Krebskranke Kinder und ihre Eltern nehmen die Krankheit unterschiedlich wahr – Was bedeutet das für die psychosoziale Versorgung?
Wenn man Betroffene fragt, was sie über ihre Krebserkrankung denken, dann erhält man von Person zu Person oft unterschiedliche Antworten. Diese sogenannten „subjektiven Krankheitsannahmen“ hängen zum Beispiel mit der individuellen Krankheitsverarbeitung (z.B. problemorientierter vs. vermeidender Copingstil) und gesundheitsbezogener Lebensqualität zusammen. Subjektive Krankheitsannahmen zu kennen und in der psychosozialen Versorgung zu besprechen, ist daher wichtig für die Unterstützung der Betroffenen während und nach der Krebsbehandlung. Die Forschung zu subjektiven Krankheitsannahmen bezieht sich jedoch bisher überwiegend auf betroffene Erwachsene. Wie ist das bei Kindern und Jugendlichen?
Die Diagnose einer Krebserkrankung ist ein einschneidendes Ereignis für betroffene Kinder und deren Familien, auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten die Behandlungen und Heilungschancen deutlich verbessert haben. Psychische Belastungen (z. B. Ängste, Depressionen, geringe Lebensqualität) sind häufig und können mitunter nicht vollständig durch medizinische Faktoren wie die Diagnose oder die Behandlungsintensität erklärt werden. Denn oft spielen auch psychologische Faktoren wie zum Beispiel subjektive Krankheitsannahmen (Leventhal et al., 1980) eine Rolle: Wenn Menschen mit einer Krebsdiagnose konfrontiert werden, entwickeln sie subjektive Annahmen und Überzeugungen über die Erkrankung. Dazu gehören zum Beispiel die erwartete Dauer der Erkrankung, die erwarteten Konsequenzen auf das Leben, die erwartete Kontrollierbarkeit durch die Betroffenen oder durch die medizinische Behandlung und die Verstehbarkeit der Erkrankung. Subjektive Krankheitsannahmen entstehen u.a. durch Gespräche mit dem medizinischem Fachpersonal und im Austausch mit Angehörigen oder durch die eigenen Erfahrungen mit der Erkrankung. Sie können mehr oder weniger von der tatsächlichen medizinischen Situation und Prognose abweichen oder damit im Einklang stehen.
Die Erfassung solcher subjektiven Krankheitsannahmen erscheint besonders wichtig, da diese laut aktueller Forschung mit dem Wohlbefinden und der individuellen Krankheitsverarbeitung der Betroffenen zusammenhängen (Fischer et. al., 2021). Aus Studien mit Erwachsenen, die an Krebs erkrankt sind, ist bekannt, dass es Unterschiede zwischen deren subjektiven Krankheitsannahmen und denen ihrer Angehörigen (z. B. Ehepartner*innen, Eltern) geben kann. Daher sollten auch bei pädiatrischen Krebserkrankungen grundsätzlich nicht nur das betroffene Kind, sondern auch die Eltern zu ihren subjektiven Krankheitsannahmen befragt werden.
Bisher war die Erfassung subjektiver Krankheitsannahmen bei sehr jungen Kindern schwierig, weil sie nicht wie ältere Kinder und Jugendliche oder Erwachsene mit Fragebögen befragt werden können. Deshalb wurde von der Arbeitsgruppe „Psychosoziale Forschung in der Kinderonkologie: Dresden – Leipzig“ auf Basis eines international anerkannten und etablierten Fragebogens (Moss-Morris et al., 2002) ein spielerisches Puppeninterview für Kinder zwischen 4 und 11 Jahren entwickelt (Schepper et al., 2022), mit dem diese altersgerecht zu subjektiven Krankheitsannahmen befragt werden können.
