Interdisziplinarität lernen: Die Lösung für große Herausforderungen?
Wer in Teams arbeitet, kennt die Herausforderung: Unterschiedliche Blickwinkel prallen aufeinander. Doch was, wenn nicht nur Meinungen, sondern ganze Fachrichtungen verschieden sind? Wie können wir lernen, über Grenzen hinwegzudenken? Und welche Fähigkeiten helfen dabei?
Stell dir vor, du möchtest den Plastikmüll in deiner Gemeinde reduzieren. Überall siehst du Plastikflaschen, Einwegverpackungen und Kaffeebecher, die nach einmaliger Nutzung im Müll landen. Eine Lösung zu finden, ist komplex – und alleine kaum zu schaffen. Dafür braucht es Menschen aus verschiedenen Fachrichtungen, denn jede Perspektive trägt einen wichtigen Teil zur Lösung bei:
- Umweltwissenschaftler*innen und Chemiker*innen wissen, wie schädlich Plastik ist und welche Alternativen es gibt. Doch ohne Expertise aus der Wirtschaft könnten ihre Lösungen zu teuer sein. Und ohne Designer*innen könnten die Alternativen unattraktiv wirken.
- Psycholog*innen verstehen, warum sich Menschen für Plastikprodukte entscheiden und wie man ihr Verhalten beeinflussen kann. Doch ohne Fachleute für Kommunikation bleiben ihre Erkenntnisse ungenutzt.
- Jurist*innen kennen gesetzliche Vorgaben und hilfreiche Regeln. Doch ohne Marketing-Profis würden sich Menschen über Vorschriften ärgern, statt freiwillig nachhaltiger zu handeln.
Ohne Zusammenarbeit bleibt es entweder nur bei guten Ideen oder die Lösungen sind nicht praktikabel. Damit das Projekt gelingt, müssen alle über ihren eigenen Fachbereich hinausdenken und ihr Wissen kombinieren. Und genau das ist interdisziplinäre Kompetenz!
Wie lernt man das?
Aber wie kann man lernen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen? Genau hier setzt das interdisziplinäre problembasierte Lernen, kurz iPBL, an (Braßler & Dettmers, 2017). Die Lernenden arbeiten über mehrere Monate in einer interdisziplinären Gruppe an unterschiedlichen komplexen Problemen (z. B. Plastikmüll in der Gemeinde). Dabei durchlaufen sie verschiedene Schritte:
- Zu Beginn klärt die Gruppe unklare Begriffe, damit alle ein gemeinsames Verständnis entwickeln.
- Danach bringen alle ihr Vorwissen ein und sammeln offene Fragen: Warum nutzen Menschen Plastik? Welche günstigen Alternativen gibt es? Wie könnte man Anreize für nachhaltigen Konsum schaffen?
- Anschließend tauchen die Mitglieder in die individuelle Recherche ein, bringen neue Erkenntnisse zurück in die Gruppe und verknüpfen diese mit dem bisherigen Wissen.
Beim interdisziplinären problembasierten Lernen steht also aktives Lernen im Mittelpunkt: Neues Wissen entsteht, indem verschiedene Blickwinkel auf ein Problem einbezogen und verknüpft werden. Die moderierende Person begleitet den Prozess und regt mit gezielten Fragen zum Nachdenken und Austauschen an.
Was sagt die Forschung dazu?
Eine Studie zeigt: Wer mit anderen Fachrichtungen zusammenarbeitet, lernt über gewohnte Perspektiven hinauszudenken (Braßler & Dettmers, 2017). Untersucht wurde, wie sich verschiedene Lehrmethoden auf die interdisziplinäre Kompetenz von Studierenden auswirken. Dafür wurden 18 Kurse an drei norddeutschen Hochschulen ausgewählt. Eine Bedingung für die Kursauswahl bestand darin, dass die Studierenden das ganze Semester über in einem Team mit Kommiliton*innen aus anderen Fachbereichen – also interdisziplinär – zusammenarbeiten. Insgesamt nahmen 278 Studierende ab dem fünften Semester aus verschiedenen Fachrichtungen teil (z.B. Psychologie, Jura, Informatik). Der Frauenanteil lag bei knapp 56%. Die Teilnehmenden beantworteten jeweils zu Beginn und am Ende des Semesters einen Fragebogen, um ihre interdisziplinären Kompetenzen zu erfassen. Die Forschenden begleiteten die Kurse durch regelmäßige Besuche, Gespräche mit Lehrenden und Studierenden, und prüften so die Einhaltung der Lehrmethoden.
Das zentrale Ergebnis: Im Vergleich zu ihrer Selbsteinschätzung vor Beginn der Zusammenarbeit berichteten die Studierenden nach dem interdisziplinären Problemlösen, dass sie verschiedene Fachperspektiven besser erkennen, durchdenken und miteinander verknüpfen können. Sie gaben außerdem an, nun eher in der Lage zu sein, das eigene Denken zu hinterfragen und flexibel anzupassen. Auch ihr Verständnis dafür, wie andere Fachrichtungen arbeiten, welche Methoden dort genutzt werden und wo ihre Grenzen liegen, habe sich im Vergleich zu vorher deutlich verbessert (Lattuca et al., 2013).
Um es auf den Punkt zu bringen: Interdisziplinäre Kompetenz bedeutet nicht nur, Wissen aus verschiedenen Bereichen zu verbinden. Sie umfasst auch die Fähigkeit, das eigene Denken zu hinterfragen und bei Bedarf anzupassen. Gleichzeitig geht es darum zu verstehen, wie unterschiedliche Fachrichtungen zusammenarbeiten und sich gegenseitig ergänzen.
Das große Ganze
Unsere Gesellschaft steht vor komplexen Herausforderungen – darunter Klimawandel, globale Gesundheitskrisen, internationale Konflikte und rasante Fortschritte in der künstlichen Intelligenz. Um diesen komplexen Problemen wirksam zu begegnen, ist eine fächerübergreifende Zusammenarbeit unerlässlich. Deshalb sollten wir gezielt unsere interdisziplinäre Kompetenz fördern – zum Beispiel durch problembasiertes Lernen. Interdisziplinarität lernen: Eine Lösung für die Herausforderungen unserer Zeit!
Literaturverzeichnis
Braßler, M., & Dettmers, J. (2017). How to enhance interdisciplinary competence – Interdisciplinary Problem-Based Learning versus Interdisciplinary Project-Based Learning. Interdisciplinary Journal of Problem-Based Learning, 11(2). https://doi.org/10.7771/1541-5015.1686
Lattuca, L., Knight, D., & Bergom, I. (2013). Developing a measure of interdisciplinary competence. International Journal of Engineering Education, 29(3), 726–739. http://doi.org/10.18260/1-2--21173
Bildquelle
Maria Isabell Otto (design.miomade@gmail.com)
Konzept: Sabrina Krys
Lizenz: CC BY 4.0
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