Psychiatrische Diagnose – und was dann? Ein Blick auf innere Prozesse und gesellschaftliche Stigmatisierung

Stell Dir vor, Du bekommst die Diagnose, dass Du psychisch krank bist. Was passiert dann in Deinem Kopf und in Deiner Gefühlswelt? Bist Du erleichtert? Fühlst Du Dich verstanden und endlich in Deinem Problem bestätigt? Oder fühlst Du Dich vor den Kopf gestoßen? Bist Du verängstigt oder gar besorgt, ganz nach dem Motto: „Was soll‘n die Nachbarn sagen?“. Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf psychiatrische Diagnosen. Dennoch ist die Diagnosestellung notwendig für eine psychotherapeutische Behandlung und ein wichtiger Schritt zur Besserung.

Wenn eine Person psychische Probleme hat, kann sie auf verschiedenen Wegen medizinische und therapeutische Versorgung erhalten. Im deutschen Gesundheitssystem ist der erste Schritt in der Regel der Blick von therapeutisch ausgebildeten Fachkräften auf die geschilderten Probleme, der dann zu einer psychiatrischen Diagnose führen kann. Diese ist im heutigen Gesundheitssystem eine notwendige Voraussetzung für eine psychotherapeutische Behandlung. Dabei ist es wichtig, dass die behandelnden ärztlichen und therapeutischen Fachkräfte die Person gut aufklären, denn es wird unterschiedlich auf eine Diagnose reagiert. Nur so kann sie verstehen, was los ist, und selbst Entscheidungen treffen. Diese Mitbestimmung im Therapieprozess ist wichtig, damit die Betroffenen aktiv an ihrer Behandlung teilnehmen können (Schnell, 2019). Zusätzlich kann diese aktive Teilnahme dabei helfen, die eigenen psychischen Probleme besser zu verstehen. So kann man sich selbst besser kennenlernen und weiterentwickeln. Insgesamt kann das zu mehr Selbstakzeptanz und einem Gefühl der Erleichterung führen.

Die Mitteilung der psychiatrischen Diagnose ist jedoch nicht immer hilfreich für die betroffene Person. Sie kann zu einer „Etikettierung“ führen (Schnell, 2019). Das bedeutet, dass die Person von sich selbst oder von anderen in eine Schublade gesteckt wird – in die der „psychisch Kranken“ oder der „Verrückten“. Die Person könnte sich beispielsweise selbst in diese Schublade stecken und keine Notwendigkeit sehen, sich zu ändern. Sie könnte denken: „Ich bin so, was soll ich tun? Warum soll ich versuchen, anders zu werden?“ (Corrigan et al., 2009). Andererseits kann die Diagnose auch Schamgefühle auslösen. Die Person fühlt sich „schwach“ und „nutzlos“. Dieses Gefühl kann noch verstärkt werden, wenn sie von Nahestehenden wie Familienmitgliedern oder Freund*innen in eine Schublade gesteckt wird und beispielweise so behandelt wird, als sei sie nur eine Last, als bräuchte sie immer Hilfe und Unterstützung.

Aber was hat das eigentlich mit der gesellschaftlichen Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu tun? Dazu ein wenig Theorie: In der Psychologie bedeutet „Stigma-tisierung“, dass Menschen auf eine bestimmte Art und Weise gesehen und behandelt werden. Dabei werden bestimmte Schritte durchlaufen, die auch gleichzeitig ablaufen können (Link & Phelan, 2001). Der erste Schritt ist die „Etikettierung“: Eine Person erhält von anderen eine Beschreibung, z. B. „psychisch krank“. Dieses Etikett ist mit Vorurteilen verbunden, z. B. „Psychisch Kranke sind gefährlich“. Dieser zweite Schritt wird auch als „Stereotypisierung“ bezeichnet. Darüber hinaus kann es zu einer sprachlichen „Unterscheidung“ kommen und die etikettierte Person wird als „anders“ und nicht zur „eigenen Gruppe“ gehörend wahrgenommen. Als letzter Schritt kann es zu einer „Diskriminierung“ kommen und die Person wird anders behandelt, z. B. muss sie nicht wie andere im Haushalt mithelfen.

Wenn eine Person von einer ärztlichen Fachkraft eine psychiatrische Diagnose erhält, wird sie „etikettiert“ und es kann zum ersten Schritt im Prozess der Stigmatisierung kommen. Dies muss nicht zwangsläufig negative Folgen haben. Wie bereits erwähnt, kann die Diagnose auch positive Auswirkungen haben, z. B. Selbstakzeptanz und ein Gefühl der Erleichterung (Schnell, 2019). Sie kann aber auch negative Auswirkungen haben, z. B. auf das Selbstwertgefühl, insbesondere dann, wenn die Betroffenen den gesellschaftlichen Stereotypen zustimmen (Corrigan et al., 2006). Deshalb ist es wichtig, Personen mit psychischen Problemen nicht auf dieses eine „Etikett“ zu reduzieren oder zu „stereotypisieren“ – sie sind viel mehr und ihr Leben ist vielfältiger und umfassender als diese eine Diagnose. Um es in den Worten der Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie auszudrücken, die vor der Gefahr der „einzigen Geschichte“ warnt: „Das Problem mit Stereotypen ist nicht, dass sie unwahr sind, sondern dass sie unvollständig sind. Sie lassen eine Geschichte zur einzigen Geschichte werden“ (Adichie, 2009).

Literaturverzeichnis

Adichie, C. N. (2009). The danger of a single story. TEDGlobal. https://www.ted.com/talks/chimamanda_ngozi_adichie_the_danger_of_a_singl...

Corrigan, P. W., Larson, J. E., & Rüsch, N. (2009). Self-stigma and the "why try" effect: impact on life goals and evidence-based practices. World Psychiatry, 8(2), 75–81. https://doi.org/10.1002/j.2051-5545.2009.tb00218.x

Corrigan, P. W., Watson, A. C., & Barr, L. (2006). The self–stigma of mental illness: implications for self–esteem and self–efficacy. Journal of Social and Clinical Psychology, 25(8), 875–884. https://doi.org/10.1521/jscp.2006.25.8.875

Link, B. G., & Phelan, J. C. (2001). Conceptualizing stigma. Annual Review of Sociology27(1), 363–385. https://doi.org/10.1146/annurev.soc.27.1.363

Schnell, T. (2019). Folgen subjektiver Verarbeitung von psychiatrischen Diagnosen. Psychotherapeutenjournal, 18(1), 11–16.

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