Ist Zucker der neue Tabak? Wie die Politik mit psychologischen Erkenntnissen gesundes Verhalten fördern kann
Der Tabakkonsum geht konstant zurück. Die Anzahl von Personen mit Übergewicht und Adipositas steigt. Was wir von der Anti-Tabak-Politik lernen können.
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem vollen Zugabteil. Neben Ihnen zündet sich jemand genüsslich eine Zigarette an und niemand scheint sich daran zu stören. Diese Situation erscheint – anders als in den 1980er Jahren – heutzutage völlig absurd. Die Zahl der Raucherinnen und Raucher ist seit Jahren rückläufig. Frischluftfans und Krankenkassen sehen diese Entwicklung mit Freude.
Was ist passiert? Die Politik hat Verhaltensweisen der Menschen geändert, indem sie durch finanzielle Anreize und Verbote eine Umwelt geschaffen hat, in der Rauchen zunehmend unerwünscht ist. In Eckkneipen herrscht Rauchverbot, Tabak ist teurer geworden und Jugendlichen darf kein Tabak mehr verkauft werden. Aber die Politik hat noch mehr Werkzeuge. In der Psychologie unterscheidet man zwei Arten von Interventionen des Gesetzgebers, die beide durch verhaltenswissenschaftliche Evidenz informiert sind: Nudging und Boosting (Grüne-Yanoff & Hertwig, 2016).
Ein Nudge (aus dem englischen „to nudge“= schubsen) lenkt das Verhalten von Personen in eine gewünschte Richtung, lässt aber gleichzeitig die Möglichkeit der Wahlfreiheit. Ein Nudge wäre, wenn Zigarettenschachteln in Supermärkten nicht mehr für jeden sichtbar an der Kasse ausgelegt, sondern in einem hinteren Regal gelagert werden.
Boosting (aus dem englischen „to boost“ = stärken) will mit einfachen Strategien die Entscheidungskompetenzen von Personen verbessern. Warnhinweise auf Zigarettenschachteln, die über Gesundheitsrisiken aufklären, sind nur ein Beispiel.
Die derzeit größten Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit sind Übergewicht und Adipositas. Das Problem: Wir leben in einer Umwelt, in der ungesunde, zuckerreiche Lebensmittel billig und überall verfügbar sind. Es ist eine berechtigte Frage, ob Interventionen des Gesetzgebers, ähnlich wie die der Anti-Tabak-Politik, zu einer gesünderen Ernährung beitragen können.
Die Antwort lautet „Ja“ (Brownell & Warner, 2009). International ist schon einiges passiert: Seit Jahren gibt es in kalifornischen Schulen ein Verkaufsverbot für Soft Drinks. Frankreich hat 2011 eine Softdrinksteuer eingeführt. In den USA gibt es das „Smarter Lunchroom“-Programm, in dem Schulkantinen darüber informiert werden, wie durch einfache Nudges eine gesunde Ernährung bei Kindern gefördert werden kann – zum Beispiel, indem Obst und Gemüse gut erreichbar und Süßigkeiten weniger salient platziert werden.
Wie bei der Durchsetzung der EU-Tabakrichtlinie hinkt Deutschland hinterher. Dabei hat die Politik eine Reihe von Möglichkeiten: Ein Werbeverbot von stark zuckerreichen Lebensmitteln für Kinder könnte dazu beitragen, deren Zuckerkonsum zu verringern. Die bessere Kennzeichnung von Zucker in Lebensmitteln wäre ein sinnvoller Boost. Oder hätten Sie gewusst, dass ein handelsüblicher 250 g Fruchtjoghurt fast so viel Zucker enthält wie ein Glas Cola?
Es ist nicht mehr zeitgemäß, die mangelnde Willenskraft des Individuums für ungesunde Verhaltensweisen verantwortlich zu machen. Die Anti-Tabak-Politik hat gezeigt, dass durch Umweltveränderungen und Kompetenzbildung Gesundheitsverhalten effektiv gefördert werden kann. Es ist Zeit für eine „Anti-Zucker-Politik“.
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