Ohne Hamstern in der Wissenschaft: Offenheit und Transparenz im Krisenmodus und darüber hinaus

Während der gegenwärtigen SARS-CoV-2- Pandemie kann das wissenschaftliche Vorgehen offenbar nicht mit der rasanten Geschwindigkeit mithalten, mit der sich die Krise weiter ausbreitet. Von der Entwicklung einer Forschungsidee bis zur Veröffentlichung der Ergebnisse vergehen normalerweise Jahre. Jetzt aber muss es schneller gehen. Auch deshalb sind nun offene Forschungspraktiken gefragt.

"open" signDie SARS-CoV-2- Pandemie stellt uns vor extreme Herausforderungen. Wie kann man denen helfen, die sich in wochenlanger Isolation befinden? Welcher Impfstoff hilft gegen SARS-CoV-2? Wie wirtschaftet man in diesen Zeiten der Krise? Wenn bisherige Forschung nicht passgenau auf die aktuellen Umstände angewandt werden kann, müssen schnell neue und zugleich valide Erkenntnisse her. Doch wie soll es gehen, dass die sonst langsamen Mühlen der Wissenschaft nun schneller mahlen?

Die veränderten Ansprüche der Krisenzeit geben Anlass zu Änderungen im Vorgehen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Es ist in Zeiten einer Pandemie keine gewinnbringende Strategie, dass dringend gebrauchte wissenschaftliche Daten und Erkenntnisse unzugänglich für andere bleiben wie gehamsterte Toilettenpapierrollen in den heimischen Abstellkammern. Wer auf Hamstern verzichtet, hilft allen, die Krisenzeit zu überstehen. Genauso gilt: Nur wenn Forschungsdaten und -erkenntnisse geteilt und neue Forschungsvorhaben kollaborativ erarbeitet werden, können über Forschungsgruppen hinweg schnell neue Erkenntnisse gewonnen werden.

Dafür allerdings braucht es eine Infrastruktur, mit der Forschungserkenntnisse und -prozesse geteilt werden können. Bereits seit einigen Jahren wandelt sich diesbezüglich der wissenschaftliche Alltag hin zu Transparenz und Offenheit sowie zum freien Verfügbarmachen von Forschungsinhalten (sog. Open Science). Von Infrastruktur und Forschungspraktiken, die sich durch die Open-Science-Bewegung langsam den Weg in den Wissenschaftsalltag bahnen, kann nun auch die Forschung im Krisenmodus profitieren. 

Freier Zugang zu Wissen (Open Science)

Um in hohem Tempo Forschungsergebnisse jenseits traditioneller Publikationswege kommunizieren zu können, veröffentlichen viele Forschende nun ihre Erkenntnisse vorab online auf Dokumentenservern für wissenschaftliche Arbeiten. Dadurch sind auf den größten Sammelstellen solcher Vorabveröffentlichungen der Biologie und Medizin aktuell bereits über 1300 wissenschaftliche Artikel zu Covid-19 und SARS-CoV-2 zu finden. Im Gegensatz zu traditionellen Publikationswegen sind diese Vorabveröffentlichungen dort  sofort für alle frei zugänglich: Forschende und die Öffentlichkeit können sich ungehindert und schnell über aktuelle Entwicklungen informieren. Allerdings hat diese Schnelligkeit einen Preis: Anders als bei Publikationen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften findet bei Vorabveröffentlichungen keine Begutachtung durch Experten statt. Es kann daher sein, dass neben qualitativ hochwertigen und belastbaren Erkenntnissen auch Aussagen vorab veröffentlicht werden, die nicht haltbar sind. Für Laien und Forschende ist es deswegen wichtig, sich nicht voreilig auf diese Erkenntnisse zu verlassen. Um überprüfbar zu machen, ob die Erkenntnisse belastbar sind, werden deswegen neben dem vorab veröffentlichten Text auch die verwendeten Methoden genau dokumentiert und die produzierten Daten veröffentlicht. Transparent veröffentlichte Materialien und Daten ermöglichen es auch, mit eigenen Nachfolgeprojekten gezielt auf Vorabveröffentlichungen aufzubauen. So lassen sich deren Methoden und Materialien im Detail aufgreifen, adaptieren und weiterverwenden. Ähnlich funktioniert die Idee, Anleitungen für selbstgemachte Atemschutzmasken im Internet zu teilen. Dadurch können andere die Idee aufgreifen, selbst umsetzen und verbessern. Das geht umso besser, wenn die Bauanleitung frei verfügbar ist und man nicht versuchen muss, anhand eines einzigen Fotos des fertigen Produkts zu erraten, welche Schritte die Fertigung erfordert. Wäre die Bauanleitung erst zugänglich, nachdem ein Verlag sie veröffentlicht hätte - noch dazu gegen Bezahlung - würde sie sich erheblich langsamer verbreiten. Weniger Menschen könnten eine Maske in Eigenproduktion herstellen.

Nicht nur im Kernbereich der Forschung bieten sich jetzt offene Formate an. Wenn Schulpflichtige zu Hause unterrichtet werden müssen, können Lehrende ihre Lehrkonzepte mit KollegInnen teilen, Arbeitsblätter frei verfügbar machen und zugleich Eltern unterstützen, die solche Materialien weder kaufen noch selbst erstellen könnten. Auch für Hochschulen ist es eine Herausforderung, die Lehre online umzusetzen. Zugleich gibt es auch hier Chancen, erstellte Materialien frei verfügbar zu machen, sodass sie über den Kreis derer hinaus benutzt werden können, die sonst im Hörsaal säßen. Und weiter: Wer im Home-Office am privaten Computer tippt, muss sich zwischen verschiedenen Softwarelösungen entscheiden. Wählt man kommerzielle Produkte oder entscheidet man sich für Open-Source-Software mit freien Lizenzen? Genau solche Entscheidungen treffen auch Forschende. Offene Software ermöglicht auch denjenigen, die sich keine teuren Lizenzen leisten können, die Arbeit anderer nachzuvollziehen und eigene Projekte umzusetzen.

Die aktuelle Krise verdeutlicht, wie wichtig offene und transparente Wissenschaft ist. Sie verdeutlicht auch die Notwendigkeit von Offenheit und Transparenz im normalen Wissenschaftsalltag. Dass es Anlass zur Veränderung im Krisenmodus gibt, lässt auf tiefgreifende und nachhaltige Öffnung hoffen.

 

Quellen

Crüwell, S., van Doorn, J., Etz, A., Makel, M. C., Moshontz, H., Niebaum, J. C., … & Schulte-Mecklenbeck, M. (2018, November 16). 7 Easy Steps to Open Science: An Annotated Reading List. https://doi.org/10.31234/osf.io/cfzyx

Rahal, R.-M., & Havemann, J. (2019). Wissenschaft in der Krise: Ist Open Science der Ausweg? Forum Wissenschaft. https://doi.org/10.31222/osf.io/3hb6g

UNESCO mobilizes 122 countries to promote open science and reinforced cooperation in the face of COVID-19. (2020, 30. März). Abgerufen von https://en.unesco.org/news/unesco-mobilizes-122-countries-promote-open-science-and-reinforced-cooperation-face-covid-19 

COVID-19 SARS-CoV-2 preprints from medRxiv and bioRxiv. (2020). Abgerufen von https://connect.biorxiv.org/relate/content/181

 

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