Lügen, betrügen und trotzdem mit sich selbst zufrieden sein? Der Selbstwert unter der Lupe
Wenn wir intelligent, durchsetzungsfähig und zielstrebig sind, dann halten wir uns für eine wertvolle Person. Dagegen sei es für unseren Selbstwert egal, ob wir freundlich und ehrlich sind oder andere zurückweisen und belügen. Das sagen zumindest einige psychologische Studien zum Selbstwert. Doch kann das wirklich wahr sein?
Stellen Sie sich einmal diese beiden Personen vor: Anna ist sehr gut in ihrem Job, sie ist intelligent, setzt sich fast immer gegen ihre MitbewerberInnen durch und arbeitet zielstrebig auf ihre Ziele hin. Bevor sie heute das Büro verlassen wollte, wurde sie von einer Kollegin um Hilfe gebeten. Doch Anna hatte keine Lust ihr zu helfen und hat sie deswegen belogen, sie müsse los. So etwas macht sie öfter.
Bea ist hingegen beruflich nicht ganz so erfolgreich wie Anna, da sie nicht so durchsetzungsfähig ist, aber auf jeden Fall genauso kompetent im Job. Zudem hilft sie gerne ihren Mitmenschen und ist immer ehrlich zu ihnen. Wenn die beiden abends über sich selbst nachdenken, wer ist wohl zufriedener mit sich selbst? Vielleicht werden Sie sich jetzt wundern, aber nach anfänglichen psychologischen Studienergebnissen: definitiv Anna. Und selbst wenn die beiden beruflich gleich erfolgreich wären, würde sich Bea, laut dieser Studien, als Person immer noch nicht wertvoller wahrnehmen als Anna.
Die eben genannten Eigenschaften von Anna und Bea lassen sich in zwei Gruppen einteilen, welche als die Basisdimensionen der sozialen Kognition bezeichnet werden, also als grundlegende Dimensionen der Wahrnehmung und Beurteilung von Personen. Diese zwei Gruppen heißen Agency und Communion (Abele & Wojciszke, 2014). Eigenschaften wie Intelligenz, Durchsetzungsfähigkeit und Zielstrebigkeit gehören zu Agency. Bei Agency geht es um die eigene Person und darum, wie man seine Ziele erreicht, um im Leben voran zu kommen. Eigenschaften wie Freundlichkeit, Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit wiederum zählen zu Communion. Bei Communion geht es um die Zugehörigkeit von Menschen zu Gruppen (beispielsweise zur Familie oder zu einem Freundeskreis) und darum, wie man harmonische Beziehungen aufbaut, um im Leben gut mit anderen zurecht zu kommen. Unter dem Selbstkonzept versteht man, wie man sich als Person selbst auf diesen beiden Eigenschaftsdimensionen wahrnimmt und beschreibt. Das Selbstkonzept beeinflusst wiederum den Selbstwert. Dieser ist die eigene Bewertung unserer Selbstwahrnehmung auf einer Positiv-Negativ-Dimension. Aber wie hängen Agency und Communion mit dem Selbstwert genau zusammen? Während beispielsweise Studien aus der Peer-Forschung immer wieder zeigen konnten, dass kommunale Aspekte wie Beziehungen positive Effekte für das eigene Selbst haben (z. B. Neyer & Lenhardt, 2007), kamen Studien zum Zusammenhang des agentischen und kommunalen Selbstkonzepts mit dem Selbstwert (z. B. Wojciszke et al., 2011) hingegen zu dem Ergebnis, dass wir uns nur dann für eine wertvolle Person halten, wenn wir uns für intelligent und durchsetzungsfähig halten. Dagegen ist es für unseren Selbstwert egal, ob wir anderen helfen oder sie betrügen. Ein verwunderliches Ergebnis. Aber ist es wirklich so, dass unsere Communion für unseren Selbstwert keine Rolle spielt? Oder gibt es eine andere Erklärung, warum dieser Zweig an Studien keinen Zusammenhang von Communion mit dem Selbstwert findet? Um diese Frage zu klären, sollten wir uns die bisherigen Studien zu diesem Zusammenhang erst einmal genauer anschauen.
