Deutsche Emotionen: Soziale Identität, gruppenbasierte Scham und Erinnerungskultur in Deutschland

Haben Deutsche auch drei Generationen nach dem Holocaust eine besondere „historische Verantwortung“? Die deutsche Vergangenheit und deren Aufarbeitung ist jedenfalls noch immer ein kontrovers diskutiertes und emotionales Thema. In diesem Beitrag gehe ich zunächst auf die Theorie der sozialen Identität ein, die hilft, das Phänomen gruppenbasierter Emotionen zu verstehen. Daraufhin betrachte ich die Emotionen Schuld und Scham genauer und stelle Befunde aus der Forschung zu gruppenbasierten Emotionen in Deutschland vor, um abschließend Herausforderungen für eine zeitgemäße Erinnerungskultur in Deutschland abzuleiten.

Eine „besondere Verantwortung“ auch heute noch

Insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Nazi-Vergangenheit lassen sich interessante Fragen nach Emotionen wie Schuld und Scham stellen: Welche Beziehung haben Deutsche, drei Generationen nach dem Holocaust, zur Vergangenheit? Ist das Thema für sie überhaupt noch relevant (für eine umfangreiche Darstellung der intergenerationalen Diskussion des Themas in deutschen Familien, s. Welzer, Moller, & Tschuggnall, 2010)? Empfinden sie Emotionen für ein Verbrechen, an dem sie persönlich gar nicht beteiligt waren? Fühlen sie sich schuldig? Schämen sie sich? Immer noch scheint die Thematik wie kaum eine andere mit Emotionen besetzt, die auch über die reine Beschäftigung mit der Vergangenheit hinausgehen und so Auswirkungen auf die Gegenwart haben könnten. So wird die deutsche Vergangenheit zu manchen Gelegenheiten im öffentlichen und politischen Diskurs auch in scheinbar unverbundenen Zusammenhängen angesprochen, etwa, wenn es um Zuwanderungspolitik geht. Tatsächlich scheint die deutsche Vergangenheit manchmal schier untrennbar mit der deutschen Identität verwoben. Und oft wird an die „besondere Verantwortung“ Deutschlands und Deutscher appelliert, die sich aus ebendieser Vergangenheit ergebe. In seiner historischen Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am 8. Mai 1985 sprach der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker gezielt die jungen Menschen an, die nach Ende des Krieges geboren wurden: „Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Hass zu schüren. Die Bitte an die jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken.“ Wie kommt von Weizsäcker dazu, gerade Juden und Türken nebeneinander zu stellen – Opfer der nationalsozialistischen Ideologie in der Vergangenheit und Opfer sozialer Diskriminierung vierzig Jahre nach Kriegsende (wie auch heute)? Mehr als nur implizit scheint hier die Annahme durch, dass sich Deutsche heute anders gegenüber Minderheiten verhalten (sollten), weil Deutschland in der Vergangenheit Schauplatz unvorstellbarer Verbrechen war – aber warum fühlen wir uns, wenn wir heute „Deutschland sind“, wie uns eine kontroverse Image-Kampagne 2005 nahelegen wollte, überhaupt schuldig für Verbrechen, die wir nicht selbst begangen haben? Und warum sind wir eigentlich Deutschland? Und sind wir wirklich alle gleich viel Deutschland, vor allem vor dem Hintergrund einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft? Um diese und andere Fragen beantworten zu können, analysiert der vorliegende Beitrag zunächst genauer, was uns als soziale Wesen ausmacht: unsere soziale Identität.

