Denkste, Puppe! Zur Rolle von Puppen beim (besseren) Verstehen anderer
Puppen sind Werkzeuge, die Spielräume für Selbst- und Fremdverstehen schaffen. Sie sind ‚wie Mensch‘ und doch anders – zwischen toter Materie und Lebendigwerden durch menschliche Vorstellungskraft. Sie unterstützen Kinder (und Erwachsene), wenn es um Selbstregulation und Gestaltung von Miteinander geht, um Perspektivenübernahme, Einfühlung, Mitgefühl, gemeinsames Handeln. Mensch-Puppen-Interaktionen sind Dialoge in einem Als-ob-Spiel. Therapeutisch können Puppen blockierte Zugänge zu sich und anderen öffnen. Und: In Kunst und Literatur beeindruckt das Potenzial der Puppe(n) als Medium und Motiv, um andere (besser) zu verstehen.
Puppen – ein Schlüssel zum (besseren) Verständnis von anderen?
Puppen gibt es seit Menschengedenken. Aber was ist eine Puppe? Kinderspielzeug? Ersatzobjekt? Doppelgänger? Vielleicht am ehesten: Ein unbelebtes, menschenähnliches Ding, ein Artefakt, das durch Vorstellungskraft zum Leben erweckt und damit zu einem Werkzeug wird, sich und die soziale Welt zu entdecken. Aber welchen wissenschaftlichen Wert hat ein solches Wesen, das zwischen toter Materie und Menschsein changiert, wenn es um ein besseres Verstehen von anderen geht? Eine These dieses Beitrags lautet: Puppen, diese von Menschen geschaffenen Werkzeuge, fördern geteilte Intentionalität, die als grundlegende menschliche Fähigkeit und Bereitschaft gilt, Vorstellungen und Absichten mit anderen Menschen zu teilen und zu kooperieren (Tomasello, 2020).
Zum Stellenwert von Puppen gibt es viele offene Fragen. In der empirischen Entwicklungspsychologie zur kognitiven und sozio-emotionalen Entwicklung diskutiert man aktuell darüber, was es für Kinder bedeutet, wenn (Hand-)Puppen als wichtige ‚Akteure‘ im Forschungslabor mitspielen. Handelt es sich hier um eine Art Puppentheater mit eigener Dramaturgie? So lassen sich Kinder zwar gerne auf die Puppen und ihr ‚Verhalten‘ ein, unklar aber ist, was da und wie das funktioniert und wie gültig es für Situationen mit ‚echten Menschen‘ außerhalb des Labors ist (Revencu & Csibra, 2020).
Aber Puppen sind nicht nur Kinderkram oder Artefakte, sondern geben Denkanstöße. In Literatur, Kunst, Theater, neuen Technologien wie auch in alltäglichen Lebenszusammenhängen finden sich, oft beiläufig, viele mit Puppen verbundene Anregungen, die neue Erkenntnisse über sich selbst, ein tieferes Verständnis von anderen und ein Nachdenken über Möglichkeiten des Miteinanders eröffnen. Das gilt auch für die Anwendungsfelder in Psychologie und Pädagogik. Dieses Potenzial muss man sich aber stärker bewusst machen.
Auch wenn Puppen auf den ersten Blick als unernster Gegenstand daherkommen, bei dem es scheinbar ‚nur‘ ums Spielen und ‚so-tun-als-ob‘ geht, macht genau das die (ernsthafte) Bedeutung der Puppe aus. Denn in diesem ‚als-ob‘-Modus entsteht ein einzigartiger Spiel- und Beziehungsraum, in dem geübt, gelernt und Verantwortung übernommen wird, sich Fantasie und Humor entfalten, scheinbare Wahrheiten und echte Widersprüche hinterfragt sowie paradoxe Situationen und ambivalente Gefühle zugelassen werden können – bei Kindern und Erwachsenen. Nicht von ungefähr gilt das frühe Als-ob-Spiel als ‚Wiege‘ von Fiktion, Literatur und (darstellender) Kunst (Rakoczy, 2009).
