Gibt es eine dunkle Seite von Mitgefühl?

Wäre nicht Vieles besser, wenn wir zu mehr Mitgefühl fähig wären? Während viele Menschen sofort unterschreiben würden, dass es auf der Welt gar nicht genug Mitgefühl geben kann, vertritt der Psychologe Paul Bloom die These, dass viele unserer Entscheidungen besser und moralisch richtiger wären, wenn kein Mitgefühl im Spiel wäre. Wie kommt er zu dieser Ansicht?

Paul Bloom (2014, 2015) verweist auf drei problematische Eigenschaften von Mitgefühl: Erstens sei Mitgefühl selektiv: Wir empfinden es für manche Menschen eher als für andere, so Alexas_Fotos via Pixabay (https://pixabay.com/de/krieg-flüchtlinge-kinder-helfen-953246/), CC0 Public Domainetwa eher  für Menschen, die uns ähnlich sind oder sich räumlich in unserer Nähe befinden. Zweitens sei Mitgefühl unsensibel für Zahlen. Wir empfinden es recht intensiv für Individuen, aber nur in sehr abgeschwächter Form für notleidende Menschen in großer Zahl. Und drittens begünstige starkes Mitgefühl eine erbarmungslose und unter Umständen auch gewaltbereite Haltung gegenüber den Verursacher/-innen des Leids.  Aus Sicht von Bloom würde weniger Mitgefühl zu rationalerem und moralisch besserem  Verhalten führen: Wir würden dort am meisten Hilfe leisten, wo die meisten Menschen leiden und zwar unabhängig davon, wer diese Menschen sind und wo sie sich befinden. Außerdem wären wir nicht so leicht verführbar, Gewalt gegen die Widersacher/-innen bemitleideter Menschen zu befürworten. Anteilnahme am Schicksal anderer Menschen und ein kühler Verstand sind aus seiner Sicht besser als starkes Mitgefühl.

Es verwundert nicht, dass dieses Plädoyer für weniger Mitgefühl viel Widerspruch hervorgerufen hat. Die Psychologen Daryl Cameron, Michael Inzlicht und William Cunningham (2015) gehören beispielsweise zu jenen, die in dieser Debatte klar Position gegen Boom beiziehen. Sie werfen ihm eine veraltete Sichtweise vor, die Emotionen als irrationale, potenziell schädliche Kräfte versteht, die durch den Verstand gebändigt werden müssen, um schädliches Verhalten zu vermeiden. Aus ihrer Sicht ist Mitgefühl von entscheidender Bedeutung für Hilfeverhalten und keinesfalls immer mit den problematischen Aspekten verknüpft, die Bloom hervorhebt. Als man z. B. in einer Studie Menschen darüber informierte, dass die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, erlernt und trainiert werden könne, führte schon diese Information dazu, dass sie sich aktiv bemühten, auch für Mitglieder von Gruppen, denen sie nicht angehörten, Mitgefühl zu empfinden (Schumann, Zaki & Dweck, 2014). In einer andere Studie konnte gezeigt werden, dass geringeres Mitgefühl für Gruppen im Vergleich zu Individuen vor allem dann auftritt, wenn Menschen motiviert sind, das Mitgefühl gegenüber der Gruppe aktiv zu unterdrücken, z. B. weil sie wissen, dass man sie um eine Spende bitten wird und höheres Mitgefühl eine höhere Spende implizieren würde (Cameron & Payne, 2011). Diese Studien zeigen, dass wir dem Wirken von Mitgefühl nicht passiv ausgeliefert sind, sondern durchaus aktiv beeinflussen können, für wen und in welchen Situationen wir Mitgefühl empfinden.

Die Debatte über die Vor- und Nachteile von Mitgefühl ist in vollem Gange und bietet viele Ansatzpunkte für spannende Forschung. Was sich aber jetzt schon sagen lässt, ist, dass es mit Mitgefühl wahrscheinlich so ist wie mit vielen anderen Emotionen: Sie sind weder grundsätzlich gut, noch grundsätzlich schädlich. Sie erfüllen in bestimmten Situationen eine nützliche Funktion für das Individuum und/oder die Gruppe, können aber im Übermaß oder in den falschen Situationen durchaus auch Schaden anrichten. Insofern ist Mitgefühl sicherlich nicht ganz so negativ zu sehen, wie Bloom es darstellt, aber es hat durchaus auch seine Berechtigung, auf einige Probleme und Nebenwirkungen von Mitgefühl hinzuweisen.

 

Literatur

Bloom, P. (September, 2014). Against empathy. Boston Review.

Bloom, P. (September, 2015). The dark side of empathy. The Atlantic.

Cameron, D., Inzlicht, M. & Cunningham, W. A. (Juli, 2015). Empathy is actually a choice. The New York Times.

Cameron, C. D. & Payne, B. K. (2011). Escaping affect: How motivated emotion regulation creates insensitivity to mass suffering. Journal of Personality and Social Psychology, 100, 1-15.

Schumann, K., Zaki, J. & Dweck, C. S. (2014). Addressing the empathy deficit: Beliefs about the malleability of empathy predict effortful responses when empathy is challenging. Journal of Personality and Social Psychology, 107, 475-493.