Dürfen Männer Opfer sein? – Wie gesellschaftliche Vorstellungen Männer mit erlebter sexualisierter Gewalt beeinflussen
„Echte Männer haben immer Lust auf Sex!“ – Jungen und Männer sind mit solchen oder ähnlichen Aussagen in Alltagsgesprächen, Witzen, (sozialen) Medien, Liedtexten usw. konfrontiert. Aber was bedeutet es dann für einen Mann, wenn er gegen seinen Willen zu Sex genötigt oder Opfer sexualisierter Gewalt wird?
In den meisten gesellschaftlichen Vorstellungen ist es unverständlich, dass Männer Opfer sexualisierter Gewalt sein können. Männer werden dazu erzogen, zu denken, dass sie unverwundbar und ihr Körper undurchdringbar sei (Hlavka, 2017). Jedoch unterstützen viele Studien aus den USA oder Westeuropa den Befund, dass ungefähr jeder sechste Mann vor seinem 18. Lebensjahr Opfer sexualisierter Gewalt geworden ist (siehe z. B. Briere & Elliott, 2003; Dube et al., 2005; externe, englische Ressource: https://1in6.org/).
In einer Studie wurden Daten aus verschiedenen forensischen Interviews für gemeldete Fälle von sexuellem Missbrauch bei Jungen und jungen Männern analysiert. So identifizierte das Studienteam verschiedene Mechanismen, die von den männlichen Opfern genutzt wurden, um mit ihrer Erfahrung der sexualisierten Gewalt umzugehen und diese zu begreifen (Hlavka, 2017). Häufig unterlagen diese Mechanismen gewisse Vorstellungen von Sexualität sowie Abläufe sexueller Handlungen und waren verknüpft mit Geschlechtsidentität, Geschlechterrollen und sexueller Orientierung.
Wenn die sexualisierte Gewalt von einer Frau ausging, dann durfte sich der junge Mann besonders glücklich schätzen, denn gesellschaftliche Vorstellungen unterstützen die Überzeugung, dass Sex mit einer Frau für den Mann immer als lustvoll zu erleben sei. Dabei sei es insbesondere für jüngere Männer ein Kompliment, wenn ältere Frauen ihnen sexuelle Zuneigung zeigten – die medial verbreitete „Cougar“- oder „Milf“-Fantasie.
Wenn die sexualisierte Gewalt wiederum von einem Mann ausging, wurde die Opferwerdung als besonders beschämend erlebt. Den interviewten Jungen und jungen Männern fiel es schwer, zwischen Opfersein und Homosexuellsein zu unterscheiden: Sie zweifelten an ihrer Heterosexualität. Durch eine homosexuelle Umdeutung war es ihnen möglich, die Gewalterfahrung mit einem aktiven, lustvollen Eigenanteil zu begreifen. Unterstützt wurde diese Umdeutung von der gesellschaftlichen Vorstellung, dass Sex mit einem Mann nur für einen homosexuellen Mann als lustvoll erlebbar sei.
Die beiden oben beschriebenen Mechanismen erlaubten es den Jungen und jungen Männern, ihre Opferrolle scheinbar aufzulösen. Zusätzlich waren die Umdeutungen begleitet von besonders „männlichen“, „heterosexuellen“ und aggressiven Verhaltensweisen, um mit dem Opferwerden klarzukommen und sowohl sich selbst wie auch anderen zu beweisen, dass man ein Mann sei; eine aufgesetzte „Maske der Männlichkeit“ (Hlavka, 2017, S. 488).
Diese inneren Umdeutungen der erlebten sexualisierten Gewalt und die gesellschaftlichen Vorstellungen, dass Männer nie Opfer und sexuell immer aktiv seien, erschwert es Jungen und Männern, ihre Opfererfahrungen dem Umfeld mitzuteilen und die Täter*innen anzuzeigen (Smith, 2012). Das männliche Opfer wird dadurch nicht als legitim anerkannt und bleibt gesellschaftlich unsichtbar obwohl sexualisierte Gewalt an Jungen und Männern nicht ungewöhnlich ist und sie in der Tat „echte“ Opfer sein dürfen (Graham, 2006; Hlavka, 2017).
Wenn Sie selbst betroffen sind, dann können Sie die Nummer des Hilfetelefons „Gewalt an Männern“ anrufen (0800 1239900) oder sich über mögliche Hilfsangebote auf der folgenden Website informieren: https://beauftragte-missbrauch.de/
Literaurverzeichnis
Briere, J., & Elliott, D. M. (2003). Prevalence and psychological sequelae of self-reported childhood physical and sexual abuse in a general population sample of men and women. Child Abuse & Neglect, 27(10), 1205–1222. https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2003.09.008
Dube, S. R., Anda, R. F., Whitfield, C. L., Brown, D. W., Felitti, V. J., Dong, M., & Giles, W. H. (2005). Long-term consequences of childhood sexual abuse by gender of victim. American Journal of Preventive Medicine, 28(5), 430–438. https://doi.org/10.1016/j.amepre.2005.01.015
Graham, R. (2006). Male rape and the careful construction of the male victim. Social & Legal Studies, 15(2), 187–208. https://doi.org/10.1177/0964663906063571
Hlavka, H. R. (2017). Speaking of stigma and the silence of shame. Men and Masculinities, 20(4), 482–505. https://doi.org/10.1177/1097184X16652656
Smith, B. V. (2012). Uncomfortable places, close spaces: Female correctional workers' sexual interactions with men and boys in custody. UCLA Law Review, 59, 1690–1745. http://www.prearesourcecenter.org/sites/default/files/library/uncomforta...
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