Dabei kann der Puppe in solchen spielerischen ‚als-ob‘-Räumen auch die Funktion eines Übergangsobjekts (Winnicott, 1973) zukommen, indem sie auf kreative Weise den Übergang bzw. die Verbindung zwischen eigenen inneren Bedürfnissen und der sozialen Außenwelt herstellt und zur ‚Botschafterin‘ vom Selbst zu(m) Anderen wird. Ergeben sich im öffentlichen Raum solche Übergangsräume, können mit und über Puppen neue Perspektiven auf sich und andere möglich werden: Als der Fotokünstler Boris Becker Anfang 2020 zufällig eine Installation mit Puppenfiguren am Straßenrand entdeckte, die von Arbeitern der Kölner Müllkippe aus Sperrmüll mit skurrilen Accessoires an einem Drahtzaun arrangiert worden waren, schien sein Foto zunächst nur eine schräge Puppen-Performance zu dokumentieren. Erst später, im Zuge von Pandemie und gesellschaftlichen Gruppenkonflikten, erschloss sich für ihn eine andere Deutungsebene. Mit ironischem Unterton veröffentlichte er das Foto in der Tagespresse als sein Bild des Jahres 2020: Die Querdenker (Burgmer, 2021) – ein Denkanstoß, um über Selbstverständnis, Befremdet-Sein und Zugänge zum Fremdverstehen in kontroversen Zeiten ins Gespräch zu kommen.
Ein kurzer Streifzug durch die Kulturgeschichte der Puppe
Eine der ältesten überlieferten Puppen, 24.000 Jahre alt, wurde in der Nähe der tschechischen Stadt Brno gefunden. Es ist eine kleine marionettenartige Figur aus Mammut-Elfenbein, bei der Kopf und Arm über Zapfen beweglich mit dem Körper verbunden sind. Puppentheater in der Steinzeit? Wer weiß. Immerhin gilt das Puppentheater als älteste Form des Theaters. Jedenfalls macht dieses Miniatur-Wunderwerk deutlich, dass schon die frühen Menschen der Spezies homo sapiens Abbilder ihrer selbst erschaffen und sich dadurch symbolisch objektivieren konnten. Puppen bieten demnach eine Projektionsfläche für Menschenbilder, in denen sich – zumeist unbewusst – Vorstellungen, Erwartungen, Sehnsüchte und Befürchtungen der Menschen spiegeln, die sie in Bezug auf sich, andere und ihr ‚In-der-Welt-Sein‘ haben (Fooken, 2012). Als Kinderspielzeug spielten diese Puppen lange Zeit keine Rolle, allenfalls wenn sie Abfall geworden waren. Bedeutsam hingegen waren sie als Medium in religiös-spirituellen und kulturellen Ritualen, beispielsweise als Opfergabe oder Vermittler. Die Puppe verband die Menschen mit den Ahnen oder göttlichen Mächten, schützte sie, wehrte böse Geister ab oder half, selber Macht über andere auszuüben. Wie körperlich eng das ‚Selbst‘, die ‚Anderen‘ und die Idee der Puppe verbunden sind, zeigt das Wort Pupille, kleine Puppe: Stehen sich zwei Menschen dicht gegenüber, spiegelt sich jeder als ‚Augenpüppchen‘ im Blick des anderen.
Puppen gibt es in vielen Varianten und Themen: (1) Selbsttätige Puppen gelten als Inbegriff perfektionierter (künstlicher) Menschen. Solche (Puppen-)Automaten verzauberten die Menschen im 18. Jahrhundert mittels ausgeklügelter Mechanik durch Klavierspielen, Tanzen, Briefeschreiben etc. Man kann sie als Vorläufer der heutigen humanoiden, menschengleichen Roboter sehen, die – ausgestattet mit künstlicher Intelligenz – als lernfähige Menschenbegleiter funktionieren. (2) Einen anderen Puppentypus verkörperten Reliquien und kindlich anmutende (Krippen-)Puppenfiguren im christlich-religiösen Glaubenskontext, die ‚Seelentrost‘ und emotionalen Zuspruch spendeten. (3) Kinder-Spielpuppen sind hingegen erst im Zuge einer rasant wachsenden Puppenindustrie massenhaft auf den Markt gekommen, bestimmen aber seither unser Verständnis von Puppen, einschließlich der Modepuppen à la Barbie. Neben Menschen- und Tierfiguren als Handpuppen gehören hier auch Kuscheltiere dazu, ursprünglich gedacht als Puppen für Jungen. Als vermenschlichte Tierpuppen haben sie nicht nur die Kinderzimmer, sondern mittlerweile auch die Welt der Erwachsenen erobert. (4) Puppen als verkörperte Traumbilder und fantastische Narrative wiederum finden sich in den verschiedensten Sparten von Kunst und Literatur: Anfang Oktober 2009 inszenierte das Straßentheater Royal de Luxe vor einem faszinierten Millionenpublikum eine märchenhafte Erzählung mit zwei Riesen-Marionetten (14 und 7 Meter groß), die sich vier Tage lang in Berlin auf die Suche nach einander machten und damit an die deutsche Teilung und den Mauerfall zwanzig Jahre zuvor erinnerten.