Die Theorie der sozialen Identität

Die Theorie der sozialen Identität besagt, dass ein Teil unseres Selbstkonzepts eng damit zusammenhängt, welchen Gruppen wir uns zugehörig fühlen. Dieser Teil ist unsere soziale Identität (Tajfel & Turner, 1986). Natürlich bleiben wir wir selbst, behalten unsere individuelle Identität als eigenständige Personen, aber in bestimmten Situationen kann eine bestimmte soziale Identität durch eine Gruppenmitgliedschaft in den Vordergrund rücken. Wenn wir etwa ein Fußballspiel im Fernsehen anschauen, dann fiebern wir mit der Mannschaft mit, der wir uns zugehörig fühlen. Wenn wir uns mit einer bestimmten Partei identifizieren, dann freuen wir uns über deren Wahlerfolge – oder ärgern uns über Erfolge der „anderen“. In solchen und ähnlichen Situationen lassen sich die Auswirkungen von Kategorisierungsprozessen beobachten: Die bloße Einteilung in wir und die gehört oft zu den grundlegenden Mechanismen, die den Ausgangspunkt für die Bevorzugung der eigenen – und häufig auch einer Abwertung von anderen Gruppen – bilden können (Tajfel, Billig, Bundy, & Flament, 1971; s. Brewer, 1999, für einen differenzierten theoretischen Überblick). In der Regel haben wir viele verschiedene soziale Identitäten, die sich auch überschneiden können: Beispielsweise könnte sich eine Person als passionierten (aber nicht besonders begabten) Golfspieler, politisch interessierten Bewohner einer Großstadt in Ostwestfalen-Lippe, gleichzeitig aber auch als Europäer und letztlich als Menschen, kategorisieren. Je größer und inklusiver die Kategorien, denen wir uns gerade zuordnen, desto eher haben wir das Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein.

German Fans von StewieD via flickr (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/), cc (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)Alle, die zum Beispiel schon einmal Teil eines (Sport-) Teams waren, kennen wahrscheinlich dieses Gefühl: Genau das ist unsere soziale Identität. Je nach Situation können wir also zwischen individueller oder einer unserer sozialen Identitäten wechseln. Besonders interessant ist nun, dass die gerade aktivierte soziale Identität auch mitbestimmt, wie wir die Welt um uns herum sehen, wie wir uns verhalten – und was wir fühlen. Zwei besonders interessante Emotionen im Kontext deutscher Geschichte sind Schuld und Scham.

Schuld und Scham

Wir alle kennen Situationen aus dem Alltag, in denen wir uns falsch verhalten, und häufig fühlen wir uns anschließend schlecht – wir fühlen uns schuldig oder schämen uns. Aber was genau ist eigentlich der Unterschied zwischen diesen beiden Emotionen? Schon Lewis (1971) argumentierte, dass sich Schuld und Scham im Hinblick darauf unterscheiden, inwiefern sie das eigene Selbst betreffen. Was sich abstrakt anhören mag, wird nachvollziehbarer, wenn wir uns vor Augen führen, in welchen Zusammenhängen wir im Alltag von solchen Emotionen sprechen: Wir fühlen uns schuldig wegen der Lüge, die wir einem Freund auftischen, etwa, um zu erklären, warum wir nicht zu einer Verabredung erschienen sind. Zusätzlich oder stattdessen schämen wir uns dafür, was die Tatsache, dass wir gelogen haben, über unsere eigenen moralischen Standards aussagen könnte. Oder wir schämen uns, wenn wir auffliegen und vor unserem Freund und anderen Bekannten als Lügner dastehen. Im ersten Fall liegt also der Fokus auf der Handlung, im zweiten und dritten Fall auf der Bedeutung für das eigene Selbst. An diesen theoretischen Überlegungen wird auch deutlich, dass wir aus ganz unterschiedlichen Gründen Scham empfinden können. Alle diese Gründe haben jedoch gemeinsam, dass Ansprüche oder Erwartungen, die wir an uns selbst haben, verletzt werden (s. Deonna, Rodogno, & Teroni, 2011). Zwei Ansprüche an uns selbst sind uns besonders wichtig, nämlich, (1) moralisch handelnde und (2) von anderen respektierte und geachtete Individuen zu sein. Wenn wir befürchten, dass einer dieser beiden Ansprüche verletzt werden könnte, neigen wir dazu, uns zu schämen. Um die Gründe widerzuspiegeln, aus denen diese Emotionen empfunden werden, könnte man dabei von moralischer Scham und imagebezogener Scham sprechen. Schuld hingegen empfinden wir in aller Regel aufgrund von konkretem (Fehl-) Verhalten. Einige Forscher haben deswegen argumentiert, dass diese Emotion vor allem dem Erhalt oder der Wiederherstellung von sozialen Beziehungen dient (Baumeister, Stillwell, & Heatherton, 1994).

