Warum erleben Frauen weniger Orgasmen als Männer?
Männer berichten mehr Orgasmen als Frauen*, vor allem in heterosexuellen Beziehungen. Wer nun aber denkt, dass diese sogenannte Orgasmus-Lücke durch biologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern zu erklären ist liegt falsch.
Frauen und Männer unterscheiden sich nicht in ihrer biologischen Ausstattung und Fähigkeit zum Orgasmus zu kommen. So erleben 95% der Frauen einen Orgasmus, wenn sie sich selbstbefriedigen (Mahar et al., 2020). Auch kommen Frauen, die Sex mit Frauen haben, häufiger zum Höhepunkt als Frauen, die Sex mit Männern haben (Frederick et al., 2018).
Diese Zahlen deuten darauf hin, dass das Problem nicht in der „weiblichen Biologie“ liegt. Die Orgasmus-Lücke kann vielmehr darauf zurückgeführt werden, was a) beim Sex gemacht wird und b) welche Vorstellungen über Sex wir gesellschaftlich teilen.
In unserer Gesellschaft ist die Idee weit verbreitet, dass „echter Sex“ vaginaler Sex ist. Wenn Menschen befragt werden, was „Sex haben“ bedeutet, entgegnet die Mehrzahl vaginaler Sex. Den wenigsten kommt Oralsex oder Petting in den Sinn (Sanders & Reinisch, 1999). Die wenigsten Frauen erleben jedoch einen Orgasmus durch vaginalen Sex allein. Um zum Orgasmus zu kommen, benötigen die meisten Frauen eine direkte Stimulation der Klitoris durch den Mund und/oder die Hand. Diese Praktiken werden von Frauen, die Sex mit Frauen haben, häufiger durchgeführt, was erklärt warum sie häufiger Orgasmen haben als heterosexuelle Frauen (Frederick et al., 2018).
Darüber hinaus zeigen Studien, dass sowohl Männer als auch Frauen dem Orgasmus des Mannes eine wichtigere Rolle zuschreiben (McClelland, 2011). Dies äußert sich z.B. darin, dass für die Mehrzahl der heterosexuellen Menschen Sex dann zu Ende ist, wenn der Mann gekommen ist.
Diese Überbetonung des männlichen Vergnügens geht bei einigen Frauen sogar auf Kosten des eigenen Orgasmus. So stellen einige Frauen das sexuelle Vergnügen ihres Partners über ihr eigenes Lusterleben (Willis, Jozkowski, Lo, & Sanders, 2018). Wie wichtig der männliche Orgasmus ist, zeigt sich auch, wenn man Paare befragt: Der männliche Orgasmus ist interessanterweise ein Marker für die sexuelle Zufriedenheit beider Partner. Mit anderen Worten, wenn Frauen gefragt werden wie sexuell zufrieden sie sind, berichten sie oft über die sexuelle Zufriedenheit ihres Partners und nicht über ihre eigene (McClelland, 2011).
Zusammenfassend kann die Orgasmus-Lücke zwischen heterosexuellen Frauen und Männern auf die sexuellen Praktiken zurückgeführt werden, die die Klitoris wenig fokussieren. Ein weiterer Grund für die Orgasmus-Lücke ist die kulturell verbreitete Idee, die das sexuellen Vergnügen des Mannes über das der Frau stellt (Willis et al., 2018). Somit kann die Orgasmus-Lücke nicht durch biologische Geschlechterunterschiede erklärt werden, sondern vielmehr durch den sozialen Kontext, der beeinflusst, wie Menschen Sex haben.
* Die in diesem Beitrag beschrieben Studien beziehen sich auf Menschen mit jeweils biologisch weiblichem und männlichem Geschlecht und einer entsprechenden Identifikation als Frau/Mann.
Quellen:
Frederick, D. A., John, H. K. S., Garcia, J. R., & Lloyd, E. A. (2018). Differences in orgasm frequency among gay, lesbian, bisexual, and heterosexual men and women in a US national sample. Archives of Sexual Behavior, 47(1), 273-288. https://doi.org/10.1007/s10508-017-0939-z
Mahar, E. A., Mintz, L. B., & Akers, B. M. (2020). Orgasm equality: Scientific findings and societal implications. Current Sexual Health Reports, 12(1), 24-32.
McClelland, S. I. (2011). Who is the “Self” in Self Reports of Sexual Satisfaction? Research and Policy Implications. Sexuality Research and Social Policy, 8(4), 304–320. https://doi.org/10.1007/s13178-011-0067-9
Sanders, S. A., & Reinisch, J. M. (1999). Would you say you had sex if...?. Jama, 281(3), 275-277. https://doi.org/10.1001/jama.281.3.275
Willis, M., Jozkowski, K. N., Lo, W.-J., & Sanders, S. A. (2018). Are Women’s Orgasms Hindered by Phallocentric Imperatives? Archives of Sexual Behavior, 47(6), 1565–1576. https://doi.org/10.1007/s10508-018-1149-z
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