Coronavirus: Warum die Dynamik der Ansteckungsgefahr so schwer zu begreifen ist

Die große Gefahr des Coronavirus liegt darin, dass eine zu schnelle Ansteckung von vielen Menschen das Gesundheitssystem überfordert. Psychologische Forschung zeigt, dass es Menschen sehr schwer fällt, exponentielle Entwicklungen intuitiv zu erfassen. Darin könnte ein Grund liegen, warum einige das Risiko immer noch unterschätzen.

Augenscheinlich gibt es enorme Unterschiede darin, für wie gefährlich Menschen das Coronavirus halten. Immer noch zeigen sich viele unbeeindruckt von den Mahnungen, soziale Kontakte so weit wie möglich zu reduzieren. Die allermeisten sollten inzwischen wissen, warum das Virus so gefährlich ist: Wenn sich in kurzer Zeit viele anstecken, wird das Gesundheitssystem von den schweren Krankheitsverläufen überfordert. Warum fühlt sich diese Gefahr für viele dennoch nicht bedeutsam an?

Ein Grund könnte sein, dass sich die Gefahr von Corona aus seiner rapiden Entwicklung ergibt, die momentan einen exponentiellen Verlauf hat. Da jede erkrankte Person mehrere andere Menschen anstecken kann, addiert sich die Gefahr nicht, sondern sie multipliziert sich. Dass Menschen große Schwierigkeiten haben, solche exponentiellen Verläufe intuitiv richtig zu erfassen, ist durch viele Studien belegt. Unter anderem haben dies Kognitionspsychologen um William Wagenaar in den 1970er Jahren untersucht. Diese legten Versuchsteilnehmenden beispielsweise Zahlenreihen zur Zunahme von Umweltverschmutzung vor (Wagenaar & Sagaria, 1975).

Angenommen die Luftverschmutzung in den Jahren von 1970 bis 1974 steigt von erst 3 über 7, zu 20 und 55 auf 148. Wie hoch wird sie im Jahr 1979 sein, wenn die Zunahme so anhält? Das Ergebnis: Die meisten unterschätzten den tatsächlichen Wert dramatisch. Zwei Drittel der Teilnehmenden vermuteten den Wert bei 10% des wirklichen Ergebnisses (25.000) oder noch niedriger. Über 90% lagen unter der Hälfte des richtigen Werts. Dies lässt darauf schließen, dass die meisten nicht exponentielles sondern lineares Wachstum vermuteten. 

Untersuchungen zu finanziellen Entscheidungen von Haushalten legen nahe, dass diese Unterschätzung des exponentiellen Verlaufs (Fachbegriff: „Exponential Growth Bias“) handfeste Konsequenzen hat. Auch beim Schuldenmachen und beim Sparen ergeben sich durch Zinseszins-Effekte exponentielle Entwicklungen. Wahrscheinliche Folge: Je stärker Menschen exponentielle Verläufe unterschätzen, umso mehr finanzielle Fehlentscheidungen treffen sie. Dies äußert sich in größeren Schulden und einer geringeren Sparrate – unabhängig von anderen Indikatoren der Kenntnis in finanziellen Entscheidungen (Stango & Zinman, 2009).

Unglücklicherweise ist die Unterschätzung von exponentiellen Verläufen ein hartnäckiges Problem. Zum einen sind sich gerade die Menschen, die sehr wenig von exponentiellen Verläufen verstehen, besonders sicher, die richtigen Schätzungen abzugeben (Williams, Dunning, & Kruger, 2013). Leider hilft es nicht viel, die Informationen anstelle von abstrakten Zahlen grafisch darzustellen (Wagenaar & Timmers, 1979). Auch mangelnde Motivation ist keine gute Erklärung. Selbst wenn Versuchsteilnehmende für richtige Lösungen bezahlt werden, ändert das wenig (Christandl & Fetchenhauer, 2009).

Immerhin gibt es Anzeichen, dass sich die Intuition für exponentielle Verläufe durch Übung verbessert. Aber selbst BWL-Studierende unterschätzten in einer Studie von Christandl und Fetchenhauer (2009) das Ausmaß von exponentiellem Wirtschaftwachstum in erheblichem Maße. Wenn auch weniger dramatisch als Studierende anderer Fächer. Bei finanziellen Entscheidungen hilft es letztlich, den Leuten die harten Konsequenzen ihrer Wahl vorzurechnen (Mckenzie & Liersch, 2011). Beim Coronavirus wird das ähnlich sein.

Quellen:

Christandl, F., & Fetchenhauer, D. (2009). How laypeople and experts misperceive the effect of economic growth. Journal of Economic Psychology, 30, 381–392. https://doi.org/10.1016/j.joep.2009.01.002

Mckenzie, C. R. M., & Liersch, M. J. (2011). Misunderstanding savings growth: Implications for retirement savings behavior. Journal of Marketing Research, 48, S1–S13. https://doi.org/10.1509/jmkr.48.SPL.S1

Stango, V., & Zinman, J. (2009). Exponential growth bias and household finance. The Journal of Finance, 64, 2807–2849. https://doi.org/10.1111/j.1540-6261.2009.01518.x

Wagenaar, W. A., & Sagaria, S. D. (1975). Misperception of exponential growth. Perception & Psychophysics, 18, 416–422. https://doi.org/10.3758/BF03204114

Wagenaar, W. A., & Timmers, H. (1979). The pond-and-duckweed problem: Three experiments on the misperception of exponential growth. Acta Psychologica, 43, 239–251. https://doi.org/10.1016/0001-6918(79)90028-3

Williams, E. F., Dunning, D., & Kruger, J. (2013). The hobgoblin of consistency: Algorithmic judgment strategies underlie inflated self-assessments of performance. Journal of Personality and Social Psychology, 104, 976–994. https://doi.org/10.1037/a0032416

Bildquelle: Visualization of Covid-19 confirmed cases (von Felix Schönbrodt, Angelika Stefan, Philipp Zumstein und Paul A. Bloom)