Mensch-Puppe – Worum geht es? Theoretische Überlegungen und empirische Evidenz
Dinge, die wir als Puppen bezeichnen, sind anthropomorph, also menschenähnlich. Wichtig sind hierbei das Gesicht (insbesondere die Augen) und ein bestimmtes Körperschema. Das gilt ähnlich auch für vermenschlichte (Puppen-)Tiere. Zum ‚Prinzip Puppe‘ gehört zudem, dass Puppen animiert, das heißt, von Menschen gedanklich, gefühlt und/oder durch (Be-)Handeln belebt werden können. Allerdings gibt es auch Puppen, die bereits vorab mit einem gewissen ‚Eigenleben‘ ausgestattet sind (z. B. Schlafaugen, Stimme, Verhaltensprogramme etc.). In jedem Fall stellen Puppen Beziehungsangebote dar, aber es sind (noch) die Menschen, die entscheiden, ob und wie die Beziehung gestaltet wird.
Dinge zu vermenschlichen, sie zu anthropomorphisieren bzw. sie zu Puppen zu machen, ist eine grundlegende menschliche Fähigkeit, auch wenn sich Menschen in ihrer Bereitschaft dafür unterscheiden (Airenti, 2019). Dollifying wird das in einer historischen empirischen Study of Dolls genannt, in der 150 Puppenersatzobjekte dokumentiert werden (Hall & Ellis, 1897). Ein ähnliches Phänomen ist das der unsichtbaren, nur intrapsychisch präsenten imaginären Gefährten, mit denen so umgegangen wird, als ob es sich um real anwesende Spielgefährten oder Puppen-Figuren handele. Demnach können sich Kinder (und Erwachsene) auch ohne ein konkret-materiell vorhandenes Objekt durch Fantasie und Vorstellungskraft jemanden mental ‚erschaffen‘, bei dem sie selbst bestimmen, wie sich dieser imaginierte Andere ihnen gegenüber verhält und was er für sie bedeutet.
Bei vorprogrammierten Puppen hingegen, z. B. bei sozio-emotionalen Robotern, ist das anders, denn diese treten dank ihrer künstlichen Intelligenz von sich aus ‚ihren‘ Menschen bereits ‚belebt‘ gegenüber. Mensch oder Roboter-Puppe? Bestehen Zweifel daran, geht das oft mit dem Gefühl des Unheimlichen einher. Das wiederum ist ein uraltes Thema in den Mythen und Erzählungen der Menschheit, das unter dem Stichwort uncanny valley ungebrochen aktuell ist (Mara & Appel, 2015). Dabei können Roboter mittlerweile Perspektiven einnehmen und ‚Absichten‘ haben und Menschen ihnen gegenüber Bindungen, Einfühlung und Mitgefühl entwickeln (Broadbent, 2017). Führt das auch zu einer wechselseitigen Verantwortung? Entsprechen sich Fürsorge im frühkindlichen Puppenspiel und ein respektvoller Umgang mit Robotern? Menschen und (empathische) Roboter werden zukünftig in gemeinsam geteilten Welten leben, so dass das Wechselspiel von Selbst- und Fremdverstehen mit allen moralischen Implikationen ein wichtiges Thema werden wird (Schmetkamp, 2019).