Der Selbstwert wird von Agency bestimmt
Der beschriebene Zweig an Studien hat bereits mit verschiedenen Vorgehensweisen gezeigt, dass Agency wichtiger für den Selbstwert ist als Communion (Überblicksartikel Abele & Hauke, 2018). Bittet man Personen beispielsweise Situationen offen zu beschreiben, die ihren Selbstwert beeinflusst haben, so nennen sie oft Erfolgs- oder Misserfolgserlebnisse im Beruf. Andere Studien haben den TeilnehmerInnen Fragebögen vorgelegt, in denen sie ihre agentischen und kommunalen Eigenschaften bewerten sollten. Beispielsweise sollten sie auf einer fünfstufigen Skala angeben, wie durchsetzungsfähig oder freundlich sie sind. Dabei bedeutet das Ankreuzen einer 1, dass sie diese Eigenschaft gar nicht und das Ankreuzen einer 5, dass sie diese Eigenschaft sehr ausgeprägt haben. Anschließend sollten sie im Fragebogen auf die gleiche Weise ihren Selbstwert einschätzen. Dazu gaben sie an, wie sehr sie Aussagen wie „Im Großen und Ganzen bin ich zufrieden mit mir selbst.“ zustimmen. Die Forschenden nahmen dann die Werte aus diesen Fragebögen und setzten sie statistisch miteinander in Bezug. Dabei fanden sie, dass je agentischer sich eine Person einschätzt, desto höher ist ihr Selbstwert. Für Communion gab es keinen Zusammenhang zum Selbstwert. Egal ob Personen angaben, dass sie sehr oder gar nicht freundlich sind, der Selbstwert war davon unbeeinflusst. In anderen Studien wurden Personen gebeten, sich entweder an ein positives oder negatives Erlebnis zu erinnern. Zudem wurde die eine Hälfte gebeten, sich an ein agentisches Erlebnis zu erinnern (beispielsweise ein berufliches Erfolgs- oder Misserfolgserlebnis); die andere Hälfte sollte sich an ein kommunales Erlebnis erinnern (beispielsweise, dass man einem Freund geholfen oder sich mit ihm gestritten hat). Die Ergebnisse zeigten, dass Personen, welche sich an ein positives (bzw. negatives) agentisches Erlebnis erinnern sollten, danach einen höheren (bzw. niedrigeren) Selbstwert hatten. Dagegen spielte es für den Selbstwert keine Rolle, ob man sich an ein positives oder negatives kommunales Erlebnis erinnern sollte, der Selbstwert der Personen blieb unverändert. Laut diesen Studien bestimmt also das agentische Selbstkonzept den Selbstwert, während das kommunale Selbstkonzept keinen bedeutenden Zusammenhang zum Selbstwert aufweist. Diese Ergebnisse kann man auch am obigen Beispiel von Anna und Bea gut beobachten. Sie wirken aber überraschend und widersprechen sogar manchen Theorien zum Selbstwert.
Was ist der Selbstwert überhaupt?
Es gibt viele Theorien über die Natur des Selbstwertes (Abele & Hauke, 2018), darunter auch zwei sehr bekannte Selbstwertansätze, welche einen Zusammenhang von Communion mit dem Selbstwert eigentlich nahelegen.
Laut der Soziometer-Theorie (Leary & Downs, 1995) zeigt der Selbstwert, ähnlich wie ein Thermometer die Temperatur anzeigt, den eigenen Beziehungswert an, d. h. den Wert, den man als Mitmensch für andere besitzt. Für andere ist es wiederum am wichtigsten, dass wir freundlich und ehrlich (d. h. kommunal) sind. Wenn wir anderen also beispielsweise nicht helfen, so wie Anna, und unsere Mitmenschen uns deswegen abweisen, sollte unser Soziometer und somit unser Selbstwert sinken.
Die Terror Management Theorie (Solomon et al., 1991) nimmt an, dass der Selbstwert widerspiegelt, wie gut wir kulturelle Normen erfüllen. Wer kulturelle Normen erfüllt, ist wiederum eine gute und wertgeschätzte Person. Interessant ist, dass weltweit kommunale Normen und Werte von Personen wichtiger eingeschätzt werden als agentische (Paulhus & Trapnell, 2008; Schwartz & Bardi, 2001). Wer also kommunal ist und beispielsweise anderen Menschen hilft, so wie Bea, und damit die kulturelle Norm der Hilfsbereitschaft erfüllt, sollte nach der Terror Management-Theorie einen positiven Selbstwert haben.
