ich als bunter Vogel durchs Leben? Solche und ähnliche Fragen sollen in diesem Beitrag angesprochen werden.
Stellen Sie sich vor, Sie suchten nach einer „guten Gesichtscreme“ als Geburtstagsgeschenk für Ihre Großmutter. Nach einigem Suchen steht eine Handvoll unterschiedlicher Cremes in der engeren Wahl. Jedes Produkt hat seine Vorteile, doch nur eine Gesichtscreme würden angeblich 92 % der Benutzerinnen ihrer besten Freundin empfehlen. Das macht die Entscheidung für Sie leicht: „Wenn so gut wie alle Anwenderinnen mit dem Produkt zufrieden sind, kann es ja nicht schlecht sein.“
Das eben beschriebene Ereignis ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie Individuen sich an Verhaltensweisen und Meinungen anderer Menschen orientieren. Wie die Sozialpsychologie belegt, passen sich Menschen häufig den Vorgaben der Mehrheit der anderen an. Der herrschende Konsens bietet dem Einzelnen Orientierung, offenbart Erwartungen, die an ihn herangetragen werden könnten, und legt fest, was als „normal“ und akzeptiert gilt (Kelley, 1967; Kruglanski & Mackie, 1990). Beispiele für den Konsens über gewisse Gesellschaftsregeln spiegeln sich in Phänomenen wie einer gemeinsamen Kleidungsordnung und allgemein akzeptierten Umgangsformen wider. Besonders deutlich wird dieses Prinzip in der Demokratie als politischem System: In demokratischen Gesellschaften werden Beschlüsse aufgrund der Mehrheitsmeinung – also auf der Grundlage hohen Konsens’ – gefällt und umgesetzt. Auch in der Werbung lassen sich zahlreiche Beispiele dafür finden, dass Information über den (vermeintlich) herrschenden Konsens bewusst als potenzielle Quelle der Beeinflussung verwendet wird (Erb, 1998). Mit Slogans wie „der meist verkaufte Wagen seiner Klasse“ verweisen Werbebotschaften explizit auf das Kaufverhalten anderer Konsumenten, um potenzielle Neukunden zu erreichen. Die Idee hinter solchen Slogans liegt offenbar darin, dass Menschen sensibel auf das „Prinzip der sozialen Bewährtheit“ (Cialdini, 2007) reagieren, und ihre Entscheidungen danach ausrichten, welche Käufe andere Menschen getätigt haben.
Erste Befunde zur Konformität
Inwieweit sozialer Einfluss durch Mehrheiten möglich ist, unter welchen Bedingungen er besonders stark auftritt und wie er zustande kommt, sind Fragen, mit denen sich Sozialwissenschaftler schon seit langem beschäftigen. Ein mittlerweile schon als klassisch zu bezeichnendes Experiment zur Konformität wurde von Solomon Asch (1952) durchgeführt. Die von den Versuchspersonen (Vpn) zu lösende Aufgabe war denkbar einfach: Ihnen wurden drei Linien unterschiedlicher Länge präsentiert und sie sollten bestimmen, welche der drei Linien die gleiche Länge aufwies wie eine gesondert dargebotene Referenzlinie. Normalerweise treten bei einer solch einfachen Aufgabe keine Fehlurteile auf. Die Vpn saßen zu mehreren an einem Tisch und gaben nacheinander laut ihre Urteile ab. Tatsächlich aber war nur eine der Vpn „echt“, wohingegen die anderen „Verbündete“ des Versuchsleiters waren. Diese gaben in den kritischen Durchgängen des Experiments absichtlich und übereinstimmend falsche Urteile ab. Die Folgen für die Urteile der echten Vpn waren bemerkenswert: Etwa ein Drittel der tatsächlichen Vpn schloss sich wider besseres Wissen der falsch urteilenden Mehrheit an. Offensichtlich ist der soziale Druck durch den Konsens einer anwesenden Mehrheit von anderen Menschen so groß, dass sogar eindeutige Fehlurteile provoziert werden können. Die experimentellen Befunde Aschs wurden inzwischen viele Male bestätigt und es konnten sowohl förderliche als auch hinderliche Bedingungen für Konformität mit der Mehrheit identifiziert werden. So zeigen sich etwa Individuen, die sich selbst eher über Gruppenmitgliedschaften definieren (interdependentes Selbstbild bei Mitgliedern ost-asiatischer Kulturen), leichter beeinflussbar als Individuen, die sich selbst eher individualistisch definieren (independentes Selbstbild bei Mitgliedern westlicher Kulturen; Bond & Smith, 1998).