Die Unterscheidung der Emotionen Scham und Schuld hat sich nicht nur als theoretisch wichtig erwiesen. Welche Emotion wir nach Fehlverhalten empfinden, bestimmt vielmehr auch unsere Reaktion auf dieses Fehlverhalten (Tangney, Miller, Flicker, & Barlow, 1996). Fühlen wir uns dafür schuldig, unseren Freund belogen zu haben, dann liegt nach der geschilderten Logik der Fokus auf dem Verhalten, für das wir uns konsequenterweise entschuldigen könnten, um die Sache aus der Welt zu schaffen. Interpretieren wir die Situation hingegen so, dass nicht das Verhalten, sondern wir selbst schlecht oder falsch sind, dann sind die Konsequenzen, die wir ziehen, eventuell sehr viel weitreichender. Sorgen wir uns um unsere moralischen Standards, dann unternehmen wir vielleicht Anstrengungen, diese wiederherzustellen. Vielleicht geben wir abends im Restaurant mehr Trinkgeld als gewöhnlich oder sind besonders nett zu den Kollegen im Büro. Es ist dann gar nicht wichtig, ob unser Freund unser Verhalten mitbekommt. Das wichtigste Ziel solcher Verhaltensweisen ist, uns selbst zu beweisen, dass wir im Kern doch eine moralisch handelnde Person sind und diese eine Lüge lediglich eine Ausnahme war. In sozialer Hinsicht besonders negative Folgen jedoch kann Scham haben, die wir aus Sorge um unser soziales Ansehen empfinden, denn was ist die einfachste Strategie, sich dem kritischen Blick unseres gekränkten Freundes zu entziehen? Wir vermeiden es, ihn zu treffen, und im schlimmsten Fall vermeiden wir auch, Personen zu treffen, denen er von dem Vorfall erzählt haben könnte.

Gruppenbasierte Emotionen und was sie bewirken

Bild von calgrin via morguefile (https://morguefile.com/creative/calgrin/4/all), cc (https://morguefile.com/license)Gruppenbasierte Emotionen sind Emotionen, die wir aufgrund unserer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe empfinden, wenn diese Zugehörigkeit uns bewusst ist (Garcia-Prieto & Scherer, 2006; Mackie, Smith, & Ray, 2008). Zunehmend finden solche gruppenbasierten Emotionen Beachtung in der sozialpsychologischen Forschung zu Konflikten zwischen Gruppen. Dass sich etwa Schuldempfinden auch auf Gruppenebene wiederfindet, zeigten u.a. Doosje, Branscombe, Spears und Manstead (1998). Teilnehmende ihrer Studie empfanden Schuld, wenn ihre eigene Gruppe sich gegenüber einer anderen Gruppe falsch verhalten hatte – und das, obwohl sie selbst gar nicht an diesem Fehlverhalten beteiligt waren. Das Gefühl der Teilnehmenden kam also einzig aufgrund ihrer Selbst- Kategorisierung zustande: Sie empfanden gruppenbasierte Schuld (s. z.B. Allpress, Barlow, Brown, & Louis, 2010, für eine Studienreihe, in der auch gruppenbasierte Scham berücksichtigt wird).

Die Forschung zu gruppenbasierter Schuld und Scham beleuchtete lange Zeit nahezu ausschließlich die Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen der Tätergruppe und der diskriminierten, unterdrückten oder anderweitig geschädigten Opfergruppe (Wohl, Branscombe, & Klar, 2006). So wurde inzwischen vielfach belegt, dass gruppenbasierte Emotionen ähnliche Folgen im Hinblick auf unser Verhalten haben wie Emotionen, die wir als Individuum empfinden (z.B. Brown et al., 2008).