Durch diesen innovativen diagnostischen Zugang wurde es möglich, Krankheitsannahmen von Kindern unterschiedlicher Altersgruppen mit denen ihrer Eltern systematisch zu vergleichen (Herzog et al., 2022). Ähnlich wie in Studien aus dem Erwachsenenbereich zeigen sich auch hier deutliche Unterschiede zwischen den subjektiven Annahmen betroffener Kinder und denen ihrer Eltern. Zum Beispiel erwarteten Eltern durchschnittlich häufiger negativere Konsequenzen als die Kinder. Das kann daran liegen, dass sie mehr medizinische Informationen über beispielsweise potenzielle Nebenwirkungen und Langzeitfolgen der Erkrankung und Behandlung erhalten als die Kinder. Außerdem berichteten die Kinder signifikant weniger negative Emotionen als ihre Eltern: Möglicherweise werden die Kinder vom Krankenhauspersonal stärker unterstützt und ermuntert, sich abzulenken, als ihre Eltern, die dauerhaft besorgt über das Überleben ihres Kindes sind. Zudem ergibt sich für die Eltern oft eine Doppelbelastung durch die Erkrankung des Kindes und die Notwendigkeit, alltäglichen Verpflichtungen (u .A. auch Sorge um Geschwisterkinder) weiterhin nachzukommen. Schließlich haben jüngere Kinder (4-11 Jahre) und Jugendliche (12-18 Jahre) bzw. Eltern einen unterschiedlichen Zeithorizont im Blick: Während Jugendliche in der Akutversorgung eine kürzere Dauer ihrer Erkrankung annehmen als ihre Eltern, erwarteten jüngere Kinder, dass die Krankheit länger andauern wird. Für jüngere Kinder kann sich demnach ein Krankenhausaufenthalt von wenigen Wochen schon sehr lang anfühlen, während Jugendliche bereits größere Zeiträume überblicken und einordnen können. Interessanterweise zeigte sich kein Unterschied zwischen Kindern und Eltern bezüglich der wahrgenommenen Kontrollierbarkeit der Erkrankung durch das betroffene Kind. Möglicherweise orientieren sich die Kinder in diesem Bereich an den Denkmustern ihrer Eltern und übernehmen diese (z. B. Erkrankung als Schicksalsschlag oder als etwas, was „bekämpft“ werden muss).
Diese Ergebnisse sind von großer Bedeutung für die psychosoziale Versorgung. Insgesamt zeigte sich, dass sich die subjektiven Krankheitsannahmen von Kindern und Eltern unterscheiden und auch gegenseitig beeinflussen können: Einerseits könnten positivere Annahmen der Kinder eine Ressource für die Eltern sein, andererseits ist es auch möglich, dass negativere Annahmen der Eltern das Kind belasten. Deshalb erscheint es wichtig, beide Sichtweisen zu kennen, um subjektive Krankheitsannahmen sowohl individuell als auch in der Kind-Eltern-Dyade besprechen zu können. Dabei sollte die psychische Belastung der Eltern nicht unterschätzt werden. Zudem bestätigte sich die Vermutung, dass der gewählte Zugang durch das Puppeninterview besonders geeignet ist, um wichtige Informationen von jüngeren Patient*innen über deren Erlebenswelt zur Erkrankung und deren Behandlung zu erhalten. Aufbauend auf diesem diagnostischen Zugang wurde in der Arbeitsgruppe weiterführend eine therapeutische Intervention entwickelt: Im dialogischen Spiel mit Puppen berichten Kinder – so unsere Hypothese – nicht nur über ihre Erfahrungen im Zusammenhang mit der Erkrankung und medizinischen Behandlung, sondern können auch gezielt in ihren Bewältigungsbemühungen unterstützt werden.
Anmerkung: Das Projekt wurde von der Stiftung Deutsche Krebshilfe gefördert und an den Universitätskliniken Dresden und Leipzig (Projektleitung: Jun.-Prof. Dr. Julia Martini, Dr. Florian Schepper) in Kooperation mit dem Sonnenstrahl e.V. Dresden, der Elternhilfe Leipzig e.V. und der Medizinischen Universität Wien durchgeführt.
Literaturverzeichnis
Fischer, M. D., Ketelaar, M., Van Der Veere, P. J., Verhoef, M., Wadman, R. I., Visser-Meily, J. M. A., Van Der Pol, W. L. & Schröder, C. D. (2021). Illness perceptions in pediatric spinal muscular atrophy: Agreement between children and their carents, and its association with quality of life. Journal of developmental and physical disabilities, 33(2), 297–310. https://doi.org/10.1007/s10882-020-09749-7
Herzog, K., Schepper, F., Kamm, R., Engelhardt‐Lohrke, C., Kreisch, A., Pletschko, T., Hauer, J., Christiansen, H., Suttorp, M., Kiel, J., & Martini, J. (2022). Illness perceptions in patients and parents in paediatric oncology during acute treatment and follow‐up care. Psycho-Oncology. https://doi.org/10.1002/pon.5883
Leventhal, H., Meyer, D., & Nerenz, D. (1980). The common sense representation of illness danger. Contributions to medical psychology, 2, 7–30.
Moss-Morris, R., Weinman, J., Petrie, K., Horne, R., Cameron, L., & Buick, D. (2002). The revised illness perception questionnaire (IPQ-R). Psychology & Health, 17(1), 1–16. https://doi.org/10.1080/08870440290001494
Schepper, F., Herzog, K., Herrmann, J. & Martini, J. (2022). Das Puppeninterview zur Erfassung subjektiver Krankheitsannahmen krebskranker Kinder. Prävention und Gesundheitsförderung, 18(2), 166–174. https://doi.org/10.1007/s11553-022-00938-0
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