Konsensansatz zur Erklärung des sozialen Einflusses
Um die Befunde zum sozialen Einfluss durch Mehrheiten zu erklären, wurden unterschiedliche Theorien entwickelt, deren ausführliche Diskussion diesen Rahmen sprengen würde (ein Überblick über den aktuellen Stand der Forschung findet sich z. B. bei Erb & Bohner, 2010). Eine mögliche Erklärung beruht auf der Idee, dass sich Menschen mit Mehrheiten identifizieren, weil Mehrheiten oft höheren sozialen Status genießen als die „Abweichler“ in der Minderheit (z. B. Mackie, 1987; Turner, 1991) und der Konflikt mit Mehrheiten als unangenehm erlebt wird, weil Abweichung vom herrschenden Konsens häufig negativ bewertet wird (z. B. Levine, 1989). Um den Konflikt aufzulösen, können Menschen ohne weiteres Nachdenken darüber, was die eigentlich korrekte Position darstellt, die Meinung der Mehrheit übernehmen, selbst wenn sie von deren Position gar nicht wirklich überzeugt sind (Moscovici, 1980). Diese Art „Folgsamkeit“ („compliance“) gegenüber dem Einfluss von Mehrheiten ist empirisch gut belegt (z. B. Wood, Lundgren, Ouellette, Busceme & Blackstone, 1994). Mit den genannten Vorstellungen kann demnach recht erfolgreich erklärt werden, wie es in Situationen, wie sie etwa in Aschs (1952) Experimenten hergestellt wurden, zum Einfluss von Mehrheiten kommt.
Allerdings beruhen solche Erklärungsansätze auf Annahmen, die nicht notwendigerweise in jeder Situation gegeben sind. In unserem Eingangsbeispiel ist etwa die Bedingung, dass der Konflikt mit den überzeugten 92 % der Gesichtscreme-Konsumentinnen für Sie negative Konsequenzen hätte, wenn Sie sich doch für eine andere Creme entscheiden, wohl kaum gegeben. Und inwieweit sollten potenzielle Kundinnen das Bedürfnis verspüren, sich mit dieser doch recht abstrakt definierten Gruppe zufriedener Kundinnen zu identifizieren?
Eine Möglichkeit, den sozialen Einfluss von Mehrheiten zu erklären, ohne dabei auf Faktoren wie Identifikation, sozialer Status oder Konflikt zurück greifen zu müssen, bietet der Konsensansatz (z. B. Erb & Bohner, 2010). Hier wird das Ausmaß an Meinungsübereinstimmung, also der Konsens, als Schlüsselvariable zur Erklärung des sozialen Einflusses herangezogen. Selbstverständlich können sich Minderheiten und Mehrheiten in konkreten sozialen Kontexten dadurch unterscheiden, dass sie unterschiedlich stark Konflikt auslösen, hohen (z. B. Nobelpreisträger) oder niedrigen sozialen Status (z. B. Kommunisten) genießen oder unterschiedlich attraktive Ziele für Identifikation darstellen usw. Insofern wird der Einfluss solcher Faktoren auch nicht bezweifelt. Bezweifelt wird im Konsensansatz dagegen die Annahme, dass sie notwendig sind, um den Einfluss von Minderheiten und Mehrheiten zu erklären.