24/52. Emotion von danielito311 via flickr (https://www.flickr.com/photos/danielito311/5847295876/in/photolist-9UGVm9-jGJ8fP), cc (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/) Es scheint jedoch einleuchtend, dass gerade Scham und der damit verbundene Fokus auf die eigene Gruppe nicht nur Einstellungen und Verhalten gegenüber der ursprünglich geschädigten Gruppe beeinflussen, sondern auch weit darüber hinausgehen kann. Diese Überlegung führt zurück zu der eingangs gestellten Frage, warum Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag der Befreiung am 8. Mai 1985 Türken und Juden in einem Atemzug nennt, was also gruppenbasierte Emotionen in Bezug auf historische Verbrechen an bestimmten Gruppen mit Vorurteilen und Diskriminierung gegenüber einer anderen, ursprünglich unbeteiligten, Gruppe zu tun haben können.

Schuld, Scham und Vorurteile in Deutschland

In einer Studie gingen die Autoren der Frage nach, ob es Zusammenhänge zwischen gruppenbasierter Schuld und Scham in Bezug auf den Holocaust einerseits und Einstellungen gegenüber einer unbeteiligten Gruppe wie etwa heute in Deutschland lebenden Türken andererseits gibt (Rees, Allpress, & Brown, in press). Deutsche Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden darin insbesondere zu drei Emotionen in Bezug auf den Holocaust befragt, nämlich zu Schuld, moralischer Scham sowie imagebezogener Scham. Auf der anderen Seite wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie zu ihren Einstellungen gegenüber Türken in Deutschland befragt. Die Überlegung war, dass (1) gruppenbasierte Schuld aufgrund des spezifischen Fokus’ auf den Holocaust nicht notwendigerweise auch etwas mit Vorurteilen gegenüber anderen Gruppen zu tun haben sollte, (2) moralische Scham dagegen zur Wiederherstellung moralischer Standards durchaus zu positiveren Einstellungen, also weniger Vorurteilen und Ablehnung gegenüber Türken, führen sollte und schließlich (3) imagebezogene Scham umgekehrt dazu führen würde, dass sich Deutsche dem potentiell kritischen Blick fremder Gruppen entziehen möchten – was zu feindseligen Einstellungen, also mehr Vorurteilen gegenüber Türken, führen sollte. Kurz gesagt: Schuldempfinden im Hinblick auf den Holocaust sollte keinerlei Zusammenhänge mit Einstellungen gegenüber Türken aufweisen, Scham allerdings sehr wohl. Die gesammelten Daten bestätigten diese Überlegungen: Während moralische Scham insgesamt mit positiven, unterstützenden Einstellungen gegenüber Türken einherging, wies imagebezogene Scham Zusammenhänge mit negativen, feindseligen Einstellungen auf. Für Schuld ließen sich schließlich bei gleichzeitiger Berücksichtigung aller drei Emotionen keine statistisch bedeutsamen Zusammenhänge mit Einstellungen bezüglich in Deutschland lebender Türken finden.

Was bedeuten diese Ergebnisse für die deutsche Erinnerungskultur? Zunächst einmal können sie so interpretiert werden, dass die Annahme, die Richard von Weizsäckers Appell an die jungen Menschen zugrunde lag, richtig ist: Wie Menschen sich aufgrund ihrer sozialen Identität fühlen, insbesondere, ob sie Scham empfinden, hängt damit zusammen, welche Einstellungen sie gegenüber anderen Gruppen von Menschen haben.

Zweitens stellt sich vor dem Hintergrund einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft die Frage, ob nicht vor allem in Zukunft das Spektrum emotionaler Reaktionen auf das Thema Holocaust weit über Schuld und Scham hinausgehen wird. Dies könnte zum Beispiel im schulischen Geschichtsunterricht relevant sein: So ist bislang unbekannt, welche Emotionen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund erleben – sind es Schuld und Scham, weil sie sich als Deutsche kategorisieren? Oder Unverständnis, Ekel und Angst, weil sie ihre deutschen Mitschülerinnen und Mitschüler als Täter und sich selbst als potentielle Opfer kategorisieren? Es sind diese und ähnliche Fragen, mit denen sich eine zeitgemäße Erinnerungskultur in Deutschland auseinandersetzen muss.