Um welche weiteren Entwicklungsbereiche geht es in diesem Zusammenhang? Bezüglich der Entwicklung symbolischer Vorstellungen bei Kindern dokumentieren die Verhaltensprotokolle von Piaget (1969), wie sich im Als-ob-Spiel mit Puppen eine Vorstellungskraft der kindlichen Erfahrungswelt herausbildet, die nicht einfach nur Nachspielen und Imitation, sondern ein aktives Ausprobieren vorhandener Denk- und Handlungsschemata ist. Auch die Entwicklung des magischen Denkens im Zuge spielerisch-kreativer und fantasievoller Animation von leblosem Material stellt einen aktiven Zugang zum Verstehen komplexer, realer, sozialer Beziehungsverhältnisse dar. Gerade in der „Koexistenz beider Welten, im flexiblen Hin- und Herpendeln zwischen Realitäts- und Irrealitätsebene“ (Mähler, 2005, S. 39) zeigt sich das Potenzial der Fantasie im Umgang mit Widersprüchlichkeit und Ambivalenz. Puppen sind zudem ein wahrscheinlich unterschätzter Trigger, wenn es um die (Weiter-)Entwicklung von Theory of Mind (ToM) (Rakoczy, 2017) und Empathie (Schmetkamp, 2019) geht. ToM soll hier stehen für alltagspsychologisch erschlossene Erkenntnisse über mentale Zustände (Gedanken, Gefühle, Absichten, Beweggründe etc.) bei sich und anderen, die als entscheidende Grundlage für Handeln erkannt werden. Das Als-ob-Spiel mit Puppen oder ‚vorgestellten Anderen‘ ist dabei über die gesamte Lebenspanne ein wichtiger Impulsgeber für ‚mehr ToM‘. Ähnliches gilt auch für Empathie, definiert als das „Vermögen“, sich affektiv und emotional getönte „Situationen anderer Menschen zu vergegenwärtigen“ (Schmetkamp, 2019, S. 12). Allerdings: Damit sich Empathie entwickeln kann, muss zunächst eine (narrative) Verbindung zwischen Puppe und Mensch entstanden sein (Airenti, 2019), erst dann können Perspektivität, emotionale Einfühlung und Mitgefühl erprobt werden.
Puppen in Pädagogik, Psychotherapie, Erinnerungskulturen
In den verschiedenen Bildungseinrichtungen werden Puppen gerne als pädagogische Hilfsmittel eingesetzt (Fooken, 2012). Das gilt für die Förderung von Diversität und Antidiskriminierung genauso wie für Fremdsprachen- und Kunstunterricht. Puppen fördern hier sozioemotionale und interkulturelle Kompetenzen, zwischenmenschliches Verstehen,
Perspektivenübernahme und
Empathie. Zwei Schulprojekte sollen hierzu beispielhaft genannt werden: (1) Im inklusionspädagogischen Projekt einer brasilianischen Grundschule setzten sich die Kinder spielerisch-diskursiv mit Puppen auseinander, die ‚anders‘ waren als die meisten von ihnen – amputiert, gelähmt, im Rollstuhl, kleinwüchsig, blind, gehörlos, stark übergewichtig (Marques, 2013). Die Kinder wurden ermutigt, sich auf eine
Beziehung mit diesen Puppen einzulassen und sie zu verstehen und erarbeiteten in Kleingruppendiskussionen Strategien, um schulische Teilhabe zu ermöglichen. So entwickelte eine Kindergruppe eine Gebärdensprache, um mit ihrer gehörlosen Puppe kommunizieren zu können.
(2) In einem anderen Projekt zur Förderung des schulischen Wohlbefindens beim Kita-Schule-Übergang wurde ein ‚Schulteddy-Narrativ‘ eingesetzt (Pfeifer, 2019). Jedes Kind erhielt von der Schule einen individualisierten Teddy, der Teil einer (Klassen-)Teddygemeinschaft war, die in der Schule ‚wohnte‘. Morgens stand Begrüßung an, mittags Verabschiedung, während des Unterrichts und der Pausen waren Teddy und Kind beisammen. In einer mit Kontrollgruppen durchgeführten
Längsschnittstudie von ersten Schulklassen zeigte sich in den Teddy-Klassen ein deutlicher Anstieg des schulischen Wohlbefindens und eine Verbesserung des Selbstkonzepts der eigenen Schulfähigkeit, besonders bei anfänglich sehr unsicheren Kindern.