Dem Konsensansatz nach ist der Konsens das entscheidende Merkmal, welches zwischen Minderheiten und Mehrheiten differenziert: Der Konsens über eine Minderheitsposition kann niemals größer sein als der Konsens über eine Mehrheitsposition. Die Mehrheit ist notwendigerweise größer als die Minderheit (Kruglanski & Mackie, 1990). Demnach repräsentieren Mehrheitspositionen hohen Konsens und Minderheitspositionen niedrigen Konsens. Damit wird der herrschende Konsens zur Schlüsselvariablen bei der Erklärung von Minderheits- und Mehrheitseinfluss. Die empirische Frage ist nun, ob auf der Grundlage von Information über Konsens, bereinigt von Faktoren wie Identifikation, sozialer Status, Konflikt und anderen (Erb & Bohner, 2010), sozialer Einfluss möglich ist.
Schon in frühen Studien zum Konsensansatz (z. B. Erb, Bohner, Schmälzle & Rank, 1998) ließ sich demonstrieren, dass hoher Konsens auch unabhängig von Faktoren wie Konflikt oder Identifikation sozialen Einfluss begründet. So erhielten Vpn beispielsweise Informationen zu einem Bauprojekt in Rotterdam, für das sich angeblich eine Minderheit (15 %) oder eine Mehrheit (85 %) von Rotterdamer Bürgern ausgesprochen hatte. Da das Thema fiktiv war, konnte Konflikt zwischen Einflussgruppe und den Überzeugungen der Vpn nicht gegeben sein. Außerdem stellte eine abstrakte Gruppe Rotterdamer Bürger keine Gruppe hohen Status’ dar, die das Ziel von Identifikation hätte sein können. Trotzdem stimmten die Vpn dem Bauprojekt eher zu, wenn sich die Mehrheit dafür ausgesprochen hatte. Sie lehnten das Projekt ab, wenn nur eine Minderheit es befürwortete. Offensichtlich sind soziale Faktoren wie Identifikation, hoher Status oder Konflikt, obschon hinreichend, nicht notwendig, um den Einfluss von Mehrheiten auf subjektive Einstellungen zu erklären. Insofern bietet der Konsensansatz eine relativ sparsame Erklärung des Einflusses von Mehrheiten an.
Darüber hinaus wurden auch die Bedingungen untersucht, wie Konsensinformation auf Einstellungsurteile wirkt. Ein zentrales Ergebnis ist in diesem Zusammenhang der Effekt der verzerrten Informationsverarbeitung („biased processing“) als Reaktion auf unterschiedliche Ausprägungen von Konsens (Erb et al., 1998). Wir konnten zeigen, dass der soziale Einfluss nicht direkt auf die Einstellung zu einem Urteilsobjekt wirkt, sondern dass dieser Einfluss vermittelt ist über eine Bedeutungsänderung der verfügbaren inhaltlichen Information in Reaktion auf die Nutzung der Konsensinformation: Ein und dieselben Argumente werden unter Mehrheitseinfluss positiv „verzerrt“ und unter Minderheitseinfluss negativ „verzerrt“ verarbeitet.
Im Experiment wurden Vpn gebeten, alle Gedanken aufzulisten, die ihnen während des Lesens in den Sinn gekommen waren. Mithilfe dieser Gedankenlisten kann der Prozess der verzerrten Informationsverarbeitung abgebildet werden. Jeder so geäußerte Gedanke wird von externen Gutachtern danach bewertet, ob er zustimmende, neutrale oder ablehnende Inhalte enthält. So ergibt sich für jede Versuchsperson (Vp) ein Maß, das ausdrückt, wie positiv oder negativ die Vp auf die präsentierte Information reagiert hat. Die Ergebnisse bestätigten den allgemein großen Vorsprung von Mehrheiten gegenüber Minderheiten. Obwohl die Information über das Urteilsobjekt und die vorgetragenen Argumente unter Minderheits- und Mehrheitseinfluss identisch waren, gaben Vpn, die zuvor gelesen hatten, dass sich eine Mehrheit für den Tunnelbau aussprach, mehr unterstützende Gedanken an. Wenn Vpn jedoch zuvor gelesen hatten, dass sich nur eine Minderheit für den Tunnelbau aussprach, listeten sie mehr ablehnende Gedanken auf. Die Folge dieser verzerrten Informationsverarbeitung war, dass Vpn in der Mehrheitsbedingung den Tunnelbau stärker befürworteten als Vpn in der