Herausforderungen an eine zeitgemäße Erinnerungskultur in Deutschland

Zum Gedenktag an die Opfer des Holocausts am 27. Januar 2010 führte TNS Emnid im Auftrag der Zeit eine Umfrage unter in Deutschland lebenden Türken durch. Darin antworteten 40 Prozent der Befragten auf die Frage „Sollten sich auch die in Deutschland lebenden Bürger türkischer Herkunft mit der Judenverfolgung beschäftigen – oder geht sie das im Grunde nichts an?“ mit „geht sie nichts an“ (Ulrich, Topcu, & Wefing, 2010). Zum selben Anlass erklärte Shimon Peres, damaliger israelischer Staatspräsident und Friedensnobelpreisträger, in einer Rede vor dem deutschen Bundestag, die bedeutendste aller Lehren aus der Shoah, dem Holocaust, dem mindestens sechs Millionen europäische Juden zum Opfer fielen, sei das „Nie wieder“.

An diesen beiden Punkten werden einige zentrale Herausforderungen deutlich, vor denen eine zeitgemäße Erinnerungskultur in Deutschland steht: Die Zweiteilung in der Bereitschaft, sich mit dem Thema Holocaust zu befassen oder nicht, findet sich nämlich sowohl bei Deutschen mit Migrationshintergrund als auch bei Deutschen ohne Migrationshintergrund (s. Peetz, Gunn, & Wilson, 2010). Diese Bereitschaft hochzuhalten erscheint von vorrangiger Wichtigkeit, um die Erinnerung an die deutsche Vergangenheit und damit das „Nie wieder“ auch in Zeiten sicherzustellen, in denen von persönlicher Schuld keine Rede mehr sein kann, dafür aber von gruppenbasierten Emotionen. Eine zentrale Forschungsfrage sollte daher sein, was die entscheidenden Faktoren sind, die Menschen dazu veranlassen, moralische oder imagebezogene gruppenbasierte Scham oder Schuld zu empfinden, und wie diese Faktoren wiederum konkret in pädagogischen Kontexten berücksichtigt werden können. Die Integration unterschiedlicher Geschichtszugänge und -verständnisse ist eine zweite praktische Herausforderung an einen angemessenen Umgang mit der Erinnerung an Ereignisse wie den Holocaust.

Es liegt nahe, dass vor unterschiedlichen kulturellen Hintergründen auch unterschiedliche historische Ereignisse herausragen können. Die hier vorgestellten psychologischen Befunde unterstreichen, dass es wichtig ist, diese unterschiedlichen Hintergründe oder sozialen Identitäten stärker zu berücksichtigen, beispielsweise die von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Migrationshintergrund im Geschichtsunterricht. Dabei stellen sich nicht nur Fragen nach der sozialen Identität (Sind die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit und Schuldempfinden in Bezug auf den Holocaust Anzeichen „gelungener Integration“?). Aus der Perspektive gruppenbasierter Emotionen ist eine weitere praktische Herausforderung für den aktuell stark an Fakten orientierten Geschichtsunterricht, die Rolle von Emotionen bei der Erinnerung an kollektive Verbrechen wie den Holocaust überhaupt stärker zu berücksichtigen. Einerseits, weil aktuelle Forschungsergebnisse nahelegen, dass die viel zitierte besondere Verantwortung Deutschlands einerseits und die aufkommende Geschichtsüberdrüssigkeit andererseits auch jeweils emotional-motivationale Komponenten aufweisen (nämlich moralische und imagebezogene Scham). Und andererseits, weil es ein hochemotionaler Prozess sein kann, an Verbrechen zu erinnern, die unser Vorstellungsvermögen übersteigen – und die trotzdem zu unserer sozialen Identität gehören.

Literaturverzeichnis

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