Geht es um Puppentherapie und Puppen als zentrales Medium in der Psychotherapie, sind Puppen zuallererst Projektionsfläche für Ungesagtes und Unbewusstes (Gauda, 2016). Mit der Möglichkeit, im therapeutischen Setting verschiedenste Rollen einzunehmen (Hilfs-Ich, Wunschideal, Liebes- oder Aggressionsobjekt, Kummerkasten, Freundin, Geschwister- oder Baby-Ersatz etc.), ‚spricht‘ die Puppe stellvertretend und öffnet so den Zugang zu sich und anderen. In der Reflexion szenischer Aufstellungen und Spiel-Dialoge, aber auch beim ‚Schöpfen‘ von Puppen werden unterschwellig ‚ToM‘ und ‚Empathie‘ ein- und ausgeübt. Dabei gibt es im Therapieverlauf zwei Äußerungsformen: Manche Kinder und Erwachsene agieren eher spielend mit vorhandenen Puppen-Typen (Prinzessin, Räuber etc.), andere hingegen ‚schöpfen‘ ihre eigene individuelle Puppe, sei es eine einzige oder – je nach psychischer Konfliktlage und Entwicklungsstand – immer wieder eine neue.
Schließlich fungieren Puppen auch als ‚Zeitzeugen‘ älterer Menschen und als Bestandteil von Erinnerungskulturen, die Zeit- und Lebensgeschichten verstehbar machen: Das fast ausgestorbene japanische Dorf Nagoro entpuppte sich als ein Tal der Puppen, in dem eine der letzten Bewohnerinnen die verwaisten Begegnungsstätten verstorbener oder weggezogener Bewohner (Schule, Bushaltestelle) mit selbst genähten, lebensgroßen Puppenfiguren als Stellvertreter der Abwesenden (wieder)belebt hat (Schumann, 2014).
Fazit – mit Puppen Menschsein spielen?
Puppen sind doppeldeutig. Aktuell gibt es ‚viel Puppe‘ in Literatur, Kunst und Theater. Speziell im Figurentheater werden manchmal – fast archaisch – mit Puppen gleichzeitig tiefe affektive Empathie und kognitives Erschließen der ‚Psycho-Logik‘ anderer getriggert. Im Stück F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig, einer Puppenspielfassung zum Thema Kinder-Euthanasie, gelingt dies dem Puppenspieler Nikolaus Habjan mit drei Puppenfiguren: Die als Flatterhemdchen symbolisierte Kinderpuppe verkörpert das völlige Ausgeliefertsein des fast ermordeten Kindes, die kantige Klappmaulpuppe des Überlebenden als alter Mann entspricht seiner psychischen Widerstandsfähigkeit und Selbst-Befreiung aus der Opferrolle und die Abwehrstrukturen von Schuld und Scham bei Täter und Gesellschaft prägen den stereotyp-erstarrten Ausdruck der dritten Puppenfigur. Großes (Puppen-)Theater.
Welches Fazit kann man ziehen, wenn es um die Rolle von Puppen beim Verstehen von anderen geht? Puppen haben eine doppelte Funktion: (1) Angesichts ihrer Menschenähnlichkeit stehen sie für ‚andere‘, so dass in der Interaktion mit ihnen spielerisch das Erschließen von Gedanken und Gefühlen anderer erprobt werden kann. (2) Puppen sind zudem Medium und Werkzeug, mit dem und über das der Austausch zwischen Selbst und anderen über kontroverse und/oder gemeinsam geteilte Absichten und Vorstellungen angestoßen werden kann. „Sollen wir Menschsein spielen?“, fragt die große Puppe die anderen Spielzeuge im Märchen „Das Geldschwein“ von Hans Christian Andersen. Gute Frage. Fangen wir doch gleich mit Perspektivenwechsel und Rollenübernahme an. Was denkst Du, Puppe?
Bildquellen
Bild 1: ©Boris Becker 2020; Kölner Stadt Anzeiger vom 9./10. Januar, 2021, S. 24.
Bild 2: Circe Mara Marques (privates Bildarchiv).
Bild 3: ©Terry Allen 2019 (unter: https://www.allenfotowild.com/Japan/Japan-2018/Nagoro-Iya-Valley/i-7HdBRBp sowie Fritz Schumann, 2014, unter: https://asienspiegel.ch/2014/04/im-tal-der-puppen/).
Bild 4: F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig (Schubert Theater Wien). (Regie: Simon Meusburger; Buch: Nikolaus Habjan/Simon Meusburger; Puppen und Spiel: Nikolaus Habjan; Fotografie: Barbara Pálffy) ©Barbara Pálffy.
Literaturverzeichnis
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Burgmer, A. (2021, 9./10. Januar). Boris Becker über Querdenken. „Eine merkwürdige Melange“. Kölner Stadtanzeiger, S. 24.
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