Minderheitsbedingung – und das, obwohl dasselbe Anliegen unterstützt durch dieselben Argumente vorgetragen worden war. Die entsprechenden Reaktionen fielen in einer Kontrollbedingung, in der dieselben Argumente ganz ohne Konsensinformation präsentiert worden waren, neutral aus, so dass man sowohl von einer Aufwertung unter Mehrheits- als auch von einer Abwertung unter Minderheitseinfluss sprechen kann. Diese Ergebnisse werden durch den zusätzlichen Befund gestützt, dass die Argumente, wenn sie von einer Mehrheit unterstützt wurden, als überzeugender beurteilt wurden, als wenn sie von einer Minderheit präsentiert wurden. Zusammengefasst finden wir also, dass hoher Konsens, vermittelt über positive Reaktionen auf die vorgetragenen Argumente, zustimmende Urteile begründet, während niedriger Konsens, vermittelt über negative Reaktionen, zu ablehnenden Urteilen führt. Die bisherigen Befunde zum Konsensansatz lassen sich nun auch auf praktische Anwendungsfelder übertragen. So haben wir beispielsweise die psychologische Wirkung von öffentlichen Meinungsumfragen untersucht.
Woher wir wirklich wissen, was uns gefällt: Sozialer Einfluss durch Umfrageergebnisse
Auf der Internetseite des Statistikportals statista (www.statista.de) haben Internetnutzerinnen und -nutzer Zugriff auf mehrere Tausend Umfrageergebnisse aus über 500 verschiedenen Quellen. Umfrageergebnisse erfreuen sich zur Zeit einer großen Beliebtheit und sind aus der Berichterstattung in den Medien kaum mehr wegzudenken. Ob es nun um die Zustimmung für den Einsatz deutscher Truppen im Irak oder die sogenannte „Sonntagsfrage“ geht oder aber darum, auf welche Merkmale eines Flirtpartners bzw. einer Flirtpartnerin Männer und Frauen zuerst achten: Es gibt wohl kaum einen Lebensbereich, in dem Umfragen nicht auftauchen. Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Sensibilität für Information über Konsens erscheint das enorme öffentliche Interesse an den Ergebnissen von Meinungsumfragen wenig verwunderlich. Denn Konsensinformation in Form von Umfrageergebnissen liefert Information darüber, wie andere über ein Thema denken. Solche Umfragen bieten einen prägnanten Überblick über das vorherrschende „Meinungsklima“ zu den unterschiedlichsten Themenbereichen. Bisher existierte allerdings kein psychologisches Modell, das die Effekte von Umfrageergebnissen auf individuelle Einstellungen zum Gegenstand hat.
Im Sinne des Konsensansatzes repräsentieren publizierte Umfrageergebnisse Information über Konsens zu einem bestimmten Thema (z. B. „69 % der Deutschen sprechen sich für einen gesetzlichen Mindestlohn aus.“). Daher können der Konsensansatz und die aus ihm gewonnenen Erkenntnisse auf diesen Phänomenbereich übertragen werden. Denn bislang wurde in den verschiedenen Sozialwissenschaften eine Möglichkeit nur wenig beachtet: Die oben ausgeführten Annahmen und Befunde legen nahe, dass Umfrageergebnisse nicht nur die öffentliche Meinung widerspiegeln, sondern selbst durch die von ihnen vermittelte Information Denkprozesse anstoßen, die wiederum Meinungen beeinflussen oder erzeugen können. Man kann also von einer wechselseitigen Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch publizierte Umfrageergebnisse ausgehen. Die Wechselseitigkeit besteht darin, dass durch die Veröffentlichung von Meinungsumfragen zunächst ein Abbild des Stimmenverhältnisses entsteht, das dazu dienen kann, sich auf dieser Grundlage eine Meinung zu bilden oder eine bereits bestehende Meinung zu verändern. Daher untersuchen wir unter anderem, welche Auswirkungen die Rezeption von Umfrageergebnissen haben kann. So soll geklärt werden, welche mentalen Prozesse von Umfrageergebnissen angestoßen werden und welchen Einfluss solche Prozesse auf die subjektiven Einstellungen nehmen können.