Wenn es also weit verbreitete Theorien gibt, welche einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen dem kommunalen Selbstkonzept und dem Selbstwert annehmen lassen und auch Studien aus anderen Forschungsbereichen, welche diese Theorien stützen (z. B. Reitz et al., 2016), wieso finden wir diesen Zusammenhang dann nicht in dem beschriebenen Forschungszweig? Vielleicht sollten wir Agency, Communion und den Selbstwert einmal genauer unter die Lupe nehmen, um die Zusammenhänge bis ins Detail zu verstehen und nichts zu übersehen.
Unter der Lupe I: Die Facetten von Agency und Communion
Zwar ist eine Aufteilung aller Eigenschaften in nur zwei Basisdimensionen sehr elegant, aber für manche Forschungsfragen vielleicht zu sparsam. Denn die Basisdimensionen lassen sich jeweils in zwei Facetten unterteilen (Abele et al., 2016; siehe Abbildung 2). Agency beinhaltet die Facetten Kompetenz und Durchsetzungsfähigkeit. Denn das erfolgreiche Erreichen von Zielen erfordert sowohl die nötigen Fähigkeiten ( Kompetenz) als auch Motivation und Durchhaltevermögen (Durchsetzungsfähigkeit). Der sozioökonomische Status einer Person hängt beispielsweise stärker mit ihrer Durchsetzungsfähigkeit als mit ihrer Kompetenz zusammen. Communion umfasst die Facetten Warmherzigkeit und Moralität. Denn das Schließen und Aufrechterhalten von sozialen Beziehungen verlangt fürsorgliches Verhalten (Warmherzigkeit) und vertrauenswürdiges Verhalten (Moralität). Für die Bewertung von anderen Personen ist die Moralität dieser noch wichtiger als ihre Warmherzigkeit.
Unter der Lupe II: Die Komponenten des Selbstwerts
Die bisherige Forschung zum Zusammenhang von Agency und Communion mit dem Selbstwert hat sich auf den personalen Selbstwert konzentriert. Dieser basiert allgemein auf den individuellen Eigenschaften einer Person. Dieser personale Selbstwert wurde in den bisherigen Studien zudem meist als globales, d. h. allgemeines, Konstrukt erfasst. Doch er setzt sich bei genauerer Betrachtung aus verschiedenen Komponenten zusammen (Heatherton & Polivy, 1991; siehe Abbildung 3): Der leistungsbezogene Selbstwert basiert auf der Überzeugung in Ausbildung und Beruf leistungsfähig zu sein. Er wird mittels der Zustimmung zu Aussagen wie „Ich bin frustriert oder durcheinander aufgrund meiner Leistung“ gemessen. Der soziale Selbstwert basiert auf Selbstsicherheit in sozialen Situationen und darauf, wie gut man mit Kritik umgehen kann (Beispiel-Aussage: „Ich mache mir Sorgen wegen des Eindrucks, den ich mache.“). Der physische Selbstwert basiert auf körperlicher Attraktivität und körperlichen Fähigkeiten (Beispiel-Aussage: „Ich bin mit meinem Äußeren zufrieden.“). Neben dem personalen Selbstwert gibt es unter anderem aber auch noch den relationalen Selbstwert (Du et al., 2012). Dieser basiert auf Beziehungen zu wichtigen anderen, wie Familienmitgliedern und engen FreundInnen, und spiegelt den Wert wieder, den man aus seinen Beziehungen für die eigene Person ziehen kann (Beispiel-Aussage: „Insgesamt genießt mein Freundeskreis bei anderen gutes Ansehen.“).
Da die Begriffe „sozial“ und „relational“ leicht verwechselt werden können: Der soziale Selbstwert bezieht sich auf soziale Situationen wie einen Vortrag vor einer Gruppe zu halten und spiegelt wider, wie selbstsicher man sich dabei fühlt. Beim relationalen Selbstwert geht es hingegen wirklich um das, was wir intuitiv unter „sozial“ verstehen würden und spiegelt wider, welchen Wert wir aus unseren Beziehungen beispielsweise zu unseren FreundInnen für uns ziehen können.
Unter der Lupe III: Welche agentischen und kommunalen Facetten sind nun wichtig für welche Komponenten des Selbstwertes?
Um diese Frage klären zu können, haben wir ein Forschungsprojekt mit insgesamt 2.357 TeilnehmerInnen aus sechs Ländern (Deutschland, Frankreich, Polen, Australien, USA, China) durchgeführt (Abele et al., 2016; Hauke & Abele, 2020). Jede Person hat dabei einen Fragebogen ausgefüllt, in dem sie sich erst selbst bezüglich 20 agentischer und kommunaler Eigenschaften einschätzen sollte. Danach gaben die Personen anhand verschiedener Skalen (Beispiel-Aussagen siehe oben) ihren globalen personalen Selbstwert, dessen leistungsbezogene, soziale und physische Komponenten sowie ihren relationalen Selbstwert an. Diese Werte setzten wir dann statistisch miteinander in Bezug.