Unseren Überlegungen zufolge stellen Umfrageergebnisse eine bedeutende Möglichkeit sozialen Einflusses dar: Sie bilden nicht nur das Meinungsbild einer Population ab, sondern vermitteln ihrerseits Konsensinformation, die zur Meinungsbildung genutzt wird. Somit handelt es sich um Situationen sozialen Einflusses, wenn Meinungsumfragen in den Medien publiziert werden. In mehreren Experimenten haben wir diese Annahme untersucht und bestätigt. Es zeigte sich, dass die Rezeption eines Umfrageergebnisses tatsächlich eine Einstellungsänderung in Richtung der Mehrheit zur Folge hatte und diese war wie vermutet vermittelt über die Gedanken zum Thema. Zu Beginn jedes Experiments wurde – wie bei einer „echten“ Meinungsumfrage – die Voreinstellung aller Vpn zu einem bestimmten Thema gemessen. In einer Studie handelte es sich dabei zum Beispiel um die Schuldauer bis zum Abitur in Deutschland. Danach wurde den Probandinnen und Probanden eine Seite aus einer deutschen Wochenzeitschrift präsentiert mit der Aufgabe, sich „einen Überblick zu verschaffen“. Auf dieser Seite waren ein Auszug aus einem Artikel zum Thema „Schuldauer bis zum Abitur“, ein Foto und ein Umfrageergebnis zum Thema abgebildet. Nach zwei Minuten Betrachtungszeit wurden die Vpn gebeten, in einer Tabelle ihre Gedanken aufzulisten, die ihnen während des Betrachtens in den Sinn gekommen waren. Anschließend wurde die Einstellung der Vpn zur Schuldauer bis zum Abitur ein weiteres Mal abgefragt. Diese Prozedur durchliefen sämtliche Vpn. Es gab jedoch einen wichtigen Unterschied: Die eine Hälfte der Mitwirkenden erhielt ein Umfrageergebnis, dass sich eine Mehrheit von 74 % für eine Schuldauer von 13 Jahren bis zum Abitur ausgesprochen hatte, während in dem Umfrageergebnis, das der anderen Hälfte der Vpn präsentiert wurde, eine Minderheit von 24 % für eine Schuldauer von 13 Jahren bis zum Abitur stimmte. Da es ansonsten keine Unterschiede zwischen den beiden Versuchsgruppen gab, konnten anschließend alle Unterschiede zwischen den Gruppen auf die Manipulation der Konsensinformation zurückgeführt werden.
Die Daten zeigten, dass diejenigen Vpn, die die Umfrage gesehen hatten, in der 74 % der Befragten zugestimmt hatten, mehr Gedanken auflisteten, die ebenfalls eine Schuldauer von 13 Jahren befürworteten. Bei der nachfolgenden Abfrage ihrer Einstellung gaben diese Personen eine positivere Einstellung zum Thema ab. Demgegenüber listeten Vpn, die in der Umfrage erfahren hatten, dass bloß eine Minderheit positiv gegenüber einer Schuldauer von 13 Jahren bis zum Abitur eingestellt war, mehr Gedanken auf, die gegen dieses Thema sprachen und gaben diesbezüglich später negativere Einstellungen ab (Thoben, Kolonko & Erb, 2009). Anders als in der oben beschriebenen Studie zum Tunnelbau in Rotterdam enthielt der Text zum Thema Schuldauer keine Argumente, sondern nur ganz allgemeine Information zum Thema. Bei den gelisteten Pro- und Contra-Gedanken handelt es sich also um selbst generierte Reaktionen auf das Thema (Darke, Chaiken, Bohner, Einwiller, Erb & Hazlewood, 1998), deren Richtung von der durch das Umfrageergebnis vermittelten Information über Konsens beeinflusst wurde. Die Effekte auf Gedankengenerierung und Einstellungsurteile zeigten sich unabhängig davon, ob die Vpn ursprünglich eine positive oder negative Einstellung gegenüber 13 Jahren hatten. Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass Menschen Umfrageergebnisse zu ihrer eigenen Urteilsbildung nutzen. Dabei kann es zu einer Einstellungsänderung in Richtung der Mehrheit kommen, die über die gedanklichen Reaktionen auf das Umfrageergebnis vermittelt ist. Umfrageergebnisse beeinflussen demnach also gewissermaßen reziprok die Meinung der Menschen, auf Grund deren Meinungsäußerungen sie zustande gekommen sind.