Unsere Ergebnisse bezüglich des globalen personalen Selbstwertes konnten die Ergebnisse aus früheren Studien bestätigen: Je agentischer sich eine Person einschätzt, desto höher ist ihr globaler personaler Selbstwert. Dieses Ergebnis konnten wir aber auch spezifizieren: Vor allem je durchsetzungsfähiger sich eine Person einschätzt, desto höher ist ihr globaler personaler Selbstwert. Dieses Ergebnis ist nicht verwunderlich: Der Selbstwert einer Person ist eng mit ihrem sozioökonomischen Status verknüpft und der Status hängt am stärksten von der Durchsetzungsfähigkeit ab. Zusätzlich fanden wir heraus, dass die agentische Facette Durchsetzungsfähigkeit nicht nur ausschlaggebend für den globalen personalen Selbstwert ist, sondern auch für dessen Komponenten, also für den leistungsbezogenen, sozialen und physischen Selbstwert. Die agentische Facette Kompetenz ist zudem auch noch wichtig für den leistungsbezogenen Selbstwert. Dies war zu erwarten, da Kompetenz zu guter Leistung führt. Beide kommunalen Facetten zeigten dagegen auch in unserer Forschung keinen Zusammenhang zum personalen Selbstwert. Ist es also wirklich so, dass Anna sich immer als wertvollere Person betrachtet als Bea?
Nicht ganz… Der relationale Selbstwert hängt nicht nur mit Agency, sondern auch mit Communion zusammen: Je durchsetzungsfähiger, warmherziger und moralischer sich eine Person einschätzt, desto höher ist ihr relationaler Selbstwert. Demzufolge sind für diesen Bereich der Selbstevaluation auch die kommunalen Facetten unserer Persönlichkeit von entscheidender Rolle. Da der Selbstwert von beiden Komponenten (global-personal und relational) abhängt, beeinflusst sowohl Agency (hauptsächlich über den globalen personalen Pfad) also auch Communion (hauptsächlich über den relationalen Pfad) den Selbstwert. Dieses neuere Forschungsprojekt konnte somit aufzeigen, wie hilfreich es manchmal ist „eine Lupe zu benutzen“ und sich globale Konstrukte auch in ihren Komponenten und Facetten anzuschauen.
Lügen, betrügen und trotzdem mit sich selbst zufrieden sein? Nein!
Nochmal zusammengefasst: Für unseren Selbstwert, also ob wir positiv von uns denken, ist sowohl unser agentisches als auch unser kommunales Selbstkonzept wichtig. Für den personalen Selbstwert sind unsere agentischen Eigenschaften, vor allem unsere Durchsetzungsfähigkeit, ausschlaggebend. Deshalb ist diese Komponente des Selbstwertes bei Anna auch höher ausgeprägt als bei Bea. Für unseren relationalen Selbstwert, dem Wert unserer Person, den wir aus engen sozialen Beziehungen ziehen, ist es aber auch wichtig, dass wir kommunale Eigenschaften wie Ehrlichkeit und Warmherzigkeit besitzen. Deshalb schlägt Beas relationaler Selbstwert den von Anna. Wenn die beiden also abends über sich selbst nachdenken, wer ist wohl zufriedener mit sich selbst? Da der relationale Selbstwert genauso wie der global personale Selbstwert zum übergeordneten Selbstwert beiträgt, ist es wahrscheinlich, dass Bea und Anna beide zufrieden mit sich selbst sind und sich einen ähnlich hohen Selbstwert zusprechen. Ihre Bewertung speist sich nur aus anderen Eigenschaften.
Deswegen: Es ist definitiv wichtig, dass Sie durchsetzungsfähig und motiviert auf Ihre Ziele hinarbeiten. Aber seien Sie auch freundlich und ehrlich zu Ihren Mitmenschen, für die anderen und auch für sich selbst!
Literaturverzeichnis
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Schwartz, S. H., & Bardi, A. (2001). Value hierarchies across cultures: Taking a similarities perspective. Journal of Cross-Cultural Psychology, 32(3), 268-290. doi:10.1177/ 0022022101032003002
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