Offenbar zeigen Menschen die Tendenz, sich in ihren Einstellungen von anderen beeinflussen zu lassen, indem sie die ihnen zur Verfügung stehenden Informationen verzerrt verarbeiten und ihr Urteil an die Mehrheitsmeinung anpassen. Eine Gesellschaft ist ohne Konsens undenkbar, denn sie entsteht als soziale Organisationsform aus der mehrheitlichen Akzeptanz (und Befolgung) gewisser Regeln, Normen und Moralvorstellungen, die letztlich auf dem Konsens über gleiche oder zumindest miteinander vereinbarte individuelle Ziele und Bedürfnisse beruhen. Offensichtlich gibt es gute Gründe (deren sich Individuen in der Regel nicht immer bewusst sind), danach zu streben, einander ähnlich oder sogar „gleich“ zu sein. Aber ist es wirklich so einfach? Wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft immer der gleichen Meinung wären oder der Mehrheitsmeinung folgten, wäre sozialer Wandel unmöglich. Tatsächlich lässt sich aber Innovation in Gruppen und Gesellschaften beobachten. Es muss also Bedingungen oder Situationen geben, in denen die Position der Minderheit die attraktivere Alternative ist und Minderheiten folglich einen Einfluss ausüben.
Das Bedürfnis nach Einzigartigkeit und sozialer Einfluss durch Minderheiten
Neben dem Wunsch, „dazu zu gehören“, entwickeln Individuen unter bestimmten Bedingungen ein Bedürfnis, ihre Einzigartigkeit und Besonderheit zu demonstrieren (Snyder & Fromkin, 1980). Menschen möchten sich nicht nur in einer Gruppe geborgen fühlen und möglichst nicht als Abweichler erscheinen, sondern auch ihre Individualität, das Besondere der eigenen Person, betonen. Letzteres zeigt sich etwa in extravaganter Kleidung, ausgefallenen Frisuren, exotischen Urlaubszielen usw. Menschen streben einen ausgewogenen Zustand zwischen Angepasstheit einerseits und Abweichung andererseits an: Wird das Gleichgewicht zwischen dem Bedürfnis dazuzugehören und dem Bedürfnis nach Einzigartigkeit gestört, wird ein Motiv in Kraft gesetzt, die Balance wiederherzustellen (z. B. Brewer, 1991). Ebenso wie sich die Werbung den sozialen Einfluss durch Mehrheiten zunutze macht (denken Sie an unser Eingangsbeispiel), wird auch das Bedürfnis nach Einzigartigkeit in werbepsychologische Überlegungen einbezogen. Zigarettenmarken, Autohersteller, Getränkeabfüller, sie alle appellieren an die Menschen, ihr Produkt zu erwerben und damit zu zeigen, wie individuell und „besonders“ sie damit sein können.
Ein hohes Bedürfnis nach Einzigartigkeit äußert sich beispielsweise darin, dass Individuen Einstellungen übernehmen, zu denen der Konsens niedrig ausfällt, die also nur von wenigen anderen vertreten werden (Imhoff & Erb, 2009). Es ist die Position der Minderheit und nicht die der Mehrheit, die für Menschen mit einem hohen Bedürfnis nach Einzigartigkeit attraktiv erscheint. In mehreren Experimenten wurde jeweils bei einer Gruppe von Vpn das Bedürfnis nach Einzigartigkeit gezielt hergestellt. Dazu wurde ein vermeintlicher Persönlichkeitsfragebogen verwendet, zu dem eine von zwei möglichen (fingierten) Rückmeldungen gegeben wurde. Bei den Vpn der Kontrollbedingung wurde das Bedürfnis nach Einzigartigkeit nicht angeregt. Das heißt, hier variierten die angeblich gemessenen Persönlichkeitseigenschaften über extreme und mittlere Bereiche, ganz so, wie man es für sich als individuelle Persönlichkeit erwarten darf: Bei einigen Eigenschaften waren die Werte vermeintlich hoch ausgeprägt, bei anderen lagen sie eher im mittleren Bereich und wieder andere erhielten äußerst geringe Werte. Durch diese ausgeglichene Rückmeldung sollte das Gefühl erweckt werden, von anderen unterscheidbar zu sein. In der Experimentalgruppe, in der ein hohes Bedürfnis nach Einzigartigkeit erzeugt werden sollte, erhielten die Vpn hingegen die Rückmeldung, dass ihre Messwerte im „grauen Bereich“ lagen, sie also wie „Otto Normalverbraucher“ durchweg durchschnittliche Messwerte im statistischen Mittel produziert hatten. Ihnen wurde gewissermaßen das Etikett „Durchschnittsmensch“ aufgeklebt und so das Bedürfnis erzeugt, ihre Einzigartigkeit wiederherzustellen, um sich aus der „grauen Masse“ hervorzutun.
Nach dieser Prozedur zur Aktivierung des Bedürfnisses nach Einzigartigkeit erhielten wiederum alle Vpn einen Text, in dem je nach Bedingung sich entweder eine Minderheit oder eine Mehrheit z. B. ein Urlaubsgebiet in Brasilien aussprach. Danach wurden die Einstellungen gegenüber diesem Urlaubsgebiet gemessen. Die Ergebnisse bestätigten die Erwartungen: Vpn der Kontrollgruppe, die kein angeregtes Bedürfnis nach Einzigartigkeit hatten, unterlagen dem schon oben besprochenen Effekt des höheren Einflusses durch die Mehrheit. Vpn, deren Bedürfnis nach Einzigartigkeit zuvor jedoch manipuliert wurde, ließen sich stärker durch die Minderheit beeinflussen (Imhoff & Erb, 2009). Das Bedürfnis nach Einzigartigkeit ist offensichtlich ein wichtiger Faktor, der den Einfluss von Minderheiten steigert, so dass die Position der Minderheit insgesamt attraktiver erscheint als die der Mehrheit, weil sie eine Möglichkeit bietet, die eigene Individualität zu betonen.
Diese und weitere Ergebnisse (Imhoff & Erb, 2009) lassen darauf schließen, dass Menschen nicht nur einfach danach streben, möglichst „stromlinienförmig“ mit der Masse mit zu schwimmen, wie es die bisher dargestellten Theorien und Forschungsergebnisse vermuten lassen. Individuen empfinden es als unangenehm, der einzige „herausstehende Nagel“ im gesellschaftlichen „Brett” zu sein (weil sie erwarten, dass jemand mit einem Hammer kommen wird, um sie „einzuschlagen“). Ebenso empfinden Menschen es nicht nur als positiv, so zu sein, wie alle anderen. Sie werden daher auch oft Meinungen vertreten, von denen sie genau wissen, dass sie nicht den „Mehrheitsgeschmack“ treffen, denn alle streben gleichzeitig auch nach Individualität und Einzigartigkeit. Man kann also die Aussage desselben Umfrageteilnehmers, der eine Minderheitenposition vertritt, auf zwei völlig unterschiedliche Arten bewerten. Zum einen können sie als negativ und als abweichend von der Norm ansehen werden. Aus einer anderen Perspektive haben abweichende Antworten aber eine positivere Färbung: Man kann sie auch als Ausdruck von Individualität, „Persönlichkeit“, Unabhängigkeit betrachten. Das Objekt der Betrachtung bleibt unverändert, aber unsere Ansichten darüber bleiben es nicht.
Anmerkung
Dieser Beitrag wurde im Rahmen eines Forschungsprojekts erstellt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird (ER 257/3-2).
Die Autoren danken zwei anonymen Gutachter(inne)n für wertvolle Hinweise zur Verbesserung des Manuskripts.
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